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Ausgabe:

Mai/2021

Spalte:

464–466

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Weiß, Andreas G.

Titel/Untertitel:

Der politische Raum der Theologie. Entwurf einer inkarnations-theologischen Ereignistheologie als Antwort auf Radical Orthodoxy.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2019. 481 S. Geb. EUR 65,00. ISBN 9783402134252.

Rezensent:

Rebekka A. Klein

Die 460 Seiten umfassende Studie zu Einfluss und Bedeutsamkeit der Theologie im politischen Raum von Andreas G. Weiß stellt die Dissertationsschrift des römisch-katholischen Theologen dar, welche er unter Betreuung seines Doktorvaters Gregor Maria Hoff an der Universität Salzburg im Fach Fundamentaltheologie und Dogmatik verfasst hat. W. wurde ebendort 2018 promoviert. Seither hat er bereits mit einer weiteren Studie auf sich aufmerksam gemacht, welche das Verhältnis des Autokraten Donald Trump zur amerikanischen Zivilreligion ausleuchtet. In seiner Dissertationsschrift geht W. grundlegender und kulturgeschichtlich umfassender vor.
So legt er die politische Kultur der vom Christentum geprägten Moderne des Westens und die für sie konstitutive Verknüpfung von religiösen und säkularen Zeichenordnungen am Leitfaden einer Topik weltgeschichtlich bedeutsamer Ereignis-Orte aus. Zu diesen zählen der Gang Heinrichs IV. nach Canossa 1077, aber auch Martin Luther King’s »I have a dream«-Speech am 28. August 1963 in Washington D. C. Diese Orte versteht W. als Konkretisierungsformen der Theologie im politischen Raum mit einer ereignishaften Relevanz. Sie seien nicht bloß geographische oder historische Koordinaten, sondern kulturelle Topoi der Generierung von Autorität, Identität und Macht. An ihnen seien Bedeutungssysteme weltlicher und sakraler Macht prominent und auf spezifische Weise miteinander verknüpft, so dass sie stilbildend für eine ganze Weltsicht werden und Aufbrüche und Veränderungen ermöglichen. Sakralpolitische Orte dieser Art weisen über ein raum-zeitlich fixierbares Geschehen hinaus und setzen eine Dynamik der wechselseitigen Interaktion und Beeinflussung von an ihnen verdichteten Bedeutungssystemen durch die Zeit hindurch frei. Sie sind nach W. theologisch »geladen« und entfalten erst darin ihre sinnstiftende Wirksamkeit: »Diese Orte erhalten erst durch die Präsenz religiöser Logik und damit verbundener Geltungsbezüge ihre Aussagekraft« (75).
An den beschriebenen Ereignis-Orten vollzieht sich für W. demnach eine Wirksamkeit von Theologie, die Orte in Raum und Zeit zu Anders-Orten werden und sie in Beziehung zu einem Nicht-Bestimmbaren treten lässt. Ereignis-Orte stehen für eine politisch relevante Theologie, und zwar nicht, weil Theologie an ihnen von außen kommend am Ort der säkularen politischen Ordnung Relevanz beansprucht, sondern weil sie dort Präsenz entfaltet, wo diese Ordnung gleichsam von selbst an ihre Grenzen stößt und auf (Selbst-)Überschreitung verwiesen ist.
Auf der Linie dieses Argumentes wirft W. in seiner Studie immer wieder die eminent theologiekritische Frage auf, wie auf anspruchsvolle und komplexe Weise von der Präsenz der Theologie in der säkularen politischen Kultur des Westens gesprochen werden kann. Er übt vor allem Kritik an den auf öffentliche Relevanz zielenden, selbstgewissen Theologien: »Sobald sich die Theologie in die Lage versetzt, den unbestimmbaren Gott in ihren Zeichen, Modellen und Sprachen festlegen zu können, schließt sie die definitorisch nicht besetzbare Leerstelle des göttlichen Geheimnisses und droht zu einem Machtdiskurs zu mutieren, der machtpolitisch instrumentalisiert werden kann.« (81)
Entgegen selbstgewissen Macht- und Relevanzansprüchen zeichnet W. demnach ein Bild von christlicher Theologie (und Kirche), die ihre politische Präsenz in Wahrheit nicht selbst zu generieren und zu kontrollieren vermag. Sie sei deshalb aber keineswegs politisch irrelevant oder gar als bedeutungslos anzusehen. Im Gegenteil, Theologie werde gerade dort wahrhaft politisch wirksam, wo sie in einer für sie selbst überraschenden, nicht vorab planbaren Weise in den politischen Raum hineingezogen werde und in ihm an besagten Ereignis-Orten in Gestalt einer verstörenden und öffnenden Dynamik zugleich wirke. Entsprechend scharf grenzt sich W. daher von Theologien ab, welche versuchen, politische