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Ausgabe:

Mai/2021

Spalte:

454–457

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Sloterdijk, Peter

Titel/Untertitel:

Den Himmel zum Sprechen bringen. Über Theopoesie.

Verlag:

Berlin: Suhrkamp Verlag 2020. 352 S. Geb. EUR 26,00. ISBN 9783518429334.

Rezensent:

Ingolf U. Dalferth

Das jüngste Buch von S. besteht aus zwei umfänglichen Texten zum Thema Religion. Teil I (Deus ex machina, Deus ex cathedra) ist ein auf knapp 140 Seiten erweiterter Vortrag, der 2019 in der Reihe »Nach Gott. Reden über Religion nach ihrer Entzauberung« am Freiburger Institut für soziale Gegenwartsfragen gehalten wurde, Teil II (Unter hohen Himmeln) ein zu spät abgeschlossener und mit 196 Seiten etwas aus dem Ruder gelaufener Beitrag für eine Festschrift zum 80. Geburtstag von Jan Assmann, als dessen langjähriger Leser sich S. im Nachwort bekennt. Das Zweite erklärt die Omnipräsenz Ägyptens in diesem Buch, das Erste die doppelte Absetzbewegung, die es in beiden Teilen vollzieht: Es verortet sich nicht nur nach Gott, sondern auch nach der Religion. Am liebsten würde S. diesen Ausdruck ganz vermeiden, aber weil es nicht geht, verwendet er ihn in Anführungszeichen (16). Was bleibt nach Gott und Religion von ›Gott‹ und ›Religion‹ noch zu sagen?
Der Nietzschekenner S. antwortet: dass wir die Wörter noch haben. Zuständig für Wörter und ihre Sinngeschichten aber ist nicht die Wissenschaft, sondern die Poetik, für die der Wörter ›Gott‹ und ›Religion‹ also nicht die Theologie, sondern die Theopoetik. Nach Gott und der Entzauberung der Religion ist die Religion nicht am Ende, sondern zeigt unverstellt, was schon immer ihre Triebfeder war: der Wortzauber ihrer Theopoesien (46). Wovon man heute außerhalb schrumpfender Zirkel nicht mehr reden kann und will, darüber muss man nicht schweigen. Solange man noch die Wörter hat, kann man den religionsunkundigen Zeitgenossen ja die Theopoesien erzählen, die in der europäischen Kulturgeschichte mit diesen Wörtern verbunden sind – die Theopoesien der »Wir-Bildung« (144), des Lobs (183), der Geduld (198), der Übertreibung (220) usf. Auf diese Aufklärung der religiös Ungebildeten versteht sich S. Denn mit Wortzauber kennt er sich aus.
Seine Gewährsleute sind Augustin und Nietzsche. Nietzsches Aphorismus von 1888, »Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben«, ist der Kerngedanke des Buches. Und Augustins der mittleren Stoa entlehnte theologia tri-partita (sie wird nicht erwähnt) weist S. den Weg, Nietzsches Aphorismus auszuarbeiten. Nach dem Tod Gottes und der Entzauberung der Religion kann man nicht mehr an die theologia naturalis, die Theologie der Naturphilosophen, als metaphysische Denkform der Theologie anknüpfen, und erst recht nicht mehr an die theologia civilis, da heute niemand mehr eine politische Zivilreligion braucht – wer »eine solche für wünschenswert oder gar notwendig hält, beteiligt sich an zumeist regressiven Fiktionen« (332). Was bleibt, ist die theologia mythica oder poetica, die Theologie der Dichter und des Theaters.
Das ist S.s Stichwort. Der Deus ex machina der griechischen Tragödie und des hellenistischen Theaters wird zum Einstiegs- und Leitmotiv seines theopoetischen Rundgangs durch die Religionsgeschichte (vor allem des Westens). Ausgehend von dieser Theatermaschine zur Verkörperung und Vergegenwärtigung der Götter werden nicht nur die einschlägigen Themen der Theologie bis hin zur Offenbarung vorgeführt, sondern auch die spekulativen Ab­stürze verdeutlicht, die sich einstellen, wenn man den Theatergott zur Denkfigur macht und zum Deus ex cathedra vergeistigt, der vom Himmel her das Leben derer adressiert, die nicht im Himmel sind. Die »ägyptische Lösung« (46), dass der Pharao in Person Gott darstellt und ist, also für andere Gott präsentiert, sieht S. bis in »das profanste Ich unserer Tage« fortwirken, dem es »um sein ständiges Beachtlichsein« gehe, um sich seines Seins als »Seins-zum-Gesehenwerden« zu versichern (58). Wir fiktionalisieren uns selbst in dieser individualreligiösen Profanisierung der großen theopoetischen Leistung Altägyptens, die S. bis in die Schleiermachertradi-tion auszieht, weil wir für andere mehr darstellen wollen als wir s ind.
