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Ausgabe:

Mai/2021

Spalte:

400–405

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

McDonald, Lee Martin

Titel/Untertitel:

The Formation of the Biblical Canon. 2 Vols.

Verlag:

London u. a.: Bloomsbury T & T Clark 2017. Vol. 1: The Old Testament. Its Authority and Canonicitiy. XL, 539 S. PDF eBook. £ 108,32. ISBN 9780567668776. Vol. 2: The New Testament. Its Authority and Canonicity. VII, 450 S. PDF eBook. £ 108,32. ISBN 9780567668851.

Rezensent:

Jens Schröter

Die umfangreiche zweibändige Darstellung der Geschichte des biblischen Kanons von Lee Martin McDonald, President Emeritus and Professor of New Testament at Acadia Divinity College, Canada, ist die reife Frucht jahrzehntelanger Beschäftigung des Vf.s mit dem Thema. Der Vf. hat zahlreiche Publikationen zur Entstehung des biblischen Kanons vorgelegt, darunter »Formation of the Bible. The Story of the Church’s Canon« (178 S., 2012), die zugleich als kurzgefasste Darstellung des hier zu besprechenden Werkes gelesen wer-den kann. Der Vf. ist zudem, gemeinsam mit James A. Sanders, der auch einen Exkurs zur hier vorgelegten Publikation beigesteuert hat (»The ›First‹ or ›Old‹ Testament: What To Call The First Christian Testament?«, Band 1, 36–38), Herausgeber des einschlägigen Sam-melbandes »The Canon Debate« (2002), der viele wichtige Beiträge zur Entstehung der jüdischen und der christlichen Bibel versammelt.
Bei dem hier vorgelegten Werk handelt es sich um eine wesentlich veränderte und erweiterte Auflage einer bereits zuvor unter verschiedenen Titeln in drei Auflagen (1988, 1995, 2006) erschienenen Publikation. Darauf bezieht sich auch das »Foreword to the Fourth Edi-tion« von James H. Charlesworth. Dieses sowie das ebenfalls ab-gedruckte Vorwort zur ersten Auflage von Helmut Koester, der während der Vorbereitung der vorliegenden Ausgabe verstarb, führen in die Thematik der Entstehung des biblischen Kanons anhand verschiedener Fragenkreise ein, wie etwa: offene Fragen zum alt-testamentlichen Kanon, verschiedene Kanonverständnisse in den christlichen Konfessionen sowie die anhand der nicht-kanonischen Schriften deutlich werdenden offenen Ränder des biblischen Kanons. Der Vf. selbst begründet in seinem eigenen Vorwort die Neuausgabe mit den zahlreichen Publikationen zum Thema, die einen gegenüber den früheren Auflagen neuen Diskussionsstand im Blick auf die Entstehung der Hebräischen Bibel, die Datierung des Muratorischen Fragments, die Rolle Markions bei der Entstehung des Neuen Testaments, die Bedeutung der Texte vom Toten Meer sowie der Kirchenväter für die Entstehung der jüdischen und der christlichen Bibel markierten. Die vorliegende Ausgabe sei deshalb »not simply a correction of a few items or an updating, but an almost complete re-write« (XXXIII).
Die Darstellung gliedert sich in einen kürzeren »Part 1: Introductions and Definitions« (Band 1, 3–117) sowie zwei Hauptteile: »The Formation of the Hebrew Bible and the Old Testament Canon« (Band 1, 119–539, einschließlich zweier Appendizes zu Anordnungen der jüdischen bzw. alttestamentlichen Bücher in antiken und mittelalterlichen Listen sowie in der jüdischen Bibel bzw. den verschiedenen christlichen Konfessionen der Gegenwart) und »The Formation of the New Testament Canon« (Band 2, ebenfalls mit Anhängen zu Listen mit neutestamentlichen Schriften in antiken Texten sowie in verschiedenen konfessionellen Traditionen). Beigegeben sind beiden Bänden zudem Stellen- und Autorenregister sowie eine »Select Bibliography« (Band 2, 370–422), die ungeachtet der ausdrücklichen Charakterisierung als »not complete« eine große Anzahl an Publikatio nen aufführt, allerdings, wie leider in englischsprachigen Publi-kationen inzwischen weithin üblich, bis auf wenige Ausnahmen ausschließlich englische.
