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Ausgabe:

Mai/2021

Spalte:

466–468

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Blaszcyk, Sabine

Titel/Untertitel:

»Also kommt nicht mehr der Weihnachtsmann, sondern es kommt das Christkind«. Ethnografische Fallstudie zur religiösen Elementarbildung in mehrheitlich konfessionslosem Kontext.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2020. 695 S. = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 78. Geb. EUR 74,00. ISBN 9783374062171.

Rezensent:

Manfred Riegger

Erstellt wurde die Dissertation von Sabine Blaszcyk, Pfarrerin, seit 2016 Dozentin am Pädagogisch-Theologischen Institut der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland und Anhalt, von 2012–2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle für religiöse Lern- und Kommunikationsprozesse an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, unter der Leitung von Michael Domsgen. Die institutionelle frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung erfährt in Deutschland seit etwa 25 Jahren einen enormen Wandel, der durch den bundesweiten Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz für Kinder ab drei Jahren ausgelöst wurde. Mit der quantitativen Ausweitung soll die Qualität aber Schritt halten. Innerhalb dieses allgemeinen und für Sachsen-Anhalt spezifizierbaren Kontextes erhält die Untersuchung ihre besondere Bedeutung, indem die frühkindliche religiöse Elementarbildung in der Kita »Waldkinder« in den Blick genommen wird. Die Einrichtung liegt in einem kleinen Dorf, wechselte im Jahr 2010 von einem kommunalen zu einem evangelischen Träger und umfasste im Untersuchungsjahr 2014 102 Kinder und zwölf Erzieherinnen in Krippe, Kindergarten und Hort.
Die Untersuchung gliedert sich in vier große Teile. In Kapitel A (18–84) werden zunächst skizziert: der maßgebliche Kontext des Forschungsgegenstandes (mehrheitliche Konfessionslosigkeit, Kin­dertageseinrichtungen im Horizont des humanökologischen Mo­dells und das institutionelle Verständnis evangelischer Bildungsverantwortung im Elementarbereich) und der Forschungsstand (vor allem im Blick auf empirische Erforschung im Elementarbereich im Allgemeinen und der religiösen Elementarbildung im Besonderen). Die Forschung zielt vor allem »auf die Rekonstruk-tion der praktischen Herstellung eines religionspädagogischen Alltags durch die Professionellen und die Kinder im mehrheitlich konfessionslosen Kontext« (81) und fragt, »mit welchen Herausforderungen und Schwierigkeiten die praktischen Alltagsinszenierungen für die Professionellen eigentlich verbunden sind« (ebd.). In Kapitel B (86–170) wird das Forschungsdesign mit seinen praxeologischen (vor allem P. Bourdieu und B. Latour) und ethnografischen Bezügen begründet und erläutert. Es umfasst zwei primäre Datenerhebungsmethoden, nämlich Teilnehmende Beobachtung von Juni 2013 bis Mai 2014 und 24 Leitfadeninterviews gegen Ende des Zeitraums (elf mit Eltern bzw. Elternteilen, zwei mit Einschulkindern und noch mit Bürgermeister, Trägerpfarrer und pädagogischen Fachkräften, Leitfäden: 678–685), ergänzt mit Dateneinsichtnahmen. Die Datenanalyse der ethnografischen Protokolle erfolgt mittels Grounded Theory (Kodierparadigma: 688) und Qualitativer Inhaltsanalyse (vgl. 689–695), der Dokumente mittels Konversationsanalyse. Im umfangreichsten Kapitel C (172– 617) werden die Forschungsergebnisse systematisch dargestellt und in Kapitel D (620–660) religionspädagogisch perspektiviert.
Das praxeologische Design der Studie erlaubt es, die reale Komplexität religiöser Bildungsprozesse nachzuzeichnen, und die am Systemischen orientierte Darstellung (vor allem in Bezug auf die vier Ebenen: KiTa als Teil der Gesellschaft, als Teil des sozial-räumlichen Feldes, als Sozialisationsumwelt der Heranwachsenden und als Transaktions- und Handlungsfeld der Kinder) ermöglicht eine gute Nachvollziehbarkeit möglicher Wirkmechanismen auch zwischen den Ebenen. Leider ist die Wiedergabe so komplexer Ergebniszusammenhänge in einer Rezension – im Unterschied zu knappen Zahlen – nur begrenzt möglich.
