Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2021

Spalte:

551–553

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Becker, Matthias

Titel/Untertitel:

Lukas und Dion von Prusa. Das lukanische Doppelwerk im Kontext paganer Bildungsdiskurse.

Verlag:

Paderborn: Ferdinand Schöningh 2020. XVIII, 763 S. = Studies in Cultural Contexts of the Bible, 3. Geb. EUR 129,00. ISBN 9783506703361.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Die kulturelle Identität des vierten Evangelisten gehört zu den meistdiskutierten Themen der Lukasforschung. Sie hat ihr besonderes Profil in einer Art »Doppelkodierung« (so R. Feldmeier), die biblische und pagane Überlieferungen überblendet. Lukas steht damit in der Tradition hellenistisch-jüdischer Theologie, die den Boden für solche Transferprozesse längst schon bereitet hat. In dem Raum zwischen biblischen und paganen Motivkomplexen bringt er nun auch die frohe Botschaft von Jesus Christus zur Sprache und erschließt sie damit für ein Publikum, das (so wie er) vor allem in der Bildungswelt des römischen Imperiums beheimatet ist.
Mit großer Belesenheit unternimmt die Arbeit Matthias Beckers (eine Göttinger Habilitationsschrift von 2019) deshalb eine Vermessung jener Bildungslandschaft, die Lukas vor den Augen seines Lesepublikums entwirft. Die Ausgangsfrage lautet: »Hat Lukas sein Doppelwerk literarisch und thematisch so gestaltet, dass die christliche Botschaft in besonderem Maße für ein urbanes christliches Publikum mit paganem Bildungshintergrund verständlich und plausibel wird?« (632) Zu ihrer Beantwortung wird vor allem Dion von Prusa (ca. 40–120, auch Dion Chrysostomos oder Dion Cocceianus) ins Gespräch gezogen – aus gutem Grund. Denn Dion, ein vielseitiger Vertreter der sogenannten Zweiten Sophistik und Zeitgenosse des Lukas, zeichnet sich durch ein umfangreiches Werk aus, in dem sich auf repräsentative Weise widerspiegelt, was um die Wende zum 2. Jh. an Bildungsdiskursen vorausgesetzt werden kann. Ein solcher Vergleich zwischen Lukas und Dion erfolgt hier zum ersten Mal in monographischer Breite.
In der Einleitung (I) wird zunächst die bisherige Forschung zur Stellung des Lukas im Kontext griechisch-römischer Bildung sortiert und vorgestellt. Über sein vergleichsweise hohes Bildungsniveau besteht weitgehend Konsens; für seinen Versuch einer Inkulturation des Evangeliums in die Welt des römischen Imperiums sind im Laufe der Zeit schon zahlreiche Indizien namhaft gemacht worden. Dennoch bleibt die Frage bestehen: Grenzt sich Lukas damit eher gegen pagane Einflüsse ab, oder ordnet er sich ihnen eher zu? Hier positioniert sich B. eindeutig zugunsten einer engen Verflechtung frühchristlicher und paganer Diskurskulturen: Christen diskutieren vielfach dieselben Themen wie ihre nicht-christlichen Zeitgenossen; Teile des frühen Christentums sind »definitiv als eine Bildungsreligion bzw. als Gebildetenreligion anzusehen« (24). Dabei geht es jedoch nicht etwa um den Nachweis literarischer Beziehungen, sondern primär um die Lektüre des lu­kanischen Doppelwerkes im Spiegel jener zeitgenössischen Diskurse über Themen, wie man sie auch bei Dion findet. Methodisch bedient sich die Arbeit, die nach »diskursiven Schnittmengen« bzw. »Strukturanalogien« sucht, der vergleichenden Begriffs- und Motivanalyse. Thematisch erfolgt der Zugang über 42 ausgewählte Bildungsthemen aus den Bereichen Rhetorik, Ethik und Theologie, deren Analyse in den Kapiteln II, III und IV das Herzstück des Ganzen bildet. Text-, Autoren und Rezipientenorientierung sind eng miteinander kombiniert. Die Ausgangsfrage wird deshalb auch noch einmal mit Blick auf das »sehr konkrete Konstrukt historischer Leser« rezeptionsästhetisch zugespitzt: »Was können gebildete Heidenchristen […] aus dem Doppelwerk heraushören und bildungsthematisch für ihr Verständnis der christlichen Botschaft assoziieren?« (55)
Zum Bereich der Rhetorik (II) gehören zunächst die Verweise auf einen vorausgesetzten Bildungskanon. Lukas, für dessen Paulus etwa der Herkunftsort Tarsus rhetorische Schulung signalisiert, weiß damit zu spielen – wie die berühmten Zitate oder Anspielungen auf Aratos, Euripides, Epimenides, Thukydides oder Äsop zeigen. Die charis der Worte Jesu erscheint als Kennzeichen rhetorischer Kompetenz, ebenso wie verschiedene sprachliche Stilisierungen, die auch bei den zeitgenössischen Rednern im römischen Reich zu finden sind. Seinem Paulus vermag Lukas rhetorische Überzeugungskraft aufzuprägen, indem er dessen Reden stilistisch geschickt auf das jeweilige Publikum abstimmt. Die vielfach belegte Offenheit der Rede (parrhesia) versteht Lukas hingegen als Ausweis pneumatischer Begabung. Zudem geht er davon aus, dass die Reden Jesu wie auch des Paulus »nützlich« seien – was man ansonsten von den Reden der Philosophen erwartet.
