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Ausgabe:

Mai/2021

Spalte:

422–425

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Hanson, Brian L.

Titel/Untertitel:

Reformation of the Commonwealth. Thomas Becon and the Politics of Evangelical Change in Tudor England.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019. 250 S. m. 18 Abb. u. 1 Tab. = Reformed Historical Theology, 58. Geb. EUR 90,00. ISBN 9783525554548.

Rezensent:

Marc Bergermann

In dieser Monographie befasst sich der amerikanische Musikwissenschaftler, Theologe und Historiker Brian L. Hanson mit der wechselhaften Reformationsgeschichte Englands im 16. Jh. Dies vollzieht H. in Form einer interdisziplinären Fallstudie über den aus Norfolk stammenden protestantischen Geistlichen und theologischen Schriftsteller Thomas Becon (1512–1567). Entstanden unter der Betreuung der Reformationshistoriker Andrew Pettegree und Jacqueline Rose an der School of History der University of St Andrews (Schottland), brachte diese Studie H. nicht nur im Jahr 2017 die Doktorwürde, sondern zudem 2020 einen Platz auf der Shortlist des RefoRC Book Award ein. H. lehrt als Dozent für Geschichte und Theologie am Bethlehem College & Seminary in Minneapolis, wobei sein Forschungsinteresse auf der englischen Reformationsgeschichte mit Fokus auf deren Frömmigkeit, politischen Erscheinungen in Form von Protest und Aufruhr sowie Verbindung zur Commonwealth-Rhetorik liegt.
Jene thematischen Forschungsschwerpunkte bilden in chronologischer Orientierung am Lebenslauf Thomas Becons die Gliederung der vorliegenden Fallstudie. Ein solches Vorgehen wirft beim Rezensenten und Leser sogleich die Frage auf, inwiefern der Exemplarität des Falles Becon Allgemeingültigkeit für die Gesamtheit der englischen Protestanten (H. spricht in Bezug auf deren Selbstbezeichnung konsequent von »Evangelicals«) zukommt. H. erliegt jedoch nicht der Versuchung, Becon als den mustergültigen eng-lischen Protestanten darzustellen. Ganz im Gegenteil ist es seine Absicht, anhand dessen Lebensgeschichte und Wandlungen die Diversität der englischen Reformationsbewegung zu verdeutlichen.
Entsprechend konsequent betont H., dass Becon von der bisherigen Forschung nicht nur sträflich vernachlässigt, sondern zudem eindimensional als randständiger Polemiker ohne Entwicklungslinien oder Brüche und als verlässlicher Lieferant für griffige Zitate abgestempelt worden sei (11–24). Tatsächlich liegt die letzte um­fänglichere Abhandlung zu Becon gut 70 Jahre zurück (Derrick Sherwin Bailey, Thomas Becon and the reformation of the Church in England, Edinburgh 1952). Das Anliegen H.s, eine Neubewertung der Schriften und Lebensgeschichte Becons vorzunehmen, leuchtet also ebenso ein wie das, ihm im direkten Vergleich mit anderen namhaften englischen Protestanten wie Becons Lehrer Hugh Latimer, aber auch Thomas Cramner und Robert Crowley ein eigenständiges Profil zu verschaffen. H. gelingt dies auch für in der englischen Reformationsgeschichte weniger bewanderte Leser gut nachvollziehbar, da eingangs der einzelnen Kapitel die jeweiligen thematischen Fragestellungen knapp im Kontext der Lebensgeschichte Becons wie der umfassenden englischen Reformationsgeschichte verortet werden.