In der Einleitung werden einige grundsätzliche Fragen einer Ka­nongeschichte angesprochen: Die dreiteilige jüdische Bibel (He­bräi-sche Bibel oder Tanak) und das vierteilige christliche Alte Testament sind hinsichtlich ihrer Anordnung und des sich darin widerspiegelnden Verständnisses der entsprechenden Schriften (eine jüdische Bibel endet mit den Ketuvim, eine christliche mit den Propheten), ihrer Sprache (Christen verwendeten zumeist die Septuaginta) sowie ihres Umfangs (ein christliches Altes Testament enthielt in der Regel mehr Bücher als eine jüdische Bibel) zu unterscheiden; die Formierung der jüdischen und der christlichen Bibel waren lang andauernde Prozesse, in denen sich der jeweilige »kanonische« Schriftenbestand erst allmählich herausbildete; das antike Judentum und das antike Chris-tentum waren vielfältige Gemeinschaften, deren Auffassungen auch im Blick auf die verbindlichen Schriften differierten; die frühen Christen interpretierten die verbindlichen Schriften des Judentums christologisch, verwendeten dabei jedoch gängige Methoden jüdischer Schriftauslegung wie etwa den Midrasch; die Septuaginta spielte für die Entstehung einer verbindlichen Schriftensammlung eine wichtige Rolle; Texte im Umfeld der »kanonisch« gewordenen Schriften sind ebenso zu berücksichtigen wie verschiedene Überlieferungsformen der biblischen Texte; die Begriffe »Schrift«, »Schriften« bzw. »heilige Schriften« oder auch »Bücher« verweisen auf den autoritativen Status, den Texte und Textcorpora im antiken Judentum und antiken Christentum erlangten; die Bezeichnungen »Altes Tes­tament« und »Neues Testament« für die beiden Teile der christlichen Bibel standen nicht am Anfang, sondern entwickelten sich erst allmählich, wogegen zunächst die Vorstellung eines alten und eines neuen Bundes leitend war (der griechische Begriff ist derselbe: διαθήκη, diathêke). Zum Begriff »Kanon« finden sich instruktive Ausführungen zu Verwendungsweisen in der griechischen und römischen Literatur, die dem Vf. zufolge den Kontext für das Verständnis »kanonischer« Schriften im Judentum und Christentum bildeten.
In diesem Zusammenhang führt der Vf. die Unterscheidung von »Canon 1 and Canon 2« ein (99–108). Mit diesen von Gerald Sheppard übernommenen Kategorien soll zwischen Texten bzw. mündlichen Traditionen, die autoritative Geltung erlangten, einerseits, der definitiven Abgrenzung einer Schriftensammlung andererseits, differenziert werden. Allerdings sind die Belege für den Kanon-Begriff in Bezug auf Schriften in der antiken christlichen Literatur gering, wie der Vf. selbst einräumt. Im Judentum spielt der Begriff ohnehin keine Rolle, die Formulierung »Jewish Notions of Canon« (108) ist deshalb missverständlich. Dass der Begriff im Christentum zuerst für die Glaubensregel (als κανὼν πίστεως bzw. κανὼν ἐκκλησισασ-τικός) verwendet und von dorther auch auf Schriften übertragen wurde, wird vom Vf. dagegen zu wenig gewichtet (vgl. 94–97, wo die entsprechenden Belege lediglich aufgezählt, aber nicht interpretiert werden). Inwiefern die Kategorie »Kanon« bzw. »kanonisch« geeignet ist, Autorisierungsprozesse von Schriften im antiken Judentum und antiken Christentum zu erfassen, wäre deshalb noch einmal zu diskutieren. Schließlich wird darauf verwiesen, dass der biblische Kanon Ausdruck des Lebens des Volkes Israel bzw. des Christentums ist und dementsprechend in verschiedenen historischen Kontexten in je eigener Weise zur Geltung kommt. Das gilt sowohl im Blick auf die Formierungsprozesse der verbindlichen Schriften als auch für ihre Verwendung in späteren historischen Situationen.
