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Ausgabe:

Juni/2021

Spalte:

569–571

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Ohler, Lukas Valentin

Titel/Untertitel:

Der sich wandelnde Gottesbegriff bei Nikolaus von Kues. Eine werkgenetische Untersuchung.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2019. 296 S. = Freiburger theologische Studien, 191. Geb. EUR 60,00. ISBN 9783451388590.

Rezensent:

Harald Schwaetzer

Titel und Untertitel der anzuzeigenden Arbeit von Lukas Valentin Ohler geben Auskunft über Anliegen und Absicht des Vf.s. Dargestellt werden soll der »sich wandelnde Gottesbegriff«. Methodische Grundlage dazu ist eine »werkgenetische Untersuchung«.
Auf eine kurze Einleitung (11–21), die gleichwohl das gesamte methodische Gewicht und die Rechtfertigung des Ansatzes trägt, folgt eine kurze Zusammenfassung der Biographie des Cusanus (22–34). Sie verfolgt den Zweck, Genese und Gestaltung seines Werks nachvollziehbar zu machen. Einige durchaus nicht unstrittige Positionen werden hier ohne weitere Angaben pauschal als gegeben angesetzt, so etwa, dass Cusanus in Padua die Lebensform der Brüder vom gemeinsamen Leben kennenlernte, sich dort mit Meister Eckhart und dem Corpus Dionysiacum beschäftigte (26 f.) – was er liest und wo und in welchen Übersetzungen, bleibt vollkommen offen. Später kommt, ebenfalls ohne Beleg (35), Proklos noch zu dieser Reihe (wohl gemeint, aber nicht gesagt ist der Straßburger Codicillus). Als Beleg dafür, dass Cusanus den Ruf nach Löwen ablehnt, wird Leinkauf angegeben, eine richtige Angabe, aber für historische Sachverhalte merkwürdig anmutende. Die Hälfte der Biographie entfällt auf die Zeit vor Abfassung von De docta ignorantia, was angesichts des gesetzten Zwecks des Kapitels nicht recht einsichtig ist. Dafür handelt der Vf. auf einer Seite (29) die Stationen vom ersten philosophischen Hauptwerk bis zum Bischofsamt in Brixen und den Idiota-Dialogen ab. Dabei finden die »Opuscula«, deren eine in der Dissertation ausführlich behandelt wird, nicht einmal eine Erwähnung. Nebenbei erfährt man hier (31), dass das »gewaltige Werk« »De beryllo« »leider« in der Arbeit nicht behandelt werde. Warum, lässt der Vf. offen.
Es schließt sich der Hauptteil an, der sich der werkgenetischen Untersuchung widmet. Dabei analysiert der Vf. einzelne, nach seiner Auffassung, die er über wortstatistische Belege abstützt, zentrale Kapitel folgender Werke: De docta ignorantia I, Einzelanalysen zu allen 26 Kapiteln und der Widmung (35–111); De coniecturis, ausgewählte Kapitel aus beiden Büchern (112–157); De deo abscondito (158–165); De visione Dei, Kapitel 1–17 (166–199); De possest (200–228), De non aliud, Kapitel 1 bis 11 (229–256); De apice theoriae, Bemerkungen zum Ganzen und zur Kurzzusammenfassung (257–280). Ein Fazit (281–283) und ein Literaturverzeichnis beschließen die Arbeit.
Dem kundigen Leser springt die ungewöhnliche Auswahl der Schriften ins Auge. Welcher Wandel welchen Gottesbildes soll hier dargestellt werden, wenn die »Opuscula«, die Idiota-Schriften, »De aequalitate«, »De venatione sapientiae« oder »De ludo globi« fehlen? Die zehnseitige Einleitung in die Arbeit muss auch diese Frage be­antworten.
Gegenstand der Untersuchung, so der Vf., sei der »Gottesbegriff«, der die zwei Worte Gott und Begriff enthalte. Bei der Darstellung des Wandels habe man also sowohl den Wandel auf der inhaltlichen Seite wie auch den »Wandel im Begreifen des Begriffs« zu erläutern (11). Alle bislang erprobten hermeneutischen Methoden werden noch auf der Eingangsseite als »unzureichend« (11) abgelehnt. Erklärtes »Ziel« der Arbeit ist es, »die Entwicklung der Gottesgedanken bei Cusanus und die Art der Annäherung an diese Gottesgedanken in logischer, analytischer und systematischer Weise zu beleuchten« (12). Wie es zu dem gewählten Plural »Gottesgedanken« kommt, bleibt der Vf. zu erläutern schuldig. Emphatisch wird betont, dass nur logisch-analytische Wissenschaft verantwortungsvolle Wissenschaft sei (ebd.). Eine