Ein wichtiges Ergebnis sei hervorgehoben: Es zeigt sich eine hohe Akzeptanz des Wechsels vom kommunalen zum evangelischen Träger, sowohl bei den – durch den neuen Träger – übernommenen konfessionslosen Fachkräften wie bei der konfessionslosen Mehrheit der Eltern und Kinder. Gründe sind u. a. die gute profane Betreuungsqualität und die positive Orientierung am Gemeinwesen. Eine protestantische Profilierung – meist in Ab-sprache mit den Beteiligten – erfolgte vor allem durch Zusatzange-bote mit unterschiedlicher Beteiligungsquote (Prozentangaben in Klammern): religionspädagogische Morgenkreise (1 x pro Woche für 30 Minuten: 19–35 %), monatlicher Kindergottesdienst während der Öffnungszeit (18–37 %), das Singen christlicher Lieder (40 %), das Feiern christlich apostrophierter Feste (St. Martin statt Halloween, Adventsmarkt mit Krippenspiel, Osterfest: ca. 90 %). Auf diese Neuerungen reagieren Beteiligte unterschiedlich. Werden z. B. Veränderungen durch den Träger vorgegeben (z. B. Einführung christlicher Feste), kommt es zuweilen zu subversivem Verhalten (z. B. wird der Laternenumzug durch konfessionslose Eltern mittels vorzeitiger Würstchenausgabe unterminiert). Die Beschränkung der christlichen Bildungsarbeit auf ein abwählbares Angebot und 30 Minuten pro Woche geht einher mit einer Verengung auf kogni-tive Lerninhalte (z. B. Hoffnung der religionspädagogischen Fachkraft, dass einige Schlüsselbegriffe hängen bleiben, obwohl die Kinder mit »Störungen« und »Langeweile« reagieren). Die fehlende inhaltliche Begleitung der konfessionslosen Eltern korrespondiert mit fehlender Kompetenz, auf Kinderfragen adäquat antworten zu können (z. B. »Warum, Mama, kommt jetzt der Weihnachtsmann nicht mehr?« Der »schafft es nicht zu allen Kindern«, zu uns nach Hause »schafft er es wieder«). Auch wenn die »Wechselwirkungen von christlichen Bildungsangeboten (die durch die Kita initiiert werden) und familiären Prozessen« (607) sichtbar werden, scheint sich eine Religionspädagogik im mehrheitlich konfessionslosen Kontext sich neu profilieren zu müssen: Sensibel wahrzunehmen ist die Sorge der konfessionslosen Eltern vor ideologischer Überwältigung. Auf beiden Seiten vorhandene klare Grenzziehungen scheinen thematisiert werden zu müssen, ggf. in offeneren Überschneidungssituationen (christliche Ursprünge von Halloween). Ist eine christliche Profilierung in Form expliziter Verwendung religiöser Kategorien (z. B. nachweisbare Spuren in Liedern und Wissenszuwächsen zu kirchlichen Festen, U. Hemel) im mehrheitlich konfessionslosen Kontext ausreichend oder müsste das Religiositätsverständnis in Richtung Vorsprachlichkeit erweitert und emotional vertieft werden?
Abschließend benenne ich weitere Einzelaspekte:
Die hohe Qualität des ethnografischen Vorgehens spiegelt si­cher die Schwerpunktsetzung der Universität Halle wider (Ethnografiewerkstatt des Zentrums für Schul- und Bildungsforschung).
Innerhalb der Religionspädagogik sind im Elementarbereich jüngst weitgehend parallel Arbeiten entstanden, die zueinander hätten in Beziehung gebracht werden können. Ein gesunder Wettbewerb könnte nicht nur die Forschung intensivieren, sondern würde die Glaubwürdigkeit qualitativ zustande gekommener Er­gebnisse erhöhen.
Auf dieser ethnografischen Basis könnte das Verhältnis von Disziplin und Profession innerhalb der Religionspädagogik neu in den Blick genommen werden, damit Professionalisierungsprozesse an­gestoßen und begleitet werden können.
Zu wünschen ist dieser Arbeit, dass sie sowohl in der Forschung als auch in der Erzieherinnenausbildung Eingang finden wird und zur Etablierung einer religiös-weltanschaulichen Dimension, die wesentlich auf Sinnfragen abhebt, im Handlungsfeld Bildung des »Gute-KiTa-Gesetzes« von 2019 beiträgt.