Der Teil zur Entstehung der Hebräischen Bibel bzw. des Alten Testaments (Kapitel 4 bis 13) befasst sich mit den Entwicklungen, die zur Herausbildung eines dreiteiligen jüdischen Kanons und des eigenen Zugangs der frühen Christen zu diesen Schriften geführt haben. Diskutiert werden einschlägige Zeugnisse wie der Sirachprolog und 4QMMT, die Bedeutung des griechischen Verständnisses von »Kanon« sowie die Rolle der Septuaginta bei der Entstehung eines Corpus autoritativer jüdischer Schriften. Der dreiteilige Aufbau der Hebräischen Bibel sei eine vergleichsweise späte Entwicklung (Mitte bis Ende des 2. Jh.s n. Chr.), die weder für den griechischen Sirachprolog noch für 4QMMT und Lk 24,44, wo das Gesetz des Mose, die Propheten und Psalmen aufgezählt werden, vorauszusetzen sei. Das frühe Christentum habe vielmehr die Zweiteilung »Gesetz und Propheten« aufgenommen und in eigener Weise weiterentwickelt.
In weiteren Kapiteln geht der Vf. dem Verständnis autoritativer biblischer Schriften im Judentum des Zweiten Tempels nach: die Bedeutung der Texte vom Toten Meer für die Entstehung der Hebräischen Bibel, insbesondere im Blick auf die in der Qumrangemeinschaft als »biblisch« betrachteten Texte (»The scriptures of Qumran are not equal to the biblical canon of later rabbinic Judaism or any Christian OT canon«, 239); die biblischen Bücher in der Sicht der Sadduzäer und der Pharisäer; die samaritanische Bibel. Damit soll der Einsicht Rechnung getragen werden, dass die verschiedenen Ausprägungen des Judentums zur Zeit des Zweiten Tempels je eigene Perspektiven auf die verbindlichen Schriften und ihren Gebrauch hervorgebracht haben. In dieses Spektrum wird auch das frühe Christentum eingezeichnet. Lk 24,44 wird dabei als »an early stage of the later three-part biblical canon that had not yet developed« (278) beurteilt – und auch dies bleibe unsicher, da sich die Stelle auch als Modifikation der Bezeichnung »Gesetz und Propheten« auffassen lasse (wobei die Psalmen zu den prophetischen Schriften gerechnet wären).
Ein eigener Teil ist dem griechischen Einfluss auf die Formierung der Hebräischen (besser wäre: jüdischen) Bibel gewidmet (Greek Influence and the Formation of the Hebrew Bible, 190–231). Die Septuaginta wird in die historischen Entwicklungen der Hellenisierung des Judentums eingezeichnet und in den Kontext alexandrinischer Gelehrsamkeit, insbesondere der Sammlung als maßgeblich be­trachteter Werke griechischer Autoren in der berühmten Bibliothek, gestellt, im Blick auf ihre Bedeutung für das frühe Christentum betrachtet und zum hebräischen Text der Bibel ins Verhältnis gesetzt. Griechischer Einfluss sei nicht zuletzt daran erkennbar, dass die Kenntnis Homers im Diasporajudentum zu einer Aufteilung der Bibel in 24 Bücher geführt habe, in Entsprechung zu den 24 Buchstaben des griechischen Alphabets, die der Einteilung der Ilias und der Odyssee in je 24 Gesänge zugrundeliegt. Davon sei dann die Tradition von 22 biblischen Büchern, die dem hebräischen Alphabet entspricht, abgeleitet worden.
