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Ausgabe:

Mai/2021

Spalte:

395–397

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Massey, Preston T.

Titel/Untertitel:

Female Beauty and Male Attraction in Ancient Greece.

Verlag:

Newcastle upon Tyne u. a.: Cambridge Scholars Publishing 2020. XVIII, 401 S. Geb. £ 67,99. ISBN 9781527552098.

Rezensent:

Armin D. Baum

Der amerikanische Altphilologe und Bibelwissenschaftler Preston T. Massey, Adjunct Professor an der Indiana Wesleyan University, hat seit 2007 bereits mehrere ausgezeichnete Zeitschriftenaufsätze zum paulinischen Kopftuchkapitel in 1Kor 11 publiziert. Mit fast 15 Jahren Verspätung ist jetzt seine 2006 verteidigte Dissertation über die Deutung des weiblichen Haars und des weiblichen Kopftuchs in der antiken griechischen Literatur erschienen. Beide Themen verfolgt M. über einen 1000 Jahre umfassenden Zeitraum von der archaischen Zeit ab 800 v. Chr. bis ins 2. Jh. n. Chr.
M.s Untersuchung gehört zur sogenannten Frauenforschung, die in den Altertumswissenschaften seit den 60er Jahren des 20. Jh.s ein rasantes Wachstum erfahren hat. Seit Lisette Goeslers Buch »Plutarchs Gedanken über die Ehe« (1962) und Sarah Pomeroys Buch »Goddesses, Whores, Wives and Slaves« (1975) entsteht Jahr für Jahr eine Fülle von wissenschaftlichen Publikationen über die Lebenssituationen antiker Frauen, von denen nicht wenige auch für die In­terpretation des Neuen Testaments von großer Bedeutung sind.
In der ersten Hälfte seiner Untersuchung widmet M. sich der Frage, welche Wirkung eine schöne Frau auf griechische Männer hatte (Kapitel 1–2) und wie diese damit umgingen (Kapitel 3–7). Diese Aspekte der antiken Kultur sind in der neutestamentlichen Exegese m. W. nur teilweise geläufig. M. entfaltet sie, um dadurch die psychologischen und kulturellen Voraussetzungen für die Sitte der weiblichen Kopfbedeckung auszuleuchten.
Griechische Männer (und Götter) empfanden den Quellen zufolge nicht so sehr die Lippen, die Beine oder die ganze Figur einer Frau als attraktiv, sondern vor allem ihr Haar und ihre Stimme. Das weibliche Haar wirkte in ihren Augen wie ein Magnet, der sie unwiderstehlich anzog. Als besonders verführerisch empfand man blondes Haar. Dies zeigt M. anhand von Texten Homers, He­siods und vieler späterer Autoren. – Plutarch war der Ansicht, Männer könnten »Besonnenheit« bzw. »Mäßigung« erlernen, um sich selbst zu disziplinieren. Diese Überzeugung war M. zufolge jedoch nicht mehrheitsfähig: »Greeks do not view either male or female as capable of resisting sexual temptation.« (61)
Um die anziehende Wirkung ihrer äußeren Erscheinung zu verhindern, sollten Frauen sich weitgehend aus der Öffentlichkeit fernhalten sowie im Kontakt mit nicht-verwandten Männern schweigen und ihr Haar verhüllen. Dies verlangten vor allem ihre Ehemänner, die um die sexuelle Treue ihrer Ehefrauen besorgt waren bzw. den Einbruch anderer Männer in ihre Ehe fürchteten.
In diesem Zusammenhang beteiligt sich M. ausgiebig an der altertumswissenschaftlichen Debatte, ob griechische Frauen ganz (K. J. Dover u. v. a.), teilweise (H. S. Versnel u. v. a.) oder kaum (A. W. Gomme u. v. a.) ein von der Öffentlichkeit zurückgezogenes Leben führen mussten. Nach einem gründlichen Durchgang durch die literarischen Quellen kommt er zu einem dreistufigen Ergebnis: In der vorklassischen Zeit (8.–6. Jh. v. Chr.) galt es als angemessen, wenn Frauen die Öffentlichkeit mieden und nur weibliche Verwandte oder Tempel besuchten; sie wurden von ihren Ehemännern jedoch nicht gegen ihren Willen eingeschlossen. Im klassischen Griechenland (6.–4. Jh. v. Chr.) wurde seit der Zeit des Euripides jedoch durchaus eine Seklusion von Frauen praktiziert; sie betraf aber nicht die armen Frauen, die in der Landwirtschaft arbeiten oder ihre Waren auf dem Markt verkaufen mussten. In der hellenistischen und der Kaiserzeit (ab dem 4. Jh. v. Chr.) wurde Frauen wieder mehr Freiheit eingeräumt und die erzwungene Absonderung von Frauen durch Philosophen wie Plutarch stark kritisiert; Frauen sollten das Haus aber nur in Begleitung verlassen, keine Gespräche mit nicht-verwandten Männern führen und ihren Kopf bedecken.