Das Resultat ist erfreulicherweise kein unübersichtlicher Wälzer, sondern jene Studie, die abzüglich des Literaturverzeichnisses, des Registers und der tabellarischen Anhänge zu den Schriften Becons gerade einmal 211 Seiten umfasst. Die Gefahr, Wesentliches der englischen Reformation unausgesprochen vorauszusetzen, umschifft H. durch die Fokussierung auf die zentrale Leitfrage, wie die englischen Protestanten den Begriff »Commonwealth« verstanden, wie sie sich selbst in Beziehung zu diesem sahen und welchen Beitrag sie für seine Gestaltung leisteten (11.24). So stößt es auch weniger auf, dass H. in der Einleitung zwar eine Definition der »Evangelicals« bietet (12), aber keine des Begriffs »Commonwealth«, den deutschsprachige Leser getrost mit »Gemeinwesen« übersetzen dürfen, nicht jedoch mit den in der späteren Geschichte Englands auftretenden Staatsformen und -verbindungen gleichsetzen sollten. H. geht es schlussendlich darum herauszustellen, dass die bisherige Forschung zum frühneuzeitlichen England die Relevanz der Protestanten für die Prägung des Commonwealth unterschätzt hat. Von dieser Leitfrage ausgehend, leuchtet es ein, dass die vorliegende Studie keine rein theologiegeschichtliche ist, sondern sich Methoden der Sozialgeschichte bedient und sich auf die enge Über schneidung von Religion und Politik im englischen Commonwealth beruft (13).
Nach der Erörterung seiner Methodik, Schwerpunktsetzung und Leitfrage in der Einleitung (11–24) wendet sich H. vier Phasen des theologischen Wirkens Thomas Becons zu, die er den Regierungszeiten der vier Tudors Henry VIII. (Kapitel 1–2), Edward VI. (Kapitel 3–5), Maria I. (Kapitel 6) und Elisabeth I. (Kapitel 7) zuordnet. H. kann diese Überschneidung dem Leser einleuchtend an­hand der umfänglichen schriftstellerischen Produktivität Becons in den jeweiligen Phasen verdeutlichen, die lediglich während eines inländischen Exils in den ruralen Midlands zwischen 1543 und 1547 zum Erliegen kommt (Kapitel 2). Der Rezensent greift diesen Sonderfall auf, um das Hauptproblem H.s im Rahmen seiner Fallstudie aufzuzeigen: Als nahezu einzige Quellen über Becon finden sich Becons eigene Schriften. In Ermangelung externer Quellen muss H. in diesem spezifischen Fall des schriftstellerischen Schweigens zudem auf Selbstzeugnisse Becons zurückgreifen, die verklärend und rechtfertigend aus der Retrospektive auf jene Zwischenphase blicken. Das ist an sich eine Ausgangslage, mit der Historiker nicht selten zu schaffen haben, die aber im Falle Becons besonders schwer wiegt. H. gesteht bei allem Bemühen um eine gerechte Neubewertung Becons ein, dass dessen Selbstzeugnissen nicht immer zu trauen ist (74 f.). So bleibt auch die eingangs des Kapitels formulierte Frage, warum Becon keine Schriften in jener Zeit verfasst hat, bei der selbsterklärenden Vermutung stehen, dass er eben nicht auffliegen und erneut festgenommen werden wollte.
Anhand der vor diesem literarischen Schweigen entstandenen Schriften beobachtet H., dass für Becon der fromme protestantische Haushalt die Keimzelle für ein Gemeinwesen bilde, das von moralischer Ordnung, Tugendhaftigkeit und Armenfürsorge geprägt und durch die Verantwortung jedes einzelnen Subjekts getragen sein sollte. Insbesondere in seiner als Dialog abgefassten Schrift A christmas bankette verdeutlicht Becon den protestantischen Haushalt als Mikrokosmos des Commonwealth, von dem aus die gesamte englische Gesellschaft in einen »godly common weale« verwandelt werden könnte (39–47). Die späteren Zeugnisse über die Zeit des Schweigens in den Jahren 1543–47 lassen H. vermuten, dass Becon im ruralen England eine spirituell verarmte Bevölkerung und theologisch ungebildete Priesterschaft erlebt hatte, was zur Weiterentwicklung seiner Vorstellung eines »christen common