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Ausgabe:

Mai/2021

Spalte:

409–411

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Wenz, Armin

Titel/Untertitel:

Philologia Sacra und Auslegung der Heiligen Schrift. Studien zum Werk des lutherischen Barocktheologen Salomon Glassius (1593–1656).

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2020. XV, 892 S. m. 10 Abb. = Historia Hermeneutica. Series Studia, 20. Geb. EUR 149,95. ISBN 9783110649482.

Rezensent:

Berthold Schwarz

Der SELK-Pfarrer und Lehrbeauftragte für Systematische Theologie an der Lutherisch-Theologischen Hochschule in Oberursel, Armin Wenz, legt mit dieser umfassenden, sorgfältig und beinahe minutiös erarbeiteten Forschungsarbeit zur biblischen Philologie und Schriftauslegung des Jenaer Hebraisten und Sachsen-Gothaer Superintendenten Salomon Glassius (1593–1656) ein fulminantes Opus Magnum vor, das seinesgleichen sucht. Erfreulich ist diese Forschungsleistung auch deshalb, weil die teilweise ungerechtfertigte Vernachlässigung (oder Abwertung?) lutherisch-orthodoxer Theologiemodelle innerhalb der zeitgenössischen Systematischen Theologie durch diese Untersuchung ein Beispiel vorgelegt be­kommt, das die Anschlussfähigkeit dieser Modelle zu aktuellen hermeneutischen Debatten plausibilisiert oder das zumindest auf die dogmatisch relevanten Perspektiven dieser bedeutsamen theologiegeschichtlichen Epoche im Barock erneut aufmerksam macht. Diese unbedingt ernst zu nehmende Anschlussfähigkeit liegt insbesondere in der noch präkantianischen Hermeneutik (vgl. 816–824), Exegese und Homiletik bei Glassius und den sich eben daraus ergebenden Denkanstößen für die zeitgenössische, sozusagen postkantianische Hermeneutikdebatte samt den hermeneutischen Er­kenntnissen seit dem Beginn des 19. Jh.s. Zugleich eröffnet Glas-sius mit seiner »Philologia Sacra« Zugänge für die homiletische Arbeit und die Predigtvorbereitung hinsichtlich alttestamentlicher Texte für die christliche Verkündigung.
W. gliedert seine fast 900 Seiten starke Untersuchung in acht Hauptkapitel, plus Literatur-, Abbildungs-, Namen- und Bibelstellenverzeichnissen (837–892). Der umfangreiche und qualitativ ausgezeichnete Fußnotenapparat liefert eine Fundgrube an wertvollen Einsichten und Forschungsergebnissen, die den Haupttext gelungen unterstützen und weiterführen, akademisch reflektierte Anmerkungen historischer, hermeneutischer und theologischer Art, die das Studiervergnügen des Werkes noch zusätzlich zu erhöhen vermögen.
Die Logik der Kapitelfolge leuchtet konzeptionell weitgehend ein. W. beginnt die Untersuchung einleitend mit einer Entfaltung des Lebens und Werkes von Salomon Glassius (1–44). Bereits dort werden die Grundlagen zur Schriftlehre und Hermeneutik historisch verankert und biographisch pointiert herausgestellt und vorgezeichnet für die dann inhaltliche Auseinandersetzung mit den philologischen, theologischen und hermeneutischen Thesen, die Glassius in seinen Werken postulierte. Kapitel 2 erläutert – wie W. es nennt – den »erbauungstheologischen Prolog« der »figürlichen Schriftauslegung«, die Glassius ausdrücklich und philologisch be­gründet vertritt, methodisch mit »Theologie als ›heiliger Philologie‹« umschrieben (45–75). Die Kapitel 3 bis 6 entfalten nun akribisch an den Quellen entlang das Besondere und Eigene des Schriftverständnisses, der »dogmatischen Philologie«, der Hermeneutik und der Schriftauslegung, wie sie bei Glassius vorzufinden ist (77–406), um schließlich auf nicht mehr untergliederten 371 Seiten die homiletisch-polemische Anwendung ( applicatio) der zuvor dargelegten Schriftlehre und Hermeneutik vorzutragen (407–778). Kapitel 8 bündelt den Forschungsertrag der Untersuchung unter der sachgerecht formulierten Überschrift »Die kanonisch-sakramentale Hermeneutik – Zusammenfassung und Ausblick« (779–835), das damit nachdenkenswerte Überlegungen für die aktuelle Debatte in Theologie und Kirche zu liefern vermag – abgeleitet und reflektiert erörtert an den Vorgaben des Glassius, die nach W. hinsichtlich der Schriftauslegung und Hermeneutik innovative Horizonte eröffnen können.
Wie nun lässt sich der Ertrag dieser erfreulichen Forschungs-leistung komprimiert und wegweisend darstellen? Welche überlegenswerten »Vorbilder« hat W. im Werk dieses lutherisch-orthodoxen Barocktheologen aus dem 17. Jh. wahrgenommen – neben der theologiegeschichtlich bedeutsamen Relevanz des Untersuchungsgegenstands, verortet in den Thesen der Werke von Salomon Glassius –, die es aktuell in der hermeneutischen Diskussion lohnenswert erscheinen lassen, dass sie (wieder-)entdeckt oder sie zumindest als plausible Lösungsvorschläge konstruktiv-kritisch reflektiert und erörtert werden könnten?
