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Ausgabe:

Mai/2021

Spalte:

392–395

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Kalimi, Isaac [Ed.]

Titel/Untertitel:

Writing and Rewriting History in Ancient Israel and Near Eastern Cultures.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2020. XVI, 250 S. m. Abb. Geb. EUR 54,00. ISBN 9783447 113632.

Rezensent:

Michael Pietsch

Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes dokumentieren eine Tagung, die vom 17. bis 20. Juni 2018 in Mainz stattgefunden hat. Sie beschäftigen sich in interdisziplinärer Perspektive am Beispiel der Geschichte Israels und Judas sowie seiner Nachbarkulturen mit den literarischen und hermeneutischen Eigenarten antiker Historiographie und den methodischen Herausforderungen, die diese für eine moderne (Re-)Konstruktion der Geschichte antiker Kulturen mit sich bringen. Dabei ist die Einschätzung des Herausgebers leitend, dass »[s]ince every historian has his or her own unique historical setting, perspective and personality, no description of the past can ever be final, universal, or purely objective. Thus, the writing of ›history‹ inevitably changes from one historian to another, one generation to another, and one place to another, even when all of them are des-cribing the same event, institution, figure, or an era« (3).
Der Band wird durch eine kurze Einführung von I. Kalimi eröffnet (»An Introduction: History and Historiography«, 3–4) und ist in vier Hauptteile gegliedert. Der erste Teil versammelt vier Studien, die sich den methodischen Voraussetzungen einer historischen Rückfrage nach der Geschichte Israels und Judas bzw. der literaturgeschichtlichen Eigenart der biblischen Geschichtserzählung(en) widmen. Der Beitrag von P. Machinist (»Writing and Rewriting the History of Ancient Israel: Some Preliminary Expectations«, 5–16) diskutiert den Wert biblischer Geschichtsnarrative für die Arbeit des modernen Historikers und optiert für eine differenzierte, kritische Analyse der einschlägigen Überlieferungen, die sorgfältig zwischen der »erzählten Welt« und ihrem Darstellungsinteresse (»Information«) und den in ihr enthaltenen historischen Erinnerungen (»Informationsquelle«) unterscheidet. Selbst für den Fall, dass der biblische Text die einzige Quelle ist (z. B. Chronik), die dem Historiker für einen bestimmten Sachverhalt zur Verfügung steht, solle sie nicht vorschnell dispensiert, sondern kritisch evaluiert werden (Plausibilitätskriterium). Soll der Begriff der (historischen) »Wahrheit« nicht zugunsten einer nur jeweils perspektivisch verstandenen Deutung der Vergangenheit aufgegeben werden, bedürfe es bei der historischen Arbeit der steten dialektischen Bewegung zwischen »der Vergangenheit« und ihrer jeweils subjektiven Vergegenwärtigung in antiker (wie moderner) Geschichtsschreibung. In eine ähnliche Richtung weisen die Überlegungen von W. Zwickel (»Perspectives on the Future of Biblical Historiography«, 31–44), der im Anschluss an die »Zwei-Zeugen-Regel« aus Dtn 19,15 fordert, dass neben den biblischen Geschichtsnarrativen konsequent die Befunde der So-zial- und Mentalitätsgeschichte, der Militär- und Wirtschaftsgeschichte, der Naturgeschichte etc. für künftige Entwürfe einer Ge­schichte Israels und Judas berücksichtigt werden sollten, um ein möglichst plastisches Bild der jeweiligen Epoche(n) zu gewinnen. Dabei müsse regionalen Strukturen und Unterschieden ebenso Rechnung getragen werden wie der Einsicht, dass die Geschichte Israels und Judas nur als Ausschnitt einer umfassenderen Kultur- und Ereignisgeschichte der südlichen Levante ge­schrieben werden könne.
Die beiden übrigen Beiträge des ersten Abschnitts fragen nach den literaturgeschichtlichen Paradigmen, denen die biblischen Geschichtsnarrative verpflichtet sind. G. Rendsburg (»The Epic Tradition in Ancient Israel – and What Happened to It?