Die zweite Hälfte der Untersuchung (Kapitel 8–11) ist speziell den griechischen Texten zur weiblichen Kopfbedeckung seit der vorklassischen Zeit gewidmet. Hier überprüft M. die seit Gerhard Delling (1931) vor allem in der deutschsprachigen Exegese verbreitete These, in der griechisch-römischen Welt habe die Braut zwar bei der Hochzeit einen Schleier getragen, es habe aber keine einheitliche Sitte gegeben, dass Frauen darüber hinaus ihren Kopf bedeckten; seine in 1Kor 11 ausgesprochene Forderung, dass Frauen sich verschleiern sollten, habe Paulus aus der jüdischen Sitte übernommen. Diese Deutung haben auch Albrecht Oepke (im ThWNT) und Bernhard Kötting (im RAC) vertreten. Einen Schritt weiter ging Wolfgang Schrage (in seinem großen EKK-Kommentar) mit seiner These, Paulus spreche in 1Kor 11 gar nicht von der Kopfbedeckung, sondern vom offen getragenen Haar der Frauen. Dieser Interpretation haben sich auch englischsprachige Forscher angeschlossen (228–231).
M. analysiert in seiner Untersuchung 13 Quellentexte aus der vorklassischen und klassischen Zeit (von Homer, Theognis, Aischylos und Euripides), sieben Texte aus der nachklassischen Zeit (aus der Anthologia Graeca, von Erinna, Dikaiarchos, Apollonios, Polybios und Bion von Smyrna), zwölf Texte aus dem für dieses Thema besonders ergiebigen Werk des Plutarch sowie acht Texte aus dem 2. Jh. nach Plutarch (von Dion Chrysostomos, Pausanias, Philostratos, Lukian und Aelian). Sein Ergebnis lautet, in Übereinstimmung mit anderen Altertumswissenschaftlern wie Walter Bremer (in der RE) und Lloyd Llewellyn-Jones (in seiner Monographie über »The Veiled Woman of Ancient Greece« [2003]), dass es im antiken Griechenland von Homer bis ins 1. Jh. n. Chr. für eine verheiratete Frau üblich war, in der Öffentlichkeit bzw. in der Gegenwart nicht-verwandter Männer ihren Kopf oder sogar ihr Gesicht zu bedecken. Zeigte sie sich ohne Kopfbedeckung in der Öffentlichkeit, galt dies als unkeusch bzw. als Ausdruck ehelicher Untreue: »the removal of a married woman’s veil has intense sexual overtones, much the same as the exposing of a woman’s breast in modern western culture« (295). Akzeptiert wurde eine Enthüllung des Kopfes bei verheirateten Frauen nur als Ausdruck tiefer Trauer. Unverheiratete Frauen trugen in der Regel keine Kopfbedeckung, konnten dies aber tun (205–319).
M. ist überzeugt, dass sich in 1Kor 11 die Formulierung »etwas auf dem Haupt haben« (11,4) sowie das Verb »verhüllen« und das Adjektiv »(un)verhüllt« (11,5–7.11) dem antiken Sprachgebrauch zufolge nicht auf die Haare, sondern nur auf eine Kopfbedeckung beziehen können (231–235). Paulus habe den Christinnen in Ko­rinth keine jüdische Sitte vorgeschrieben, sondern die Einhaltung ihrer eigenen griechischen Sitte. Außerdem zeige der historische Kontext des Kapitels unmissverständlich: Paulus verlangte von den Christinnen nicht, dass sie nur beim Weissagen, sondern dass sie auch beim Weissagen ihren Kopf bedeckten (316–317).
M.s Monographie gehört zu den Arbeiten, die einmal mehr nachweisen, wie sehr sich die antike Welt und damit auch die Welt des Neuen Testaments von unserer modernen westlichen Kultur unterschieden hat. Manches, was er am Schluss seiner Untersuchung zur Interpretation vorschlägt, hätte m. E. exegetisch ausführlicher begründet werden müssen. Aber sein Hauptergebnis, dass Paulus in 1Kor 11 in Übereinstimmung mit der griechischen Sitte von der weiblichen Kopfbedeckung spricht, ist aufgrund der umfangreichen Quellenanalyse überzeugend.
Abschließend noch eine allgemeinere Frage: In seiner Einleitung müht M. sich drei Seiten lang, prophylaktisch mögliche Missverständnisse seines historischen Forschungsprojekts abzuwehren: Er erhebe nicht den Anspruch, die antike Welt aus weiblicher Perspektive zu betrachten. Seine Untersuchung sei nicht porno-graphisch gemeint und solle moderne Leserinnen nicht verletzen. Außerdem wolle er seinen Lesern und Leserinnen keinesfalls Vorschriften machen, wie sie heute zu leben hätten usw. (XVI–XVIII). Muss man bei der Leserschaft wissenschaftlicher Untersuchungen zur antiken Welt und dem Neuen Testament tatsächlich mit so großen Rezeptionsfehlern und Empfindlichkeiten rechnen? Das wäre kein gutes Zeichen.