Breiten Raum nehmen Themen der Ethik (III) ein. Das »Hören und Tun des Wortes Gottes« konnte problemlos im Lichte der Forderung nach einer gelebten Philosophie wahrgenommen werden. Über diesen fundamentalen Bezug hinaus ist es gerade Lukas, der immer wieder zahlreiche Motive hellenistischer Ethik begriffs-genau und beziehungsreich einspielt – wie »das gute und edle Herz«, die Kritik am Reichtum und das Lob der Genügsamkeit, das Themenfeld von Ehe, Familie und Sexualität, Tugenden wie Selbstbeherrschung, Demut, Enthaltsamkeit oder Dankbarkeit, den Gastmahl-Leben-Vergleich, das Verhalten gegenüber den Göttern sowie den Gedanken der Mimesis Gottes. Auch wenn der dritte Evangelist dabei aus den Schriften Israels lebt, erweisen sich seine Protagonisten für die ethischen Diskurse ihrer philosophischen Umwelt stets als anschlussfähig. Einen eigenen Akzent setzt er dort, wo es um den Einsatz materieller Güter zugunsten der Be­dürftigen geht und die Ethik des Teilens im Bedarfsfall einen neuen Beitrag zum Thema leistet. Ansonsten befindet er sich jedoch weithin im Ein klang mit dem, was auch die Ethik der frühen Kaiserzeit diskutierte.
Am umfangreichsten lassen sich Konvergenzen im Bereich der Theologie (IV) belegen. Sie betreffen z. B. Themen wie Gottesfurcht und Frömmigkeit oder die Beziehung zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen in seinen vielfältigen Formen wechsel-seitiger Zuwendung. Erwartungsgemäß beweist das lukanische Profil dabei größere Eigenständigkeit: Wohl weiß z. B. auch der Evangelist mit dem Begriff der eusebeia umzugehen, favorisiert indessen den im paganen Bereich zur Beschreibung der Gottesbeziehung weniger geläufigen Begriff der pistis; ähnlich zögerlich geht er mit der Vorstellung von der göttlichen pronoia um und grenzt sich von sakraler Kunst und Ästhetik ab. Zahlreiche Brücken baut Lukas hingegen mit der Rede vom »höchsten Gott«, der Güte, Liebe, Gunst, Gnade oder dem Friedenswillen Gottes sowie mit den Themen Heilung oder Rettung. Besonders in Letzterem scheint der weite Horizont des rettenden Eingreifens der Götter in das menschliche Leben auf. Die Vaterschaft Gottes hat bei Dion und Lukas gleichermaßen grundlegende Bedeutung, wobei die Züge väterlicher Sanftmut und Barmherzigkeit den Ton tragen. Auffällig sind auch die Berührungen hinsichtlich der Vorstellung, dass Gott und Mensch miteinander verwandt seien und Gottes Fürsorge das menschliche Leben lenke. Ebenso relevant erweist sich das Vergleichsmaterial hinsichtlich göttlicher Sendungen, wie sie sich namentlich im Erscheinungsbild der Gesandten niederschlagen. Weitere Einzelzüge kommen hinzu: die Götter vermögen die menschlichen Verhältnisse umzukehren; Gott bleibt bedürfnislos; sein Pneuma wirkt gestaltend, zeugend und inspirierend; der Mittag erscheint als sakrale Zeit besonderer göttlichen Aktivität; die Weisheit ist göttlichen Ursprungs und wirkt unabhängig von klassischer Bildung. Was hier entfaltet wird, zeigt: Lukas nimmt nicht nur an den theologischen Diskursen seiner Zeit teil, sondern vermag sich dabei auch auf kompetente, verständliche und profilierte Weise einzubringen.
Ein kurzes Fazit (V) schließt die Arbeit ab. Ob Lukas nun eher als Diasporajude oder als Heidenchrist zu verstehen ist, hängt von der Gewichtung ab, die man seinem jüdischen Erbe zumisst. Davon bleibt jedoch die Frage nach der Souveränität, mit der er sich in der hellenistischen Bildungswelt bewegt, unberührt. Das hat die vorliegende Untersuchung eindrucksvoll nachgewiesen. Ihr großes Verdienst besteht darin, über punktuelle Beobachtungen hinaus ein auf breiter Materialbasis beruhendes, methodisch abgesichertes Urteil vorzulegen: Lukas weiß genau, für welche Welt er sein Evangelium erzählt. Darin liegt wohl auch das Erfolgsgeheimnis seines Doppelwerkes. Die seit jeher beobachtete lukanische »Unbestimmtheit« stellt sich hier noch einmal neu als »Vorliebe für Am­biguitäten, deutungsoffene Begrifflichkeiten, semantische Doppelbödigkeiten und doppeldeutige Motive« dar, die einen »integrativen Akzent« setzt (633). »Pagane Bildung steht […] ebenso wenig in einem Spannungsverhältnis zum Christentum wie es für Lukas ein Problem darstellt, Paulus im Zeichen der Dioskuren [Act 28,11] nach Rom segeln zu lassen.« (635)
Von den 763 Seiten ist keine zu viel. Besonders die umfangreiche Aufarbeitung jener 43 Bildungsthemen im Hauptteil stellt einen Fundus an Beobachtungen dar, den man künftig nicht mehr entbehren möchte.