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Ausgabe:

Mai/2021

Spalte:

460–463

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Reitinger, Andreas

Titel/Untertitel:

Theodizee prozesstheologisch gedacht. Gott, Welt und Leid im Paradigma eines panentheistischen Konzepts.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2019. 264 S. = Studien zur systematischen Theologie, Ethik und Philosophie, 17. Kart. EUR 43,00. ISBN 9783402119068.

Rezensent:

Walter Dietz

Der Regensburger Theologe Andreas Reitinger veröffentlicht hier leicht überarbeitet seine Dissertation, im Wintersemester 2016/17 eingereicht an der Katholisch-Theologischen Fakultät Münster, betreut von Klaus Müller und Thomas Schärtl. Im Fokus steht das heute mehr denn je aktuelle Theodizee-Problem (Naturkatastrophen, Pandemien, heimtückische Krankheiten), das die logische Kompatibilität von Gottes Eigenschaften mit dem Übel der Welt als Schöpfung Gottes behandelt, wobei R. besonders das malum physicum in den Blick nehmen möchte (14), hier wiederum vor allem das Leid der Tiere (16, cf. 74–81).
Es gehe um eine Erörterung des »natürlichen Übels« im Sinne eines »in der Struktur der Schöpfung selbst liegenden Leiden[s]« (16). Das Augenmerk R.s gilt insbesondere der Analytischen Religionsphilosophie. Primär geht es ihm darum, die Anschlussfähigkeit von A. N. Whiteheads (1929) »metaphysischem Gottesbegriff« für »aktuelle Debatten« auszuloten (15). Sein Ausgangspunkt ist dabei ein extrem weit gefasster Begriff von Theismus: Gott sowohl personal als auch apersonal gedacht, sowohl transzendent als auch panentheistisch (17 ff.). Dem Theismus gegenüber stehe ein »Prozessdenken«, das »das malum physicum erklären« (23) und damit einen Lösungsversuch zur Beantwortung der Theodizeefrage bereitstellen könne.
In einem ersten Kapitel (27–93) beschreibt R. das Theodizeeproblem als »Konsistenzproblem des Theismus«. Im folgenden Kapitel (»Analyse«, 95–185) stellt R. zwei Lösungsmodelle einander gegenüber: das der free will defense (Plantinga, Swinburne, Hick) und das der »Prozessmetaphysik« Whiteheads. Im letzten Kapitel (»Kritik«, 187–230) evaluiert R. den Vergleich beider Konzepte (»Prozesstheodizee als plausibler Antwortversuch«, 223 ff.). Am Ende steht ein knappes Resumee, das die Ergebnisse bündelt: Ein personaler Theismus erweise sich als unzulänglich. Nur durch die Suche nach »alternativen Gotteskonzepten« könne man das Theodizeeproblem – wenn nicht lösen, so immerhin – entschärfen (233).
Im 1. Kapitel verzichtet R. auf eine Auseinandersetzung mit den klassischen Positionen (Augustin, Thomas, Leibniz, Kant), indem er sich primär auf die angelsächsische »Diskussionslandschaft« konzentriert (27). Im Blick auf die Formulierung »Wie kann Gott das Leid zulassen« (Anm. 47) wird allerdings nicht die grundlegende Frage gestellt, ob Gott als das Absolute (die alles bestimmende Wirklichkeit) überhaupt etwas bloß »zulassen« kann (permission/ admission of evil; 40.97.110.188.191 u. ö.; zur Kritik vgl. z. B. Hegel, Rph 1821, § 139Z, ThWA 7,264). R. rekapituliert A. Plantingas Antwort auf die These von J. L. Mackie einer rationalen Inkonsistenz des Theismus (36 f.) und formuliert die Frage, ob es »rechtferti-gende Gründe« für Gott gebe, die uns sinnlos und furchtbar er­scheinenden Übel zuzulassen (40 f.). Er plädiert für eine »argumentativ-theoretische Theodizee« (54; inspiert durch A. Kreiner und K. v. Stosch) – somit scharf gegen eine »reductio in mysterium« (cf. K. Rahner, G. M. Hoff u. v. a.). Das streng rational zu fassende Theodizeeprojekt ziele nicht auf eine Rechtfertigung Gottes, sondern nur des Glaubens an Gott (56, cf. 92). Die grundlegende Prämisse lautet, dass Gott »moralisch hinreichende Gründe« haben muss, Übel »zuzulassen«, damit der Glaube an ihn gerechtfertigt bleibe (64).