Ein weiteres Kapitel befasst sich mit der Rolle der biblischen Schriften bei Jesus und im frühen Christentum. Sowohl in den Evangelien als auch in anderen Schriften des Neuen Testaments und der Apostolischen Väter begegnen überwiegend Zitate aus den späteren »kanonischen«, gelegentlich allerdings auch Bezüge zu nicht-kanonischen Schriften (vgl. die umfängliche Liste von Analogien zwischen der Henochliteratur und den Evangelien, 303–305). Das bedeute nicht, dass Letztere den Status »heiliger Schriften« besessen hätten, weise aber darauf hin, dass die Sammlungen verbindlicher Schriften im 1. Jh. durchlässig waren. Der Durchgang durch Zeugnisse der Kirchenväter bzw. Kanonverzeichnisse zeigt, dass auch hier Schriften, die nicht zum Kanon der 22 bzw. 24 Bücher gehören, wie etwa die Weisheit Salomos, 1. und 2. Makkabäer oder der Brief Jeremias, zu den verbindlichen Büchern des Alten Testaments gerechnet werden konnten. Dabei lassen sich lokale Unterschiede feststellen, die anzeigen, dass sich der alttestamentliche Kanon in den verschiedenen Regionen des antiken Christentums in unterschiedlicher Weise entwickelte.
Die verbleibenden Kapitel des ersten Teils betrachten diejenigen Zeugnisse, die einen entstehenden biblischen Kanon jüdischer Schriften erkennen lassen: die Nennung von 22 Büchern bei Josephus bzw. 24 Büchern in 4. Esra 14 sowie weitere Zeugnisse für die Tradition von 22 oder 24 Büchern der Hebräischen Bibel bzw. des Alten Testaments. Dass eine angebliche »Synode von Jamnia« den Kanon der Hebräischen Bibel beschlossen habe, wird mit der Mehrheit der Forschung als widerlegter »Mythos« zurückgewiesen. Auszugehen sei vielmehr von einem längeren Prozess, in dem neben die bereits existierenden Sammlungen von Tora und Propheten eine dritte Gruppe der »Schriften« getreten sei.
In einem weiteren Kapitel werden schließlich Artefakte besprochen, die zur Entstehung eines fest umrissenen Kanons jüdischer Schriften beitrugen (Chapter 12: Ancient Artifacts and the Stabilization of the Jewish Scriptures). Dabei handelt es sich zum einen um Manuskripte wie die Texte vom Toten Meer, den Papyrus Nash, die Fragmente aus der Kairoer Geniza, aber auch den Codex Leningradensis, die Codices Erfordenses sowie Hinweise auf verlorene Manuskripte (es geht also nicht nur um »ancient artifacts«). Hingewiesen wird des Weiteren auf antike christliche Bibelmanuskripte, die masoretische Texttradition sowie Übersetzungen des hebräischen Textes ins Griechische, Syrische, Koptische und einige weitere öst- liche Sprachen. Die Textüberlieferung zeige, dass auch nach der Abgrenzung des Umfangs der verbindlichen jüdischen Schriften die Textgestalt variabel blieb. Dies lässt sich sowohl anhand der Qumrantexte (etwa den sogenannten »Reworked Pentateuch«-Fragmenten) als auch an rabbinischen Diskursen über verschiedene Textformen zeigen.
Der letzte Abschnitt des ersten Bandes (The Formation of the Hebrew Bible and Old Testament: A Summary) fasst die Ergebnisse dieses Teils zusammen. Weder im Judentum des Zweiten Tempels noch im frühen Christentum sei das Bestreben erkennbar, einen fest umrissenen Kanon biblischer Schriften abzugrenzen. Tendenzen in eine solche Richtung lassen sich bei den Rabbinen sowie christlicherseits bei Melito von Sardes und Origenes erkennen, auch wenn daraus nicht auf einen zielgerichteten Prozess der Entstehung des jüdischen bzw. alttestamentlichen Kanons zu schließen sei. Tendenzen der Kanonwerdung ließen sich etwa an der Bezeichnung »Gesetz und Propheten« für die verbindlichen Schriften, an der Zitierung eines Buches als »Schrift«, an der Existenz mehrerer Manuskripte eines Buches, an der Übersetzung von Schriften oder Cor-pora in andere Sprachen oder an der Verwendung und allegorischen Interpretation eines Buches erkennen. Als weitere Kriterien ließen sich die Abfassungszeit einer Schrift, die Sprache (ein kanonisches Buch sollte in der Regel auf Hebräisch entstanden sein) sowie die Verwendbarkeit in späteren Situationen anführen.