weale« ge­führt habe (88), die erst in seiner zweiten Schaffensphase unter König Edward (Regentschaft von 1547–53) zur vollen Frucht gekommen sei. Die Protestanten im Allgemeinen wie Becon im Speziellen bewegten sich in dieser von Unruhe und Epidemie geplagten Phase zwischen 1547 und 1553 mit ihrer aufrührerischen bis rebellischen Sprache und ihrer Berufung auf das alttestamentliche Amt des Hofpropheten auf dem schmalen Grat zwischen Gehorsam und Ungehorsam (89–123.149–165). Gerade die vehemente Einforderung der Armenfürsorge und die Kritik an der Ausbeutung der Armen durch die Eliten bildeten hierfür eine zentrale Weggabelung, an der sich die politischen Unterschiede in der englischen Reformationsbewegung mit Blick auf das Gemeinwesen offen zeigten: Wo Becon beispielsweise die Armen in Schutz nahm und zugleich um Ausgleich und Mäßigung bemüht gewesen sei, artete bei Robert Crowley die einseitige Stellungnahme für die Armen in eine rebellische Polemik gegen die Eliten aus. H. vermag dies auch immer wieder eindrücklich anhand sprachlicher Analysen und Begriffsverwendungen zu verdeutlichen und damit sein Hauptargument der Diversität der reformatorischen Bewegung zu kräftigen.
Im Laufe seiner Fallstudie bietet H. zudem eine Reihe aufschlussreicher Exkurse, die von dieser zentralen Leitfrage nach dem Commonwealth abweichen, dafür aber Becon mehr Tiefe verschaffen und die Diversität des englischen Protestantismus im 16. Jh. verdeutlichen: So befasst sich H. insbesondere in Kapitel 4 mit der Rolle, welche die englischen Protestanten den Frauen zuordneten, und kommt u. a. zu der Feststellung, dass sie laut Becon besonders auf dem Feld der Armenfürsorge einen wichtigen Beitrag für das Gemeinwesen zu leisten vermochten. Letztlich sei die Sicht der englischen Protestanten auf die Frauen und das Geschlecht aber »multi-faceted« gewesen (144). In den Kapiteln 1 (47–53) und 6 (167–201) beschreibt H. den Wandel der Theologie Becons von einer strengen Orientierung an der lutherischen Rechtfertigungslehre hin zu einer zunehmend reformiert geprägten Lehre, die sich insbesondere in seiner Kritik am Verständnis des Abendmahls und der katechetischen Erziehung der Jugend ausdrückte. Auch hiermit möchte H. erneut die Vielfältigkeit und Meinungsverschiedenheite n der englischen Protestanten verdeutlichen. Wie es jedoch zu den starken Wandlungen in der theologischen Lehre Becons kommt, kann H. erneut nur vermuten: Becon sei auch theologisch »politically motivated« (183) gewesen.
Dass auch Becons Verständnis des Commonwealth von H. schlussendlich als »in large part dictated by the political, religious, social and geografical context« (219) charakterisiert wird, ist ebenso zutreffend wie banal. Letzteres nimmt jedoch nichts von der Qualität dieser Fallstudie, die – abseits kleinerer Redundanzen wie dem etwas zu häufigen Aufzeigen von Desideraten oder der Ermangelung patristischer Belege, wo diese eigentlich ebenso geboten gewesen wären wie bei den Verweisen auf die kontinentalen Reformatoren – nicht allein die Eigenständigkeit Becons und die Diversität der englischen Reformationsbewegung verdeutlicht, sondern im­mer wieder auch zum Weiterdenken anregt. Gerade in gegenwärtigen Zeiten, in denen die Frage nach der Rolle des Christentums für das durch politische Polarisierung und Pandemie gefährdete Gemeinwesen neu gestellt werden muss, lassen H.s Erörterungen zum Verhältnis Becons und weiterer englischer Protestanten zu politischem Protest, Aufruhr, Gehorsam und Ungehorsam aufhorchen.