Den einzig erwähnenswerten theologischen Gegenentwurf zu dieser trivialisierenden Profanisierung der fiktionsstarken Theopoetik der Religion sieht S. in »Karl Barths Intervention«: »Religion ist Unglaube« (114). Allerdings habe sich Barth im zweiten Römerbrief selbst als Theopoet erwiesen und »das Betriebsgeheimnis der vermeintlich nichttheopoetischen Reden von Gott« offengelegt, »indem er sich zur Fiktion der Nicht-Fiktionalität solcher Reden bekennt« (115). Dass er in den vielen Bänden der KD das alles dann gegenlesen will und zu korrigieren sucht (»Fiktionen sind immer die Fiktionen der anderen« [134]), belege nur, dass er »in großer Höhe scheitert«, weil er »in einen theologistischen Leerlauf gerät, der falsche Ausführlichkeit ohne Erkenntnisgewinn hervorbringt« (137). Die theopoetische Einsicht, dass auch das Nicht-Fiktionale Fiktion ist, wird nicht aufgehoben, sondern bestätigt, wenn man sie in nicht enden wollenden Ausführungen in nicht-fiktionaler Rede zur Fiktion erklärt.
Der Eindruck eines theopoetischen Leerlaufs stellt sich freilich auch bei der Lektüre dieses Buches ein. Es sieht einen zentralen Punkt – Religion ist immer Fiktionalisierung, weil sie mehr sieht im Leben, als dieses von sich aus zeigt – und es ist voller Geistesblitze, kluger Beobachtungen und pointierter Formulierungen, eine Fundgrube von Bekanntem. Aber in seinem unterhaltsamen Hin und Her durch den Zettelkasten der Religionsgeschichte ist es eher zur Kaminfeuerlektüre im Lockdown geeignet als eine intellektuelle Provokation, das Religionsthema noch einmal neu zu durchdenken. S. wird von der Fülle seiner Einfälle, Beobachtungen und Trouvaillen überrollt, aber er bleibt fest auf dem vertrauten Boden der neuzeitlichen Religionskritik. So reichhaltig das Material ist, das er ausbreitet, so überschaubar sind die gedanklichen Leitplanken, in denen er sich bewegt. Denkerisch hat er das 19. Jh. nicht verlassen: Der Bogen von Feuerbach bis Nietzsche ist das tragende Gedankengerüst des Buches. Im Zentrum steht Nietzsches »Glaube an die Grammatik«; die Leitperspektive bietet der philosophische Mythologe Platon und sein christlicher Adept und theolo-gischer Gegenpol Augustinus; sein theopoetisches Leitmotiv der Fiktionalisierung des Religiösen und des Scheiterns aller theologischen Fluchtversuche wird durch die ganze westliche Denkgeschichte verfolgt, auf theologischer Seite bis in die Barthanalyse und Denzingerlektüre, auf nichttheologischer Seite bis zu Heidegger, Flasch, William James, Sartre und Levinas. Die Theopoetik siegt auf der ganzen Linie. Theologie jedweder Couleur hat sich ins Fiktionale verabschiedet. Etwas anderes als Theopoetik ist nicht mehr möglich – und hat es eigentlich auch nie gegeben.
Das erlöst nicht nur die Theologie von der abwegigen Konkurrenz mit den Wissenschaften, sondern befreit auch die Religion aus dem Korsett ihrer gesellschaftlichen Verzweckungen. Sie ist nichts anderes als theopoetische Produktionskraft. Nachdem die gesellschaftliche Ausdifferenzierung für alle wichtigen Bereiche der Le­bensfürsorge eigene Leistungssysteme geschaffen hat, bleibt für die Religion nicht mehr übrig als eine vage »Beihilfe zur Auslegung des Daseins« (331). Niemand braucht sie noch für irgendetwas. Ihre Emanzipation von allen gesellschaftlichen Zwecken und Leis-tungserwartungen zeigt unverstellt ihre »überraschende, erhebende, skandalöse Nutzlosigkeit« (335).
Das macht es nicht leichter für die Religion. Zwar ist sie ihren gesellschaftlichen Rechtfertigungsdruck los, aber sie hat jetzt zwei neue Rivalen. »Seit sie keinem externen Zweck mehr zu dienen hat« (335), bewegt sie sich »auf ihrem eigenen Gebiet, dem der Auslegung der Existenz im Horizont ihrer Zufälligkeit, Endlichkeit, Glückseligkeit und Kommunikativität« in Konkurrenz zu den Künsten und einer weisheitlichen Philosophie (334). Diese aber waren der Religion »bei der Eroberung des Nutzlosen … um einen Epochenschritt voraus« (335). Die Religion »konnte ihnen ins Freie erst folgen, nachdem sie entstaatlicht, entpolitisiert und ganz ins assoziative oder separate Leben selbstsorgefähiger einzelner ausgelagert worden war« (335). Wie der alte Blumenberg in der Matthäuspassion, so sieht der alte S. in Kunst, Musik und Weisheitsdenken die einzige noch beachtenswerte Gegenwartsform von Religion. »Was von den historischen Religionen bleibt, sind Schrif ten, Gesten, Klangwelten, die noch den einzelnen unserer Tage gelegentlich helfen, sich mit aufgehobenen Formeln auf die Verlegenheit ihres einzigartigen Daseins zu beziehen. Das übrige ist Anhänglichkeit, begleitet vom Verlangen nach Teilhabe.« (336) Wenn Religion noch eine Zukunft hat, dann in der Gestalt von Kunst und Philosophie.