Teil 3 (Band 2, Kapitel 14 bis 23) befasst sich mit dem Werden des neutestamentlichen Kanons. Die Schriften des späteren Neuen Testaments werden dabei zunächst als Ausdruck des Lebens und der Verkündigung der frühen Christen dargestellt. Das Wirken Jesu habe zur, zunächst mündlichen, Überlieferung und Sammlung seiner Worte und Taten und schließlich Entstehung der Evangelien geführt (Chapter 14: From Story to Scripture), die Verbreitung der christlichen Botschaft zur Entstehung der Briefe. Alle Schriften des Neuen Testaments und des frühen Christentums beziehen ihre Autorität von Jesus Christus, dem Herrn der Kirche, obwohl sie nicht als »kanonische Schriften« verfasst wurden und zunächst auch nicht denselben Status hatten wie die verbindlichen jüdischen Schriften. D er Prozess der Kanonwerdung (Chapter 16: From Scripture to Canon) beginne im 2. Jh. mit der Verwendung schriftlicher und mündlicher Traditionen, die noch keine klare Abgrenzung kanonischer von nicht-kanonischen Texten und Überlieferungen erkennen ließen, sowie mit Äußerungen christlicher Theologen wie Justin und Irenäus. Eine wichtige Rolle in diesem Prozess habe zudem die Glaubensregel gespielt.
Es hätte nahegelegen, die Indizien für frühe Zusammenstellungen der Evangelien und der Paulusbriefe, die ja schon häufig dar-gestellt wurden, in diesem Prozess deutlicher zu gewichten. Die Darstellung befördert dagegen den Eindruck, die Entstehung des neutestamentlichen Kanons verdanke sich wesentlich äußeren Im­pulsen wie den Urteilen antiker christlicher Theologen und der Entstehung der Glaubensregel. Dagegen wären die Äußerungen frühchristlicher Autoren gemeinsam mit dem Befund zur Entstehung der Vier-Evangelien-Sammlung und der Paulusbriefsammlung und später der »Katholischen Briefe« sowie den Beobachtungen zur Verwendung von Schriften, die nicht ins Neue Testament gelangt sind, für eine kohärentere Präsentation des historischen Befundes förderlich gewesen. Diese Aspekte begegnen zwar verstreut in verschiedenen Kapiteln, mitunter werden sie auch etwas überraschend anhand der Auseinandersetzung mit ausgewählten Forschungspositionen (etwa derjenigen von David Trobisch zur Entstehung der Paulusbriefsammlung) eingeführt, ohne dass im­mer deutlich würde, warum gerade diese als repräsentativ gelten sollen, werden aber nicht in einen Zusammenhang gebracht. Einer stringenten Darstellung ist das nur in Grenzen förderlich.
Die Rolle Markions wird als »katalysierend« beschrieben (»In regard to canonical studies, Marcion undoubtedly was an important catalyst«, 150), wenngleich sie nicht als entscheidender Faktor bei der Entstehung des neutestamentlichen Kanons zu betrachten sei. Bei dieser sicher berechtigten und häufig anzutreffenden Kritik an der Position von Adolf von Harnack und Hans von Campenhausen wäre es wünschenswert gewesen, die neuere Diskussion über Markion (vor allem Judith Lieu, Marcion and the Making of a Heretic, 2015) zu berücksichtigen, die Markions Wirken auf neue Weise in den Kontext des Christentums des 2. Jh.s eingezeichnet hat. Auch die Abschnitte zu Gnosis und Montanismus sind sehr kurz und liefern kaum ein repräsentatives Bild der entsprechenden Schriften und Strömungen sowie ihrer Bedeutung für die Entstehung des neutes-tamentlichen Kanons.
