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Ausgabe:

Mai/2021

Spalte:

453–454

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Omodeo, Pietro Daniel, and Volkhard Wels [Eds.]

Titel/Untertitel:

Natural Knowledge and Aristotelianism at Early Modern Protes-tant Universities.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2019. 342 S. m. 7 Abb. = Episteme, 14. Geb. EUR 72,00. ISBN 9783447112659.

Rezensent:

Christoph Strohm

Der Band dokumentiert im Wesentlichen die Beiträge einer Ta­gung zum Thema »Aristotelismus und Naturwissen an den protes-tantischen Universitäten der Frühen Neuzeit«, die im Juni 2017 vom Sonderforschungsbereich »Episteme in Bewegung« an der Freien Universität Berlin und dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte veranstaltet wurde. In der Einleitung formulieren die Herausgeber das Ziel, am Beispiel der Medizin und der aufstrebenden »Naturwissenschaften« (»natural knowledge«) das Innovationspotential des an protestantischen Universitäten ge­lehrten Aristotelismus herauszuarbeiten. Dieser sei kein »fossilized relic of the past« oder »an unchangeable set of norms and doctrines« gewesen (4). »Rather, it was a movable philosophy capable of inter-acting and merging with – and reacting to – impulses coming from many directions, for instance Paracelsism in medicine, Carte-sianism in physics and physiology, and Ramism in methodology« (ebd.). Als spezifisch protestantisch sei dabei im Wesentlichen das außerordentlich wirkungsreiche, von der humanistischen Hochschätzung der Rhetorik inspirierte pädagogische Erbe Melanchthons anzusehen. Die einzelnen Studien zu sehr unterschied-lichen Aspekten tragen durchweg – allerdings in unterschiedlich konzentrierter Weise – dazu bei, diese Thesen zu bestätigen und zu illustrieren.
Volkhard Wels zeigt, dass Melanchthons Definition eines genus didascalion, wie es sich in der »Rhetorik« von 1530 findet, Andreas Libavius’ Alchymia von 1597 beeinflusst hat (11–27). Alchemie wird hier nicht mehr in traditioneller Weise als Arkanwissen präsentiert, sondern als lehrbare, klar strukturierte und durch empi-risches Wissen angereicherte Wissenschaft. Die am Beginn von Libavius’ Werk abgedruckten Tafeln deuten allerdings auf einen erheblichen Einfluss der dualistischen Einteilungslogik des französischen Logikers Petrus Ramus hin. Für sie war jedoch gerade die platonisch inspirierte Kritik der aristotelischen Syllogistik charakteristisch. Insofern taugt das Beispiel nicht besonders gut, um die Innovationskraft des an protestantischen Universitäten gelehrten Aristotelismus zu belegen.
Günter Frank sieht in Melanchthons Lehre von der Schöpfung, in der sich Gottes Weisheit widerspiegelt, einen wichtigen Grund für eine verstärkte Erforschung der Natur (29–46). Da das »Buch der Natur« als ein zweites Medium zur Erkenntnis Gottes neben der Heiligen Schrift verstanden wurde, habe das Naturkunde und -erforschung gefördert.
Sascha Salatowsky untersucht Abhandlungen zur Gotteslehre aus der Feder des spanischen Spätscholastikers Francisco Suárez, des orthodox-lutherischen Theologen Johann Gerhard, des Calvinis-ten und Krypto-Sozinianers Conrad Vorstius sowie des Sozinianers Christoph Stegmann (47–82). Während sich in Suárez’ und Gerhards Abhandlungen über das Verhältnis Gottes zu Raum und Zeit kein Niederschlag zeitgenössischer naturwissenschaftlicher Diskurse findet, werden sie bei Vorstius und Stegmann ansatzweise einbezogen.
Pietro Daniel Omodeo und Jonathan Regier erörtern die vieldiskutierte Frage der Rezeption der umstürzenden Hypothesen Nikolaus Kopernikus’ in Wittenberg (83–108). Stärker als die bisherige Forschung betonen die Autoren die grundsätzlich ablehnende Haltung bei Melanchthon und in seinem Umkreis.
Wieder stärker auf die Frage der Bedeutung aristotelischer Traditionen für die Naturforschung an protestantischen Universitäten geht der Beitrag Stefano Gulizias, »Cosmology and Scholarship in Seventeenth-Century Helmstedt: The Baltic Mathematician and Scientific Mediator Nicolaus Andreae Granius«, ein (109–122). Der schwedische Mathematiker hat unter anderem zur Übernahme der Neuinterpretation aristotelischer Methodologie durch den Pa­duenser Logiker Jacopo Zabarella an lutherischen Universitäten beigetragen.
Drei weitere Beiträge erörtern die Entwicklungen auf dem Ge­biet der Astrologie und Astronomie in der Frühen Neuzeit. Barbara Mahlmann-Bauer arbeitet insbesondere den sozinianischen Beitrag zur Zurückdrängung der Astrologie zugunsten einer Etablierung astronomischer Forschungen heraus (123–186). Anna Jerratsch findet aristotelische Traditionen in protestantischen Kometen-Deutungen im 16. und 17. Jh. (187–208). Miguel Ángel Granada charakterisiert den Danziger reformierten Philosophen Bartholomäus Keckermann als Verfechter der aristotelischen Lehre von den Kometen als Teil der irdischen, nicht der himmlischen Sphäre, die Ergebnis irdischer Ausdünstungen seien (209–234). Bruce T. Morans und Elisabeth Moreaus Aufsätze befassen sich noch einmal mit Andreas Libavius’ Darstellung der Alchemie. Moran arbeitet das aristotelische und ramistische Erbe sowie die Nachwirkungen der Methodenklärung Melanchthons heraus (235–252). Moreau un­tersucht Libavius’ Arzneimittelkunde, die Galens Säftelehre mit der mittelalterlichen alchemia medica verbindet und dabei gegen den Paracelsismus auf aristotelische Kategorien zurückgreift (253–270).
Schließlich bieten ebenso die letzten drei Aufsätze Hinweise auf das Weiterwirken aristotelischen Erbes, wenn auch in durchaus beschränktem Maß. Bernd Rolings Analyse des in Kiel wirkenden hermetischen Autors Johann Ludwig Hannemann offenbart in erster Linie platonische und paracelsische Gedanken und nur am Rand aristotelische Begriffe und Konzepte (271–298). Simon Rebohm kann in den Miscellanea curiosa, einer vielbändigen Enzyklopädie der Medizin und Naturkunde, welche unter der Verantwortung der Academia Naturae Curiosorum (später die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina) erschien, zahlreiche Verweise auf Aristoteles identifizieren (299–314). Nach 1676 entfiel diese Referenz an Tradition und Universität aber rasch. Ähnlich beobachtet Martin Urmann im französischen Kontext wenig überraschend seit dem Ende des 17. Jh.s eine zügige Ersetzung aristotelischer Philosophie durch den neuen Cartesianismus (315–342).
Die Beiträge belegen, dass der Aristotelismus in der Frühen Neuzeit an protestantischen Universitäten im Bereich der Naturkunde eine gewisse Wirkungsgeschichte entfalten konnte, wenn auch sein »Innovationspotential« nicht überschätzt werden sollte. Das wird in den durchweg quellennah erarbeiteten Detailstudien schlüssig aufgewiesen. Angesichts der Vielfalt der Themen und behandelten Personen wäre die Erschließung zumindest durch ein Personenregister sehr hilfreich gewesen.