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Ausgabe:

Mai/2021

Spalte:

446–449

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Floss, Pavel

Titel/Untertitel:

The Philosophy of Nicholas of Cusa. An Introduction into His Thinking.

Verlag:

Basel: Schwabe Verlag 2020. 350 S. Geb. EUR 68,00. ISBN 9783796541568.

Rezensent:

Harald Schwaetzer

Eine Einführung in das Denken des Nikolaus von Kues, deren Autor Pavel Floss, tschechischer Philosoph und Philosophiehisto-riker, ist, darf in jedem Fall als ein Gewinn verbucht werden. Die Linie der Rezeption über Comenius und Patočka, so wichtig, wie sie ist, bleibt zumeist zu wenig bedacht in der Cusanus-Forschung. Hier wird sie gewürdigt und erhält zu Recht einmal das abschließende Kapitel.
Der Band setzt das Programm einer Einführung in das Denken konzentriert um. Die äußeren Lebensumstände werden nur so weit, wie es nötig und hilfreich ist, knapp an den jeweiligen Stellen eingeflochten, eine konsequente Entscheidung, wenn es nicht um »Leben und Werk«, sondern eben vorrangig um das Denken geht. F. wählt eine genetische Darstellung und keine systematische. Auch diese Entscheidung, die nicht weiter kommentiert wird, ist gelungen. Sie mag vielleicht auch damit zusammenhängen, dass ein wesentlicher Gewährsmann Kurt Flasch mit seinem Buch zur »Geschichte einer Entwicklung« bei Cusanus ist. Gleichwohl ist sie von F. eigenständig durchgeführt.
Um seinem Anliegen die nötige Intensität zu verleihen, widmet sich F. exemplarisch sechs Schriften des Cusanus: De docta ignorantia und De coniecturis, ferner De mente und De beryllo, schließlich De possest und De apice theoriae. Die Anlage wird verständlich durch die Gliederung der Werkphasen, die F. vornimmt. Er lässt eine mittlere Periode mit den Idiota-Schriften beginnen und mit derjenigen zum Beryll abschließen. So interpretiert er aus der frühen, mittleren und späten Phase jeweils zwei Werke. Über Werkphasen lässt sich bekanntlich trefflich streiten; es wäre sicher gut gewesen, wenn F. diese seine Entscheidungen kontextualisiert hätte. Gerade im Falle von De beryllo findet sich häufiger eine Deutung als Beginn der Spätphase denn als Abschluss der mittleren. Auch ist die Stellung der »Opuscula« um 1445 schwierig. Es wird sich zeigen, dass eine solche Abgrenzung, wie F. sie hier vornimmt, weitere Konsequenzen nach sich ziehen kann, welche der Nachzeichnung und dem Zusammenhang der Werkentwicklung nicht nur zuträglich sind. Da jedoch eine Einführung Akzente setzen muss, darf man sagen, dass hier eine konsequente Auswahl vorliegt, die auf einer Grundlage geschieht, die man vielleicht nicht teilen muss, die aber auf ihre Weise durchaus einsichtig ist; und in jedem Falle wird man F. zugeben, wesentliche Werke gewählt zu haben.
Dabei gelingt es F. durchaus, zwischen den Analysen immer wieder auch die übrigen Werke wenigstens mit kurzen Strichen vorzustellen. Man gewinnt häufiger den Eindruck, dass Flasch da­bei im Hintergrund steht, aber immerhin wird das Bild der Entwicklung des Denkens auf diese Weise dynamischer und geschmeidiger, als wenn es nur sechs erratische Blöcke der gewählten Schriften wären.
Dabei gelingt F. immer wieder auch ein origineller Zugriff auf das cusanische Denken. Gleich eingangs wird De docta ignorantia versehen mit einer Interpretation von Sermo I und II. Anhand der dort angeschlagenen Themen führt F. sehr zielsicher in zentrale Problemfelder des cusanischen Denkens ein: die Anthropologie, die Gottesfrage, das Problem der Unendlichkeit. Darüber hinaus vermag er auch zutreffende Akzente zu setzen, die zumeist eher im Hintergrund stehen. Die Auseinandersetzung des Cusanus mit dem Bösen, mit schwarzer und weißer Magie beispielsweise sind solche Gegenstände.
Dabei hat die frühe Periode ein besonderes Gewicht, sie reicht bis zur Hälfte des Buches (ca. 150 Seiten). Die mittlere umfasst un­gefähr die Hälfte, und die dritte beschränkt sich auf 50 Seiten. Sehr schön gelungen ist das abschließende Kapitel zu Cusanus und Comenius – ein Akzent in einer allgemeinen Einführung, der durchaus legitim ist, insofern er auch exemplarischen Charakter für Fragen der Rezeption des cusanischen Denkens hat.
F. folgt seinen gewählten Texten recht treu. Dabei ist das »close reading« immer an einem systematischen Problem orientiert. Er gibt darüber auch immer Auskunft, so dass man beim Lesen gut orientiert ist. Leider werden nur wenige Zitate originalsprachlich angeführt, aber doch zumindest diejenigen, die F. wichtig sind.
So schafft es F., durch eine nachzeichnende Analyse der wesentlichen systematischen Aspekte von sechs für die Entwicklung des Cusanus wichtigen Werken ein nahes und dichtes Bild des cusanischen Denkens zu vermitteln. In diesem Sinne darf die Einführung als gelungen betrachtet werden.
