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Ausgabe:

Mai/2021

Spalte:

420–422

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Smith, David A.

Titel/Untertitel:

The Epistles for All Christians. Epistolary Literature, Circulation, and The Gospels for All Christians.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2020. X, 172 S. = Biblical Interpretation Series, 186. Geb. EUR 95,00. ISBN 9789004440203.

Rezensent:

Jan Heilmann

Bei David A. Smiths »The Epistles for All Christians« handelt es sich um die publizierte Fassung einer von Chris Keith betreuten Dissertationsschrift, die 2017 an der St. Mary’s University Twickenham angenommen worden ist.
Wie der Titel anklingen lässt, knüpft die Arbeit an die Diskus-sion um Richard Bauckhams »The Gospels for All Christians: Re-thinking the Gospel Audiences« (1998) an. In eben diesem hinterfragt Bauckham die Verknüpfung der Evangelien mit je spezifischen und distinkten Gemeinden und stellt die These auf, dass die Evangelien für ein breiteres christliches Publikum geschrieben worden sind. S. konstatiert nun, dass bei Bauckham selbst und auch in der Debatte um »The Gospels for All Christians« die Briefliteratur des Neuen Testaments zu wenig berücksichtigt wird bzw. lediglich als Negativfolie dient (und zwar im Sinne von: »Die Evangelien sind keine Briefe und adressieren daher keine spezifische Gemeinde.«) Demgegenüber möchte S. darlegen, dass auch die Briefe des Neuen Testaments und im frühen Christentum nicht nur an spezifische Gemeinden gerichtet sind. Vielmehr seien sie in der Erwartung geschrieben worden, von einem die Einzelgemeinden transzendierenden Rezipientenkreis gelesen zu werden, wodurch sich ein zusätzliches Argument für die These Bauckhams ergebe.
Um zu zeigen, dass die Briefautoren erwarteten, »that their texts would circulate to multiple locales« (4), untersucht S. in Kapitel 2 die Adressatenangaben von Kol, 2Kor, Gal sowie Eph und diskutiert die These von »Nebenadressaten« des Röm und Phil. Daraus schließt er, dass die Paulusbriefe sich an einen größeren Adressatenkreis richteten als nur an eine isolierte Einzelgemeinde. Die katholischen Briefe und das Aposteldekret in Act 15 ordnet er dem Konzept des Diasporabriefs zu, das ebenfalls einen größeren Adressatenkreis impliziere. In Kapitel 3 unterfüttert S. seine These, indem er maßgeblich Belege aus den Katholischen Vätern anführt, welche die Zirkulation von Briefen explizit beschreiben oder voraussetzen. Zusätzlich verweist er auf die bei Marcion, in den Acta Martyrum Scillitanorum und den neutestamentliche Handschriften bezeugten Briefsammlungen, die ebenfalls Zirkulation von Briefen belegten. Kapitel 4 dient dazu, seine These vor dem Hintergrund der Theorie sozialer Netzwerke zu fundieren. Er verdeutlicht anhand der aus den Quellen erschließbaren Beziehungen von Personen (in den Paulusbriefen, im divers zu verstehenden Judenchristentum, in den johanneischen Schriften, den Ignatianen und bei Polykarp), dass das frühe Christentum aus eng verknüpften, überregionalen und transethnischen sozialen Netzwerken be­stand, in welchen nicht nur die Briefe, sondern auch die Evangelien zirkulieren konnten.
Die Arbeit zeichnet sich durch einen gut lesbaren Stil und eine übersichtliche und komprimierte Darstellung jener Belege aus, die dafür sprechen, dass die Verfasser der frühchristlichen Briefliteratur ihre Texte, auch wenn sie zunächst lokale Gemeinden adressierten, größtenteils mit Blick auf ein breiteres Zielpublikum konzipierten. Diese These hat S. überzeugend dargelegt. Dass dies auch Implikationen für die Evangelienliteratur hat, liegt auf der Hand. An zahlreichen Stellen bleibt die Studie – sicher auch der Kürze der Darstellung geschuldet – jedoch eher an der Oberfläche und verharrt im summarischen Zusammentragen von Belegen. Inwiefern dem Rezensenten die analytisch-differenzierte Tiefenschärfe fehlt, ist an den folgenden zwei Aspekten zu verdeutlichen: 1. S. deutet das Problem pseudepigrapher Texte zwar im Hinblick auf den Kol an, geht dann aber davon aus, dass es für seine Fragestellung keine Relevanz hat. Hier ist kritisch zu fragen, ob nicht in analytischer Hinsicht stärker zwischen den dokumentarischen Briefen einerseits und den (womöglich für Briefsammlungen) redaktionell überarbeiteten Briefen und vor allem den pseudepigraphen Briefen andererseits unterschieden werden müsste. Schließlich gilt es gerade bei Letzteren in Rechnung zu stellen, dass auch die genannten Adressaten Teil einer fingierten Kommunikationssituation und damit der Plausibilisierungsstrategie des pseudepigraphen Schreibens sein können. Oder kürzer: Zirkulierten alle pseudepigraphen Briefe des Neuen Testaments als Einzelhandschriften? 2. Die Arbeit verharrt im exegetischen Binnendiskurs, nicht-christliche Quellen werden nur äußerst selektiv zur Illustration angeführt, der altertumswissenschaftliche Forschungsdiskurs wird nur sporadisch rezipiert, so dass z. B. die zentralen Kategorien »Zirkulation« und »Publikation« unterbestimmt bleiben. Von Relevanz wäre hier vor allem die Diskussion um Briefsammlungen und den antiken Buchmarkt gewesen.
Der Rezensent vermisst ein Quellenverzeichnis, das Stellenverzeichnis ist dagegen sehr hilfreich. Alle Kritik soll jedoch nicht das positiv stark hervorzuhebende Potential der Arbeit in Abrede stellen, die Diskussion um die Frage nach den ursprünglich anvisierten Rezeptionskontexten der neutestamentlichen Schriften in einem engeren Sinne sowie das Bild der literarischen Kultur des frühen Christentums in einem weiteren Sinne zu befördern.