«, 17–30) unterscheidet zwischen einer älteren, frühstaatlichen epischen Ge­schichtsdarstellung auf der einen und einer jüngeren, annalistischen Historiographie auf der anderen Seite. Erstere begegne vor allem in den Büchern Gen bis Sam und besitze zahlreiche Motivparallelen in der ugaritischen Epik sowie in ägyptischer und griechischer Literatur. Letztere dominiere in den beiden Königsbüc hern und sei auf den Einfluss staatlicher Schreiberschulen seit dem 10./9. Jh. v. Chr. in Israel und Juda zurückzuführen. Einen anderen Weg beschreitet J. Retsö (»How Tradition Literature is Created: A Comparative Perspective on the Pentateuch/Hexateuch and Early Arabo-Islamic Historiography«, 45–58), der die Praxis frühislamischer Geschichtsschreibung (vor allem bei ibn Isḥāq und aṭ Ṭabarī) mit den klassischen literaturgeschichtlichen Modellen der Pentateuchforschung (bzw. des Deuteronomistischen Geschichtswerks) vergleicht und dabei ganz analoge Kompositions- und Fortschreibungsmodelle identifizieren kann (z. B. Sammlung von Einzelerzählungen bzw. redaktionelle Verknüpfung älterer Erzählwerke zu größeren Erzählkompositionen, die mehrfach bearbeitet bzw. neu strukturiert werden). Im Unterschied zur biblischen Literatur werden die Übernahmen älterer Vorlagen in der islamischen Historiographie jedoch als solche gekennzeichnet, so dass der literaturgeschichtliche Prozess überprüfbar ist.
Im zweiten und dritten Teil sind Einzelfallstudien versammelt, die zum einen das Verhältnis biblischer und außerbiblischer textlicher Quellen zueinander beleuchten und zum anderen den Einfluss religiöser bzw. kultureller Symbolsysteme auf die biblische Geschichtsschreibung analysieren.
Den zweiten Teil eröffnet eine Studie von H. Niehr (»Royal In-scriptions from Sam’al and Hamath as Sources for the History of Anatolia and Syria in the First Half of the 1st Millennium B. C.«, 61–78), der den Einfluss der hethitisch-luwischen historiographischen Tradition auf die westsemitischen Königsinschriften im nördlichen Syrien untersucht und am Beispiel der Kulamuwa-Inschrift sowie der Inschriften des Bar-Rakib von Sam’al und des Zakkur von Hamat einerseits deren ideologische Tendenzen und kommunikative Interessen betont und andererseits ihren großen Wert für die Kenntnis nicht nur der politischen Verhältnisse in der Region, sondern auch der Herrschaftsideologie ihrer Trägerkreise (in Wort und Bild) herausarbeitet. K. L. Younger, Jr. rekonstruiert in seinem Beitrag (»Reflections on Hazael’s Empire in Light of Recent Study in the Biblical and Ancient Near Eastern Texts«, 79–102) die Ausdehnung des Herrschaftsbereichs der Aramäer von Damaskus unter Hasaël in der zweiten Hälfte des 9. Jh.s v. Chr. Könne sein Einflussbereich im Norden bis nach ‘Umq Patina als gesichert gelten, so bleibe die Erstreckung nach Süden unklar, da literarische Zeugnisse, die für eine genauere Datierung archäologischer Zerstörungshorizonte unverzichtbar sind, weithin fehlen und 2Kön 12,18 f. lediglich die Eroberung von Gat/Tell eṣ Ṣāfī und die Belagerung Jerusalems belegen. Die schillernde Beurteilung Hasaëls in diversen altorientalischen (und biblischen) Überlieferungen (bis in seine späte Rezeptionsgeschichte) unterstreicht die tendenziöse Färbung und das leitende Interesse jeder historiographischen Kon-zeption. Den Abschluss dieses Teils bildet die Untersuchung von A. Winitzer (»World Literature as a Source for Israelite History: Gilgamesh in Ezekiel 16«, 103–119), in der er den Einfluss des Gilgamesch-Epos auf die prophetische Geschichtstheologie in Ez 16 herausstellt. Vor allem die Begegnung zwischen Enkidu und Šamḥat (Tf. II) biete eine Reihe von motivischen und lexikalischen Parallelen (z. B. zikru/zkr), die im Ezechielbuch aufgenommen und transformiert werden, um die eigene Geschichte zu »erzählen«. Dabei deute die Art und Weise der Rezeption des Stoffes in Ez 16 nicht nur auf eine literarische Bekanntheit mit dem Gilgamesch-Epos, sondern auf eine Vertrautheit mit den mythischen Konzepten der babylonischen Kultur insgesamt hin.
Der Beitrag von A. Rofé (»Allegedly Anachronistic Notes in the Books of Joshua and Samuel«, 123–127), mit dem der dritte Teil einsetzt, untersucht ausgewählte Notizen in den Büchern Jos (Jos 6,26; 16,10; 19,47) und Sam (2Sam 8,7 f.), bei denen die griechische Textform einen Textüberschuss verzeichnet, der Angaben enthält, die über die »erzählte Zeit« hinausgreifen und von späterer Hand aus dogmatischen Gründen getilgt worden seien. Das Prinzip, das dieser Kürzung zugrunde gelegen habe, bestehe in der Annahme, dass die Verfasser der biblischen Bücher Zeitgenossen des von ihnen Berichteten gewesen seien (Josua resp. Samuel, vgl. bBB 14b). K. Spronk (»Samuel as the Paradigm of the Judges: The Use of the Verb טפשׁ in the Book of Judges and Samuel«, 129–140) interpretiert die Richtererzählungen in Ri 1–16* als späten literarischen Vorbau zur Geschichte des Königtums in den Samuel- und Königebüchern, der die ›Richter‹ als »proto-kings« stilisiere und sich am Paradigma des Richteramtes Samuels in 1Sam 7,15–17 orientiere. Das Nebeneinander von königsfreundlichen und -kritischen Texten spiegele die literaturgeschichtliche Entwicklung in den Büchern Ri und Sam wider.