Orte/Topoi machtvoll theologisch zu vereinnahmen. Ein »Stein des Anstoßes« in dieser Hinsicht ist in erster Linie die »Radical Orthodoxy«, für deren Kritik W. fast 200 Seiten seiner Studie opfert. Gegenüber ihr votiert er für ein theologisches Sprechen, das politische Orte nicht einfach theologisch überschreibt, sondern sich von einer genaueren Beschreibung ihrer sakralpolitischen Dynamik leiten und in diesem Sinne vom Geschehen im politischen Raum selbst ergreifen und konfrontieren lässt. Anstelle eines Machtdiskurses gehe es darum, die Konfrontation von religiösen und säkularen Ordnungen zuzulassen und nicht deren bruchlose Übersetzbarkeit oder Ineinander-Überführbarkeit zu behaupten. Denn in der Konfrontation entstehe eine Leerstelle, die von keiner Seite aus einholbar ist, da sie zum Ersten relativierend und zum Zweiten potenziell kreativ und öffnend wirke.
Was dies theologisch weiterführend bedeuten kann, entfaltet W. im letzten, fundamentaltheologischen Teil seiner Arbeit. Ebenso wie die säkulare Logik erfahre die Theologie am Ort der sakral-politischen Ereignis-Orte eine Relativierung ihrer eigenen Macht- und Geltungsansprüche. Nicht sie selbst, sondern die Ereignis-Orte bringen ihre öffentliche und politische Relevanz hervor. Sie sei also gleichsam »heterotopisch«, am Ort des Anderen, in der Welt sichtbar und relevant. Als hermeneutischen Schlüssel zu dieser heterotopischen Existenz legt W. nun das altkirchliche Chalcedonense mit seiner Zweinaturenlehre neu aus und deutet es als eine Logik der Inkommensurabilität, die auf die »Unmöglichkeit einer definitorischen Festlegung« (412 f.) Gottes im Ereignis seiner Menschwerdung verweist. Das singuläre und durch menschliches Reden und Handeln nicht einholbare Ereignis der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus sei Paradigma eines Ereignis-Ortes par excellence. Mit Karl Rahner deutet W. Inkarnation somit nicht als Modus einer machtvollen Durchsetzung Gottes in der Welt, sondern als Gottes Mitteilung im Modus des Geheimnisses. Gott habe sich am Ort von Jesu Christi Ohnmacht als eine kreative Leerstelle zwischen den Ordnungen der Welt ins Spiel gebracht. Dies nötige Theologie (und Kirche), aus der »Vollmacht in der Ohnmacht Christi« (419) heraus in der Welt zu sein – nicht durch Selbstgewissheit, sondern durch eine am Anderen orientierte, ihm hingegebene und mit ihm mitleidende Existenz.
Eine solche, von W. skizzierte Auffassung der Inkarnation, die Gottes Aktivität in einer unbestimmbaren Leerstelle, in einem diskursiven »Außerhalb« geschichtstranszendent verortet, wäre freilich – so muss hier über die Studie hinaus formuliert werden – dem von Saskia Wendel prominent erhobenen Einwand ausgesetzt, In­begriff einer »Inkarnation ohne Inkorporation«, also eines verdeckt geführten theologischen Machtdiskurses zu sein. Verkürzt sie nicht die Metapher der Fleischwerdung des Wortes mentalistisch und entzieht damit die sich auf Gott berufende Theologie und Kirche den Bedingungen des sozial und diskursiv Verhandelbaren? Die Gretchenfrage für die Studie von W. wäre somit, ob Theologie und Kirche sich auf die Ereignisse im politischen Raum vertrauensvoll einlassen können, wie er behauptet, weil ihre Solidarität mit den Menschen auf einer mentalen Transzendierungsleistung beruht oder weil diese Solidarität gerade auf eine solche imaginäre ›Hintertür‹ verzichtet und sich der Tragik menschlicher, verkörperter Existenz, nämlich unhintergehbar verletzlich zu sein, auch am Ort ihres eigenen Seins wirklich stellt.
Trotz seiner Kritik an einer machtpolitischen Geste der theologischen Ergreifung von Relevanz und Bedeutsamkeit im politischen Raum hält W. selbst durchgehend an der Figur einer politischen Präsenz der Theologie fest, legt diese aber nicht repräsentations-, sondern ereignisontologisch aus. Er votiert damit gleichsam für einen Spurwechsel, aber keinesfalls für eine ganz andere Theologie des Politischen. Die Studie präsentiert auf diese Weise erneut machtvolle politische Theologie, die nicht etwa selbst irritiert oder verunsichert wird durch ihre Konfrontation mit säkularen Ordnungen und Zeichensystemen, sondern dieser potenziellen Verstörung am Ort ihrer Verkörperung durch eine Haltung zu begegnen meint, die erlaubt, sich auf Anderes einzulassen, ohne zugleich nachhaltige Irritationen bei sich zuzulassen.