Das verbleibt im Denkhorizont des 19. Jh.s und verspielt die Chance, in der Gegenwart anzukommen. Für S. besteht die theopoetische Entzauberung der Religion im Aufweis ihrer gesellschaftlichen Nutzlosigkeit. Dass die Entlastung von externen Zwecken sie zur »Freisetzung ihres Eigensinns« (335) befreit, betont er. Aber anstatt nach diesem vorwärtsgerichtet zu suchen, findet er ihn rückwärtsgewandt im kunstreligiösen Antwortarsenal: Religion »ist nutzlos wie die Musik; doch ›Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum‹« (335). Das ist richtig. Aber das Entscheidende ist damit noch nicht gesagt. Wie man lernen musste, dass Moral erst dort gelebt wird, wo man das Gute um seiner selbst willen tut und nicht um irgendwelche externen Zwecke zu realisieren, so hat auch die Entdeckung der Nutzlosigkeit der Religion ihre Pointe darin, dass sich der Sinn von Religion erst dort erschließt, wo man sie um ihrer selbst willen praktiziert und nicht um anderes damit zu erreichen. Man lebt weder moralisch noch religiös, solange man es im Schema des ›um … zu‹ tut. Doch hier, wo es hätte interessant werden können, enden S.s Streifzüge durch die Religionsgeschichte. Er betont die Affinität der Religion zu Musik und Weisheit, die ebenfalls nutzlose Luxusgüter sind. Aber da bricht er ab und zieht nicht die Konsequenz aus seiner theopoetischen Nutzlosigkeitsanalyse von Religion und Theologie: dass sie eine andere Weise von Religion und von Gott zu reden nahelegt und nötig macht.
Die Entzauberung der Religion erschöpft sich nicht im theopoetischen Aufweis ihrer gesellschaftlichen Nutzlosigkeit, sondern besteht in der Korrektur der neuzeitlichen Fehlmeinung, Religion ersetze Gott und werde ihrerseits durch die Aufhebung in Kunst und Philosophie theopoetisch entzaubert. Das Gegenteil ist wahr: Nicht Religion kommt nach Gott, sondern Gott kommt nach der Religion. S.s Zögern lässt erkennen, dass hier etwas noch nicht zu Ende gedacht ist. Seine Theopoetik ist nicht einfach die Steigerung der Verabschiedung Gottes durch die Religion zur Verabschiedung der Religion durch Kunst und Philosophie. So gelesen würde S. nur die törichte Arroganz von Lesern wie Daniel Kehlmann bedienen, der S.s Reden von ›Religion‹ und Schweigen von Gott als die gute Nachricht feiert, endlich sei die Aufklärung am Ziel. Unter vernünftigen Menschen verstehe es sich ja von selbst, dass jeder Satz über Gott ein Satz zu viel wäre. S. zeige darüber hinaus, dass man auch Religion nicht mehr bekämpfen müsse, sondern sie als faszinierendes Relikt spöttisch wertschätzen könne. »Erst wenn so etwas möglich ist, ist Gott wirklich tot. Und bei Gott, das wäre keine schlechte Nachricht.« (NZZ 18.12.2020)
Solche von keinem Nachdenken getrübte Gedankenlosigkeit liegt S. fern. Er denkt nach über Religion – klug, differenziert, pointenreich. Aber er tut es von einem Standpunkt aus, der ignoriert, dass die Welt des 19. Jh.s hinter uns liegt. Es ist Zeit, nicht mehr immer nur mit Nietzsche anzufangen und bei Nietzsche zu enden, sondern über Nietzsche hinaus zu denken und in der Nutzlosigkeit der Religion nicht ihr Ende, sondern ihren Eigensinn und ihre Zukunft zu sehen. Religion ist für nichts zu gebrauchen, weil sie die Lebensform der Einsicht ist, dass Gott nicht tot ist, wenn wir meinen, ihn nicht mehr zu gebrauchen, sondern gerade umgekehrt allem so zuvorkommt, dass er nicht erst dort interessant wird, wo man ihn für etwas braucht, sondern sich immer und überall ganz und ausschließlich um seiner selbst willen als interessant erweist.