Angesichts von Naturkatastrophen (Pest, Tsunami, unheilbare Krankheit) stelle sich die Theodizeefrage »in verschärfter Weise«; weniger scharf z. B. im Blick auf Auschwitz, wo primär nur menschliche Täter anzuklagen sind (70). – Im Blick auf die »Eigendynamik der Schöpfung« versteht R. das Schöpfungshandeln Gottes als »freie Selbstbegrenzung«, »ein Handeln aus Freiheit und souveränes Schaffen aus dem Nichts« (88). Da der Allmachtsbegriff ein Eingreifenkönnen Gottes impliziere, verschärfe sich das Theodizeeproblem durch die offene Frage, warum Gott nicht eingreife (90 f.).
R. stellt ausführlich das Konzept der sogenannten free will defense vor (95 ff.; Plantinga, Hick und Swinburne), ferner Hicks soul-making-theodicy (112 ff.; mit Rekurs auf Irenäus). Die Idee einer »postmortalen Vollendung« setzt die Veränderlichkeit der Seele auch nach dem Tod voraus. Im Rahmen der free will defense erscheine das Leid als Teil eines Kosmos, der durch Naturgesetze gekennzeichnet ist, die auf Freiheit hin orientiert sind. Somit sei Leid als »unvermeidliches Nebenprodukt des Evolutionsprozesses« einzuordnen (126). Hier träfen sich Hicks und Griffins Position.
R. stellt ebenso ausführlich die prozesstheologische Argumentation vor, wobei er auch die Grundlagen von Whitehead ausführlich einbezieht (129–177; Hartshorne wird »nicht umfassend berücksichtigt«, 133; nur 229). Nach Whitehead leitet Gott die Welt mit seiner Vision von »truth, beauty and goodness« (157). Die Be­schränkung der göttlichen Allmacht ist für ihn keine freiwil-lige (anders bei H. Jonas, 171), sondern eine prozessontologisch (vor-)gegebene, die in der unwiderruflichen »Autonomie und Selbstbestimmung« seiner Geschöpfe gründet (160). Gott wirke nicht al­les bestimmend, sondern ordne nur ihr Chaos (162). Demnach sind Gottes Macht und Wissen begrenzt. Insbesondere könne Gott die »metaphysische Qualität der Welt« weder er- noch umschaffen (163, zu Griffin).
Die Theodizeeproblematik stehe bei Whitehead im Schatten der Frage nach dem Sinn des Universums. Gott könne die Existenz von Übeln nicht verhindern, diese aber harmonisch im Zuge seiner Selbstverwirklichung überwinden (164). Nach Griffin ist Gott das »maximal mächtigste Wesen« (169), dem es nicht obliege, to »prevent all evil« (170). Die Pointe der prozesstheologischen Theodizee bestehe nicht in der Betonung des werbenden Wirkens Gottes, sondern in einer metaphysisch begrenzten Macht Gottes (cf. 202), die nicht auf einer göttlichen Selbstbegrenzung beruhe (171); Gott könne stets beeinflussen, aber »nicht einseitig kontrollieren«. Die Pointierung des freien Willens werde somit »radikalisiert« (171). Nach einem wissenschaftstheoretischen Exkurs geht es R. um eine Evaluierung der Prozesstheodizee (187 ff.). Die prozesstheologische Feststellung einer Begrenzung der Allmacht erkläre Gottes Nichteingreifen stringenter – ohne Rekurs auf moralische Gründe (192 ff.; vgl. Swinburne).
Kritische Fragen der »Schöpfungslehre, Christologie und der Eschatologie« blieben bestehen, ihnen könnte aber (mit Roland Faber: Gott als Poet der Welt, 2003) durch Reformulierungen wirksam begegnet werden (195). R. hält den eschatologischen Kritikpunkt für den schwerwiegendsten: Kann man von einer »endgültigen Überwindung allen Leids« ausgehen (ebd.)? Oder bleibt sie fraglich? Dabei ist es der Preis der Prozesstheodizee, dass sie »mit einigen Basiskonstituenten des klassischen (biblischen) Gottes-bildes brechen muss« (198). Doch spreche für sie, dass sie letztlich widerspruchsfrei erklären könne, warum Gott Übel zulasse (197). Im Sinn des Kohärenzpostulats sei sie vorzüglich geeignet, »naturwissenschaftliche, geisteswissenschaftliche und philosophisch-theologische Weltorientierung« sinnvoll zu verbinden (198). Dass sie »spekulative Alternativen« zur klassischen Dogmatik biete, sieht R. nicht als Problem, sondern als ihre Stärke (199).