Die Untersuchung von R. Fidler (»Writing and Rewriting the History of Israelite Religion: The Controversy regarding the Queen of Heaven«, 141–160) diskutiert am Beispiel von Jer 44 die Bedeutung der biblischen Überlieferung für die (Re-)Konstruktion der Religionsgeschichte Israels und Judas. Sie betont auf der einen Seite die notwendige Unterscheidung zwischen einem Ereignis und seiner literarischen Repräsentation und hält auf der anderen Seite fest, dass Texte als Reflexe auf Ereignisse reagieren und dass ihre spätere Rezeption der Annahme einer älteren literarischen Komposition nicht zwingend entgegenstehe. Mit Blick auf die Verehrung der »Himmelskönigin« in Jer 44 folgt daraus, dass die vorliegende Erzählung zwar ein erkennbares (deuteronomistisch gefärbtes) Interesse und Spuren redaktioneller Bearbeitung erkennen lasse, der Kult der »Himmelskönigin«, deren Identität absichtsvoll un­klar bleibe und über dessen rituelle Praxis wenig bekannt sei, in der ägyptischen Diaspora jedoch historisch plausibel sei (vgl. litera-rische Zeugnisse des 5./4. Jh.s v. Chr. aus Elephantine und Hermopolis). Ihre »Reaktivierung« könne als Krisenphänomen nach dem Untergang Judas und Jerusalems begriffen werden.
Die drei verbleibenden Studien des dritten Teils widmen sich aus verschiedenen Perspektiven der perserzeitlichen Literatur des Alten Testaments. S. Grätz (»The Letters in the Book of Ezra: Origin and Context«, 161–172) macht deutlich, dass die königliche Korrespondenz im Buch Esra vom hellenistischen Briefformular geprägt ist und das Herrschaftskonzept des εὐεργέτης auf die Perserkönige überträgt (vgl. die Königsvorstellung in der Chr). Die Erzählungen in Esr 4–7 stilisieren die persische Epoche als Zeit der religiösen Restitution Judas, die im Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels und der Proklamation der Tora gipfelt. Die »fiktiven« Briefe hätten u. a. die narratologische Funktion, die Historizität des Berichteten zu verbürgen. Y. Levin (»The Chronicler’s Rewriting of the History of Israel: Why and How?«, 173–188) fragt nach den kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Voraussetzungen des chronistischen Ge­schichtsnarrativs (»alternative history«), der zum einen die »er-zählte Welt« transformiere (z. B. Tribalisierung, Hierokratisierung) und diese zum anderen den Adressaten als gesellschaft-liches »Ideal« vor Augen stelle. Der Beitrag von M. Oeming (»Cyrus, the Great Jew? A Critical Comparison of Cyrus-Images in Judah, Babylon, and Greece«, 189–207) schließlich vergleicht die Kyros-Bilder der Chronik, des Kyros-Zylinders und der griechischen Historiker (vor allem Xenophon) und arbeitet deren gemeinsame Merkmale heraus, die darin bestehen, dass der Perserkönig jeweils zum Repräsentanten eigener kultureller und religiöser Idealisierungen stilisiert werde. Der Abschluss der Chronikbücher etwa lasse mit Kyros eine neue politische Ära beginnen und porträtiere ihn als frommen Jhwh-Verehrer und Vorbild für die zeitgenössischen ptolemäischen Herrscher Ägyptens.
Im vierten und letzten Teil der Sammlung finden sich zwei Studien, die sich am Beispiel der Antiquitates Judaicae des Josephus dem Phänomen »tertiärer (bzw. quartärer)« Geschichtsschreibung zuwenden. M. Avioz (»King Solomon in Josephus’ Writings«, 211–222) widerspricht der Einschätzung, Josephus verfolge die Absicht, Salomo als idealen König darzustellen, und stellt ihr die Auffassung entgegen, der jüdische Historiker betone, dass Salomos Untergang mit seiner Distanzierung von Jhwh und seiner Tora einhergeht. Darin zeige sich nicht zuletzt die kritische Haltung des Josephus gegenüber der Institution des Königtums in den Antiquitates, in denen er im Anschluss an Aristoteles die Aristokratie als ideale ir-dische Herrschaftsform bevorzuge (vgl. Ant IV,223). E. Dąbrowa (»Rewritten History: First Maccabees and Josephus on Simon the Maccabee«, 223–229) analysiert die Darstellung des Makkabäers Simon bei Josephus und kommt zu dem Ergebnis, dass diese keine gekürzte Textform des ersten Makkabäerbuchs voraussetze, sondern eigene historiographische Interessen verfolge, die auf die Rolle Simons als erfolgreicher Feldherr und Bewahrer der religiösen Traditionen Israels fokussiert seien.
Der vielseitige und informative Sammelband wird durch ein Namen- und ein Stellenregister vorbildlich erschlossen.