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Ausgabe:

Juni/2021

Spalte:

573–576

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Fried, Johannes

Titel/Untertitel:

Jesus oder Paulus. Der Ursprung des Christentums im Konflikt. Eine historische Spurensuche.

Verlag:

München: C. H. Beck 2021. 200 S. m. 2 Ktn. Geb. EUR 22,00. ISBN 9783406764066.

Rezensent:

Adolf Martin Ritter

Zwei Jahre nach der Aufsehen erregenden Schrift »Kein Tod auf Golgatha. Auf der Suche nach dem überlebenden Jesus« (München 2019) hat ihr Autor J. Fried, (emeritierter) preisgekrönter Mediävist an der Frankfurter Universität, nachgelegt. Im selben Verlag, wie gewohnt sorgfältig lektoriert und in leserfreundlicher Aufmachung, erschien jetzt von ihm ein zweites Buch mit derselben Botschaft und fast demselben schmalen Umfang, nur dass sich F. diesmal auf die Nachzeichnung von »Konsequenzen« aus seinem zuvor erreichten Erkenntnisstand »für die frühe Kirchenentwicklung und generell für die Frühgeschichte des Christentums« beschränkt (21). Sie erfolgt in zwölf (einigermaßen) sinnvoll aufeinander auf bauenden Kapiteln, gefolgt von einem knappen Epilog oder »Schluss«.
Das möge fürs Erste zur Inhaltsangabe genügen. Um des be­schränkten Raumes willen wird sich Weiteres zum Inhalt mit der Kritik verbinden. Zu dieser besteht reichlich Anlass, obwohl die Aussichten, bei dem Autor Gehör zu finden, nicht eben groß sind. Einer, der sich mit ihm über das Vorgängerbuch auszutauschen und dabei auch allerlei Kritisches loszuwerden wünschte, gewann im Gespräch den Eindruck, er hätte genauso gut die Seiten mit Meyer im Berliner Telephonbuch vorlesen können! Mir ging es ähnlich. Eine ausführliche Auseinandersetzung aus meiner »Feder« wird leider erst in diesem Sommer im Druck erscheinen (unter dem Titel »Kein Tod auf Golgatha? Von der [höchst wahrscheinlich] müßigen ›Suche nach dem überlebenden Jesus‹«, in: M. D. Krüger [Hg.], Religion, Fiktion, Wirklichkeit. Philosophische und theologische Beiträge zum Gottesverständnis in der Moderne, Leipzig 2021), ist aber F. auf dessen Wunsch längst zur Kenntnis gebracht worden, bevor er sich anschickte, das Manuskript zum neuen Buch fertigzustellen. Nur für mich erkennbar, weil mein Name nirgends erwähnt ist, reagiert er darin auch auf meine Bedenken, ohne sich allerdings auch nur um einen Millimeter zu bewegen.
Die Kernthese des Vorgängerbuches, von der auch das neue ausgeht, lautete: Jesus hat das Kreuz überlebt, ist aus tiefer Ohnmacht (›CO2-Narkose‹) erwacht, unbemerkt (und nackt) der Grabeshöhle entronnen und als »Gärtner« verkleidet (vgl. Joh 20,5–7.15) den »Seinen« erschienen (ebd., 11 ff.). Ein jüngst publiziertes medizinisches Gutachten zur Neudeutung des »Golgatha«-Geschehens in Anlehnung an den johanneischen Passionsbericht (Kapitel 19) fördert für F. »zweifelsfrei geklärte, objektive Sachverhalte zutage, die unverstellte Einblicke in Jesu Geschick« erlauben (Jesus oder Paulus, 11 f.). Ich hingegen erklärte mich in meiner Kritik davon überzeugt, dass es aus Sicht der modernen Medizin tatsächlich auf Golgatha in der Tat so abgelaufen sein könnte, wie im Gutachten beschrieben. Nur, ob es wirklich so war, entziehe sich m. E. medizinischer Beurteilung; hier sei die Historie, sorgsamste Quellenarbeit gefordert. Die Quellenlage sei gewiss schwierig, aber bei Weitem nicht so hundsmiserabel, dass man sich guten Gewissens, unbegrenzt und ungehindert, aufs Spekulieren (F. spricht lieber von »Spurensuche«) verlegen dürfte. Statt aber plausible Resultate vorzulegen, repliziert er nun ungerührt: »Zur Rettung der traditionellen dogmatischen Po­sition müsste der Tod am Kreuz bewiesen werden.« (7) Frage: Geht es noch absurder?