Allerdings sind doch einige nicht unerhebliche Einschränkungen zu machen. Es ist bedauerlich, dass F. offenbar die Forschungsliteratur zu Cusanus nur sehr eingeschränkt zur Verfügung hatte. So fehlen ihm viele Aspekte, die inzwischen herausgearbeitet sind. Sowohl die neuere deutsche wie auch die gesamte englischsprachige Literatur fehlt – dass die spanische, französische und italienische nicht einbezogen ist, mag verständlich erscheinen, wenn denn die an­deren Sprachen mit den klassischen Forschungskontexten präsent wären. Dabei geht es weniger um das Zitieren einschlägiger Positionen. Vielmehr verfehlt F. manches Mal im Zugriff seine Texte. Zu »De coniecturis« sind die gesamten Arbeiten von Inigo Bocken ihm offenbar unbekannt; der methodische Wert der »coniectura« bleibt daher unterbelichtet. Die berühmte Definition der coniectura als Partizipation an der Wahrheit in Andersheit wird wie nebenbei (122) eingeführt. Der lateinische Text ist nicht gegeben; für »alteritas« wird als Übersetzung »variety« geboten. Das ist sicher eine interessante Interpretation, aber ohne Kommentierung und Diskussion ein wenig fragwürdig. Die vier Welten aus derselben Schrift werden ohne den pythagoreischen Hintergrund beleuchtet. So bietet die Interpretation von De coniecturis eigentlich nicht die Schärfe und Modernität, welche der cusanische Begriff hat; und auch die Tragweite für das cusanische Werk ist zu schwach akzentuiert. Bereits an früherer Stelle (43) wird die Unterscheidung von sub-lunar und supra-lunar richtig vervollständigt durch »supra-heavenly«, welches ein Supplement »by christian vision« sei; was aber keineswegs der Fall ist, sondern bereits vom paganen Neuplatonismus in die christliche Theologie hinübergekommen ist. Beispiele wie dieses zeigen, dass an vielen Stellen die verwandelnde Rezeptionskraft des cusanischen Denkens, an der auch viel seiner Zukunftskraft sichtbar wird, nicht hinreichend gefasst ist. Dass Cusanus seine Idee der »viva imago Dei« und die damit verbundenen Theoreme bereits in den »Opuscula« entwickelt hat, darf inzwischen als allgemein anerkannt gelten. F. verliert über diese systematisch-genetische Bedeutung der »Opuscula« kein Wort (167 ff.). Dass gerade in diesen Schriften eine intensive Auseinandersetzung mit Eckhart stattfindet, die sowohl systematisch die Anthropologie wie das Problem des Pantheismus löst, übergeht F. ebenfalls. So fehlen der Einführung sowohl historisch wie systematisch entscheidende Bausteine für das Verständnis des cusanischen Denkens.
Das Literaturverzeichnis listet unter der Überschrift »Works about Nicholas of Cusa« nur 15 Titel. Wären diese unstrittig die wichtigsten, dann ließe sich noch darüber streiten. Indes finden sich dort die Trierer Cusanus Lecture von Beierwaltes, ein Text in Aufsatzlänge und ohne Fußnoten, die spezielle Arbeit von Haubst über Cusanus und Wenck von Herrenberg oder auch als einzige französische Schrift diejenige von Nicolle zur Mathematik bei Cusanus. Hingegen findet sich, obwohl F. eine englischsprachige Einführung vorlegt, nicht einmal eine Erwähnung der englischen Einführungen im Literaturverzeichnis, allen voran etwa »Introducing Nicholas of Cusa. A Guide to a Renaissance Man«, unter Herausgeberschaft von Bellito, Izbicki und Christianson bereits 2004 erschienen und nach wie vor die Standard-Einführung in der englischen Cusanus-Literatur. Aber auch »Nicholas of Cusa. A Companion to his Life and his Times« von Watanabe (2011 publiziert) sucht man vergebens. Sammelbände, sogar die systematisch größeren und wichtigeren, oder neuere Monographien der letzten zehn Jahre fehlen nahezu ausnahmslos, auch in den Fußnoten. Die Unvertrautheit mit der Forschungsliteratur geht so weit, dass selbst die kritische Ausgabe der »Opera omnia«, die international immer mit »h« (für Heidelberg/Heidelberger Akademie) abgekürzt wird, mit einem eigenen Sigel versehen wird.
Es wäre dieser im Ansatz schönen Einführung zu wünschen, dass es F. vergönnt ist, im Rahmen eines Forschungsaufenthalts eine zweite Auflage vorzubereiten, welche den Dialog sucht und integriert oder zumindest diskutiert, was die bisherige Forschung inzwischen glaubt, weiterführend geklärt zu haben.
Auch wenn diese Einschränkungen gemacht werden mussten, ist doch festzuhalten, dass das Erscheinen des Bandes nur begrüßt werden kann und dass die Lektüre durchaus in vielen Hinsichten den einführenden Charakter hat, den sie verspricht und den man von ihr erwarten kann. Die internationale Cusanus-Forschung wird den Band und seinen Autor sicherlich gerne aufnehmen; es ist, wie eingangs gesagt, ein gutes und schönes Zeichen, wenn Nikolaus von Kues in den Landen des Amos Comenius gepflegt wird.