Wie auch im Teil zum Alten Testament werden Manuskripte und Textüberlieferungen sowie die Frage nach dem »ursprünglichen Text« besprochen. Eine umfassende Berücksichtigung frühchrist-licher Manuskripte weise darauf hin, dass nicht nur die späteren »kanonischen« Texte, sondern auch Schriften wie der Hirt des Hermas, das Thomasevangelium oder die Akten des Petrus (vgl. die Liste auf S. 184) im frühen Christentum gelesen wurden. Ein ausführlicherer Teil ist zudem der neutestamentlichen Textkritik gewidmet, dessen Beitrag zum Thema der Entstehung des Neuen Testaments allerdings nicht recht deutlich wird. Gleiches gilt für die Verwendung von nomina sacra in frühchristlichen Manuskripten. Dagegen sind die Betrachtung der Verwendung des Codex im frühen Chris-tentum und der Blick auf Zusammenstellungen von Schriften in frühen Manuskripten (etwa von Evangelien oder Paulusbriefen) durchaus wichtig für die Frage, welche Texte von Christen bereits in früher Zeit gemeinsam gelesen wurden.
Ein ausführlicher Abschnitt (274–304) ist der Diskussion über das Muratorische Fragment gewidmet. Der Vf. diskutiert die Argumente für und wider eine Frühdatierung sehr breit und favorisiert selbst eine Entstehung in der zweiten Hälfte des 4. Jh.s, vermutlich im Osten. Der Teil wirkt etwas überdimensioniert, zumal die Konsequenzen im Blick auf die Entstehung des neutestamentlichen Ka­nons überschaubar bleiben. Zu fragen bliebe zudem, ob das Muratorianum tatsächlich als »closed collection of Christian Scriptures« (298) betrachtet werden sollte, was sowohl angesichts des fragmentarischen Charakters als auch seines Inhalts keineswegs zwingend ist.
Die Darstellung des Vf.s ist in beeindruckender Weise umfassend und basiert auf stupender Kenntnis der Quellen und der wissenschaftlichen Diskussion über die Kanonentstehung. Die Zusammenstellung von einschlägigen Belegen zur antiken Kanongeschichte macht das Werk zu einer Fundgrube für alle, die sich mit dem Thema befassen. Hervorzuheben ist auch die ausgewogene Darstellungsweise, die unterschiedliche Positionen zu Wort kommen lässt und Argumente fair nachzeichnet und gewichtet. Schließlich ist positiv zu vermerken, dass der Vf. in umfangreicher Weise Aspekte einbezieht, die das Werden der Bibel in die Geschichte des antiken Judentums und des antiken Christentums einzeichnen. Dazu gehören die Berücksichtigung der Bedeutung der Septuaginta und der Texte vom Toten Meer ebenso wie die Beachtung historischer Ent wicklungen im Judentum des Zweiten Tempels und im frühen Christentum und schließlich die Einbeziehung von Artefakten, insbesondere von antiken Manuskripten biblischer Texte.
Zuweilen geht diese weitgespannte Perspektive, die etwa bei der Überlieferungsgeschichte des hebräischen Bibeltextes und der neutestamentlichen Textkritik über das Thema der Formierung der Bibel hinausgeht, auf Kosten einer stringenten Präsentation, auch weil Argumentationslinien immer wieder durch längere Auseinandersetzungen mit Forschungspositionen unterbrochen werden. Mitunter zerfällt die Darstellung in Einzelteile, die zwar für sich interessant und lehrreich sind, jedoch nicht immer den Eindruck einer konzisen Aufbereitung der historischen Zusammenhänge hinterlassen. Insgesamt hätte eine Straffung, die die wesentlichen Linien hervorhebt und Diskussionen anderer Sichtweisen in Fußnoten oder Exkursen führt, die Lektüre des Werkes erleichtert. Fragen könnte man zudem, ob die Zweiteilung in die Entstehung des Alten und des Neuen Testaments, die durch die Aufgliederung auf zwei Bände zusätzlich befördert wird, im Blick auf das Werden der christlichen Bibel adäquat ist. Die neutestamentlichen Schriften erlangten ja nicht für sich, sondern immer gemeinsam mit den jüdischen, »alttestamentlichen« Schriften Autorität im antiken Christentum. Ungeachtet dieser und weiterer Kritikpunkte, die sich zu diversen Details anbringen ließen, ist das vom Vf. vorgelegte Werk ein Meilenstein in der Erforschung und Darstellung der Entstehung der Bibel.