Im neuen Buch will er wiederum zeigen, dass – diesmal bezüglich der Anfänge des Christentums – alles ganz anders gewesen sein könnte, als man bislang glaubte. Möglich ist alles; da gebe ich ihm vollkommen recht. Es ist nur die Frage, wie wahrscheinlich die Ergebnisse der Recherche zu machen sind. Sachlich soll ferner die Auseinandersetzung sein, das versteht sich, und »auf historischer Grundlage« erfolgen (8 [Hervorhebung von F.]). Diese im Vorwort eingeforderte Gesprächsbasis verlässt er jedoch alsbald selbst, indem er den Theologen und damit auch dem kirchenhistorischen Kollegen die Kompetenz bestreitet, eine unerhörte Anmaßung. Doch selbst schuld, wer sich davon einschüchtern lässt. Die Theologie bewege sich, heißt es zur Begründung, »in einem anderen Referenzrahmen als die Geschichtswissenschaft«, sie folge »neben methodischen Voraussetzungen ihrem Bekenntnis«, »dogmatische(n) Vorgaben« (14). Allein, wo steht geschrieben, dass Interesselosigkeit, mangelndes Vorverständnis zu den unverzichtbaren Vorbedingungen seriöser historischer Arbeit gehöre? Ist Kritik nicht nur da berechtigt und zu akzeptieren, wo das Vorverständnis des Untersuchenden zum Vorurteil wird, welches seine Analyse nachweislich beeinflusst oder gar verfälscht? Aber eben, das muss nachgewiesen und kann nicht einfach behauptet werden.
Wer F.s Buch sorgfältig studiert, könnte im Gegenteil sogar versucht sein, den Spieß einfach umzukehren und ihm einen äußerst selektiven Umgang mit den Quellen vorzuwerfen, doch wohl aus einem quasi-›dogmatischen‹ Vorurteil heraus – oder? Dafür nur drei schlagende Beispiele: Das erste betrifft F.s Behandlung der Berichte über die »Erscheinungen des Auferstandenen« im (als einzig zuverlässig betrachteten) Johannesevangelium. Wären sie im Sinne einer Rückkehr des Gekreuzigten ins Leben zu verstehen, wie F. annimmt, müsste erklärt werden, wieso die Erscheinungen so bald immer spärlicher wurden, bis sie schließlich ganz aufhörten, obwohl von einem Ableben des Wiederbelebten nirgends etwas verlautet. Was aber dann? Hat er sich plötzlich in Luft aufgelöst? Offensichtlich will der Evangelist etwas ganz anderes sagen, als F. ihm entnimmt. Was so »realistisch« klingt, soll wohl lediglich die Gewissheit zum Ausdruck bringen, dass es sich bei den Erschei nungen nicht um Begegnungen mit einem Gespenst handele. Schwer zu verstehen ist ferner, wie F. der (kaum so früh, wie von ihm zumindest für möglich gehalten, zu datierenden) »Lehrschrift der Didache« entnehmen kann, sie bezeuge »nur« ein rituelles Brotbrechen (165 f.); man möge, so mein Rat, lediglich das kurze Kapitel Did 9 ganz lesen: Es ist so deutungsoffen, dass es noch in heutigen Abendmahlsliturgien widerhallt und zugleich zu einer »Sakramentsfeier ›in Israels Gegenwart‹« einlädt! Oder, endlich, was noch unbegreiflicher ist: In dem (gleichfalls aller Wahrscheinlichkeit nach viel zu früh datierten, von ihm ohnehin eher überschätzten) »Thomasevangelium« hat F. (ob mit Absicht, sei dahingestellt) übersehen, dass es trotz fast völligen Fehlens von christologischen Hoheitstiteln gleichwohl eine ›hohe‹ Christologie vertritt (vgl. Log. 12 f.15.17.19.28.37.44.52.61 usw.); nichts von »Keine Offenbarung, sondern Selbsterkenntnis als Erkenntnis des Gottessohnes im eigenen Ich« (so F., 124). Wie auch seine Bemerkungen zum Verhältnis dieses »Evangeliums«, einer (fast) reinen Spruchsammlung, zum Spruchgut der synoptischen Überlieferung nicht erkennen lassen, dass mehr als die Hälfte als Parallelen einzustufen sind (vgl. 123–132, besonders 125 f.; 175–177); mit den ganz und gar »unterschiedliche(n) Evangelien«, wie sie bereits in der Frühzeit »verkündet« wurden (175), kann es also kaum so weit her sein.