Das Prozessdenken sei »von [seinen] Grundannahmen her« bestens mit der Evolutionslehre vereinbar und könne das Übel »adäquater« erklären als die free will defense, obgleich selbst die Prozesstheodizee nicht »den bestmöglichen Antwortversuch auf die Theodizeefrage« biete (200). Gott sei dabei einer, »der erst im Werdeprozess Gott wird« (202). Die Idee des Werdens Gottes widerspreche nicht seiner Unveränderlichkeit, denn die »Folgenatur« Gottes füge seiner Natur »nichts Wesentliches hinzu« (203). Indem Gott »essentiell kenotisch« als der große »Leidensgefährte« (206) gedacht wird (ohne dies christologisch zu meinen!), zeige sich die Stärke der Prozesstheodizee, Gott als »Liebe für andere« zu denken (206).
Im Blick auf die Eschatologie sieht es R. – anders als Kreiner – durchaus gegeben, dass Gott gemäß dem Prozessdenken auch als nicht-allmächtiger den Weltprozess »in eine eschatologische Vollendung zu führen« vermag (209). Die Rede vom »endgültigen Sieg über das Übel« sei allerdings nur »bildhaft« zu verstehen (210). Auch beim als allmächtig konzipierten Gott bleibe unklar, wie er das Leid am Ende überwinden könne (211 ff.; gegen Kreiner); mit dem Leid würde sodann auch die »Eigenständigkeit« der Kreatur »aufgehoben« (212). Theodizee ziele auf endgültige Leidüberwindung, nicht auf Leid erklärung (213; dem hätten Leibniz und Kant wohl nicht zugestimmt; sie fassen Theodizee als schöpfungstheologisches, nicht eschatologisches Projekt). Anhand des Ansatzes von M. Suchockis (1988) versucht R. deutlich zu machen, dass auf der Basis prozesstheologischen Denkens auch eine individuelle Eschatologie konzipierbar ist (213–225). Da bei ihr die »subjektive Unmittelbarkeit« gewahrt bleibe, werde das Leid nicht verharmlost (224 f., gegen Kreiner). Ob die Beantwortung der Theodizeefrage auf prozesstheologischer Basis wirklich befriedigender und »adäquater« möglich ist als im klassischen Kontext (so das Fazit, 227 f.), wird man fragen müssen.
R. verbindet den klassischen Allmachtsbegriff mit der Forderung eines unmittelbaren Eingreifenkönnens, weshalb er ihn – derart missverstanden – ablehnt. Er bejaht den »panentheistic turn« (228), wodurch eine abstrakte Entgegensetzung von Gott und Welt vermieden wird. Die Welt sei »ein konstitutiver Teil […] Gottes« (229), nicht kontingent, sondern notwendig existierend. Gott dürfe nicht autark gedacht werden, sondern als abhängig von der durch ihn begründeten Welt, die im Chaos ihren Anfang habe (ebd.). Gott werde wesentlich durch das »Universum« bestimmt (230). Er wirke nicht determinierend, sondern überrede und rufe auf zum Guten und Wertvollen (232).
Prozesstheologisch wird der Begriff göttlicher Macht hier ganz analog zu endlich-irdischer Macht gedacht (Gegenmodell: Kierkegaard Pap VII 181A, 1846). Auch Gottes Gerechtigkeit wird ganz dem Denkmuster unseres Verstandes eingepasst. Dies macht Theologie rational kompatibel, nur bleibt die Frage, ob es dann noch Theologie ist. Gott wird eine Art »player« im Ganzen, der tut, was er kann (vgl. Woody Allen: Gott als underachiever). Seine Güte muss in der Tat nicht in Frage gestellt werden. Ferner hat R. auch darin Recht, dass die Vereinbarkeit mit einem evolutionistischen Weltbild prozessphilosophisch sehr gut aufweisbar ist.
Das Buch schließt mit einer eindrucksvollen, präzise recherchierten Bibliographie, die auch entlegene Titel der Analytischen Religionsphilosophie angelsächsischer Provenienz auflistet; zu­dem freilich auch einige Titel, die gerade in ihrer Kritik am panentheistischen Gottesbild fruchtbar gemacht werden könnten. Leider fehlt in dem tippfehlerreichen Buch sowohl ein Personen- als auch ein Sachregister; zumindest Ersteres hätte sich gelohnt. Fazit: Für alle, die sich für die Prozessmetaphysik Whiteheads und ihre religionsphilosophische Aufarbeitung interessieren, wird die Lektüre dieses Werkes in jedem Fall lohnend sein.