Ohne Vollständigkeit zu beabsichtigen, sollen einige bemerkenswerte Erkenntnisse dieser Monographie hervorgehoben werden.
a) Es kann mit Glassius, wie W. ihn darstellt, als eine durchaus hermeneutische Bereicherung gelten, voraufklärerische Prinzipien der Bibelhermeneutik wieder ernster zu nehmen bzw. sie wiederzuentdecken, wie beispielsweise die »narrative Dimension der Bibel mit ihrem Wirklichkeitsgehalt« (779; vgl. »figürliche Schriftauslegung« bzw. poetische oder metaphorische Aspekte biblischer Er­zählungen etc., insbesondere entfaltet in Kapitel 3 bis 5 u. ö.). Dabei werden die klassisch christologischen Perspektiven zugleich wert geschätzt, dass eben die Schriften im reformatorischen sola scriptura stets Christus predigen (sola scriptura unauflösbar gebunden an das solus Christus) und dass sie den sich in der kanonischen Bibel selbst predigenden Christus herausstellen, der beide Aspekte in sich verbindet (780 f.; vgl. Kapitel 6). In dieser Wertschätzung der Glaßschen Hermeneutik zieht W. die Einsichten des ehemaligen Berliner Systematischen Theologen Johannes Wirsching (1929–2004) heran, an dessen Deutungen und Grundsätze sich W. immer wieder bewusst und absichtlich anlehnt (vgl. z. B. J. Wirsching, Kanon als Christuserfahrung [1981] u. ö.), wie sowieso die gesamte Monographie dem Andenken Wirschings gewidmet ist (V). Die Schrift diene – mit Glassius gesprochen – »dem realiter und ubiquitär in ihr gegenwärtigen und durch sie wirkenden Christus« (783) und sei dementsprechend in Luthers Nachfolge als Vertreter einer »realistischen Schriftauslegung« (783) einzuordnen.
b) Dass W. bei Glassius auch dessen sogenannte »kanon-sakramentale Hermeneutik« hochhält, ist aus dem Zuvorgesagten leicht abzuleiten, bleibt man im lutherischen Denkraum der Dogmatik (788 f.799; vgl. auch Kapitel 7). Die Schrift als Resultat und Dokumentensammlung eines innertrinitarischen Gesprächs, »das sich in der kanonischen Vielstimmigkeit ihrer menschlichen Autoren« abbildet, inklusive »schriftinterner Dialogizität ihrer Stimmen« für Glaube und Kirche (786), will durch das Evangelium Christi in seinen »verhüllenden Formen, Schatten und Figuren zum Schutz des Menschen« […] »heilsstiftend« den Glauben (pädagogisch) unterstützen, auch durch die Anfechtung ( tentatio, theologia crucis etc.) hindurch (787; vgl. Kapitel 7). Die Schrift entfaltet demnach ein heilsgeschichtliches Drama (auch in Narrativen), von der Protologie (Schöpfung und Sündenfall) über die Dramen der Geschichte zur teleologisch ausgerichteten eschatologischen Wiederherstellung im Sinne des ewigen Heils. Auch wird dadurch die Bibel als ein sakramentales Medium »göttlicher Selbstverpflichtung und Heilszueignung« (788) erkannt und entsprechend wirksam. Die Schriftauslegung ist von daher nachvollziehbar abgeleitet auch stets in den Kontext der Seelsorge als Auftrag des Predigtamtes im konfessions-lutherischen Verständnis einzuordnen.
c) W. will mit der Darstellung der vorkantianischen Hermeneutik des Glassius keinesfalls der aktuell praktizierten wissenschaftlichen und methodisch reflektierten Schriftauslegung ihre Be-rechtigung absprechen (824 ff. u. ö.). Mit Oswald Bayer u. a. will er vielmehr hervorheben, dass zu dieser exegetisch-methodischen Kom­petenz »die christologische Kompetenz und die pneumatologische Performanz der Schrift« hinzutreten sollten (824). Als Beispiele, wie beides sachgerecht praktiziert werden und gelingen könne, werden Martin Hengels oder Simon Gerbers Schriftauslegungen neben weiteren herangezogen und exemplifiziert (825–833 u. ö.).
Diese umfangreiche Untersuchung bietet der Leserin, dem Leser noch viele weitere Denkräume an, mit denen man gut und gerne seine eigenen hermeneutischen, schrifttheologischen, exegetischen und homiletischen Ansichten konstruktiv bereichern lernen kann. Die gut lesbare Studie zeigt gelungen und gut begründet an, wie ein Barocktheologe, wie Salomon Glassius, »über die theologische Distanz hinweg kontextualisierbar ist« (833) und gerade in einer mitunter einseitig nachaufklärerisch geprägten Theologie der Gegenwart nachdenkenswerte und gewinnbringende Einsich ten zur Bibel, Schriftauslegung und Schriftanwendung bietet, sowohl innerhalb der Kirche Jesu Christi, als auch im Rahmen der akademischen Theologie.