Dass dieses (für F. so hoch anzusiedelnde) Evangelium alsbald »in Vergessenheit« geriet, sei ohne eine dahinterstehende »Autorität nicht möglich«, heißt es (171); aber wer diese Autorität besessen und ausgeübt haben soll, fragt er sicherheitshalber erst gar nicht und drückt sich entsprechend auch um eine Antwort. Und damit ist wohl der größte Übelstand angesprochen, der wie im Vorgängerbuch so auch hier zu beklagen ist. Wer die Erkennungsmelodie der »Sesamstraße« im Ohr hat, kommt bei der Lektüre des Buches aus dem Staunen nicht heraus: Auf wie viele – äußerst naheliegende – Fragen nach dem »Wieso? Weshalb? Warum?« ist kaum einmal eine Antwort zu bekommen. Das Fazit der aufgeweckten »Sesamstraßen«-Kinder aber duldet keinen Zweifel: »Wer nicht fragt …«! Ich nenne an (von F. nicht gestellten und folglich auch nicht beantworteten) Fragen: An welchem Maßstab wird eigentlich gemessen, wenn er behauptet, die »Quellenlage zur Ur- und Frühgeschichte des Christentums« sei »bekanntermassen katastrophal« (15)? Wieso muss es ferner heißen: »Jesus oder Paulus« (s. Buchtitel), wenn beiden – zu Recht – eine besondere Nähe zur pharisäischen Richtung des zeitgenössischen Judentums attestiert wird (16 f.)? Warum musste der (auf Golgatha am Kreuz nicht Gestorbene, sondern) »dem Grab Entronnene« zeitlebens »untertauchen« (78.81.98 u. ö.)? Darauf bleibt das Buch genauso wie sein Vorgänger eine plausible Antwort schuldig. Wäre nämlich der Grund, dass Jesus »Israel von den Fremden befreien wollte,« »ein Feind besonders der Römer« (178), so hätte das auch seine engsten Vertrauten das Leben kosten müssen. Weil das nach allem, was wir wissen können, aber nicht geschah, darum kann Pilatus nicht im Ernst von der politischen Gefährlichkeit des angeblichen »Judenkönigs« (s. den Kreuzes titulus) Jesus überzeugt gewesen sein. Auch darauf, dass später Jesusanhänger ständig in Todesangst hätten schweben und unter Verfolgung leiden müssen (102; vgl. 114), findet sich in den Quellen, nicht der geringste Hinweis; man muss es rundweg als un-historisch bezeichnen. Weitere, schwerwiegende Fragen wären: Wenn Jesus das Kreuz wirklich überlebt hätte, wie kann sich dann Paulus nicht einmal zwei Jahrzehnte später auf eine ihm bereits überkommene Tradition berufen, welche besagt, Jesus, der »Christus«, sei, nachdem er verstarb und beigesetzt wurde, (von Gott) »auf-erweckt worden« (1Kor 15,3–5; vgl. 1Thess 4,14), ohne dass ein Einziger unter denen, die es angeblich besser wussten, protestiert hätte: Nein, nein, er lebt, Gott seiʼs gedankt? Selbst das hochgeschätzte Thomasevangelium enthält nicht einmal die leiseste Andeutung in diese Richtung, falls das problematische argumentum e silentio (von F. im Übrigen recht bedenkenlos gebraucht [115.138 f.!]) ausnahmsweise einmal gestattet sein sollte. Fragen über Fragen stellen sich, und entsprechend vermisst man überzeugende Antworten; etwa darauf: Wieso ist eigentlich die Botschaft des Paulus situationsgerechter und darum auch erfolgreicher gewesen als die Jesu und seiner ihm nahestehenden Jünger (109.113 u. ö.), wo doch Paulus selbst die Erfahrung machen musste, seine Kreuzespredigt sei »den Juden ein Ärgernis und den Heiden«, allen Übrigen also, »eine Torheit« (1Kor 1,23)?
Stattdessen lässt F. Seifenblasen aufsteigen, die bereits platzen, bevor man auch nur einen Finger nach ihnen ausstreckt; etwa was das Ziel der Mission des »Nazoräers« betrifft. F. antwortet: die »Erneuerung« des Jerusalemer Tempels und seines Kultes, ja »seine bewusste Ehrung und Würdigung« (137.178). Worin diese jedoch bestehe, bleibt vollkommen nebulös, genauso nebulös wie die Botschaft der beiden Ersthelfer (bei der Grabflucht), Josef und Niko-demus, von der wir gar nichts wissen (138), oder die der Jünger im unversöhnlichen Gegensatz zum Apostel Paulus (109.137 f.143.171 f.177–180), einem Gegensatz, von dem es heißt, er habe sich selbst nach dem Apostelkonvent (vgl. Gal 2,1–10 und Act 15) »von Mal zu Mal« vertieft, »von Gläubigen zu Gläubigen, von dekretierender Autorität zu dekretierender Autorität« (172). Doch wer diese Autorität ausgeübt und wie sie sich durchgesetzt haben soll, das verschweigt des Sängers Höflichkeit.
Kurzum: Zu meinem Leidwesen kann ich nur bekennen, dass ich selten so wenig habe lernen können wie aus diesen beiden literarischen Erzeugnissen eines im Übrigen auch von mir hochgeschätzten Autors.