Reflexion dieses Standpunktes wird nicht unternommen, nicht einmal in Fußnoten wissenschaftstheoretisch kontextualisiert. Die Ergebnisse will der Vf. »auf beste Weise beibringen«; das geschieht durch »anschauliche, 2D/3D-grafische Beispiele« (ebd.). Warum ein derartiges Vorgehen die beste Weise ist, wird erneut nicht begründet. An diese Bemerkungen schließen sich diejenigen zum Aufbau der Arbeit an. So bleibt zum methodischen Vorgehen nur festzuhalten, dass der ge­samte methodische Ansatz der Arbeit auf 1,5 Seiten in der Einleitung thetisch-emphatisch und weder reflektiert noch diskutiert noch begründet eingeführt wird. Das Vorgehen ist seltsam ungeschützt, naiv und jenseits eines methodischen »state of the art«.
Zum Aufbau der Arbeit wird ausgeführt, dass die ausführliche Analyse des ersten Buches von »De docta ignorantia« einerseits den Zweck verfolge, eine solide Grundlage zu haben, und andererseits deutlich zu machen, dass Cusanus nicht nur der Philosoph der »docta ignorantia« sei (13). Diese Untersuchung liefert die »Hauptmerkmale« an Eigenschaften, Prädikaten oder Begriffen zur Be­handlung der weiteren Entwicklung. Der Zusammenhang von Genese und Geltung, der dabei impliziert ist, wird nicht reflektiert. Die Begründung für die ausgewählten Werke erfolgt »aufgrund ihrer Relevanz für die Darstellung des Wandels des Gottesbegriffes in der Theologie des Cusanus gezielt ausgewählten relevanten Hauptwerke« (13). Zugegeben wird freilich, dass die Werke »nur behandelnde Bruchteile« (sic) darstellen. Die Beschränkung wird gerechtfertigt damit, dass eine ausführliche Betrachtung weiterer Werke den Rahmen einer Dissertation sprengen würde (13). – Auch hier ist nichts begründet. Gerade von einer Arbeit, die das hohe Lied der Logik singt, ist hier anderes zu erwarten. Warum also nun diese Werke? Was heißt Relevanz? Welche Begriffe etc. sind es, die Relevanz festlegen?
Der Vf. sieht den Gewinn seiner Vorgehensweise in Vollständigkeit, Verständlichkeit und textlicher Nähe (13 f.). Es folgen eine Kurzcharakteristik der einzelnen Werke und ein allgemeiner Ab­schluss über den praktischen Nutzen eines solchen Vorgehens.
Der Vf. verliert bemerkenswerterweise kein einziges Wort über seinen Gegenstand. Im Rahmen eines logischen Vorgehens wäre eine Definition desselben zu erwarten. Wir erfahren aber weder, welcher Begriff von Gott, noch was mit Entwicklung gemeint ist. Hinweise auf eine Unterscheidung von Gott als Einem, als dem trinitarischen, als einer der Personen, als inkarniertem Logos, als Beschreibung durch Ternare etc. sucht man vergeblich in der methodischen Anlage. Von Flasch werden drei Bücher angeführt, aber gerade sein »Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung« fehlt. Andere systematische Beiträge zum Entwicklungsbegriff ebenso.
Entsprechend wird mit dem Fokus auf die logische Analyse der Deutungshintergrund und die Herkunft der cusanischen Ideen nicht bedacht. Das festgestellte Vierer-Schema in »De coniecturis« (etwa 135 f.) ist seiner Herkunft nach ein pythagoreisches, Cusanus rezipiert es auch von dort entsprechend dem Renaissance-Pytha-goreismus des frühen 15. Jh.s, wie von verschiedenen Autorinnen und Autoren dargestellt. Solche Überlegungen werden wenig in Be­tracht gezogen, und es wird auch nicht thematisiert, dass der Logik-Begriff, an den Cusanus hier (und nicht nur in diesem Fall) anknüpft, nicht in dem Logik-Begriff aufgeht, den der Vf. anlegt.
Seit 20 Jahren gibt es die sogenannten »Jungcusaner« mit ihren publizierten Tagungen – ein Forum, das der Vf. nicht genutzt hat. Der letzte Band gibt das Symposion in Hildesheim von 2018 wieder: »Das Aussprechen des Unausprechlichen« (Regensburg 2020). Da hätte der Vf. einiges Relevante zu seinen Fragen gefunden. Internationale Literatur fehlt vollständig. Im Übrigen kann ich nur zustimmend auf die Kritik von Walter Andreas Euler (in dessen Rezension in der »Theologischen Revue«, 116. Jahrgang, August 2020; www. uni-muenster.de/Ejournals/index.php/thrv/article/view/2878/2805) verweisen.