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Ausgabe:

April/2021

Spalte:

355-357

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Haendler, Otto

Titel/Untertitel:

Schriften und Vorträge zur Praktischen Theologie. Hg. v. W. Engemann. Bd. 5: Praxis des Christentums. Schriften, Predigten und Kasualansprachen. Ausgewählt, eingeleitet u. kommentiert v. Ch. Plate.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2020. 511 S. = Otto Haendler Praktische Theologie, 5. Geb. EUR 98,00. ISBN 9783374031429.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Nach Band 3 der Haendler-Edition zur Seelsorge (Rez. ThLZ 145 [2020], 595–597) ist nun wiederum binnen Jahresfrist der 5. Band mit Predigten erschienen, der den 2. Band zur Homiletik (OHPTh 2, s. ThLZ 144 [2019], 131–132) praktisch ergänzt und erläutert. Als Bandherausgeber hat sich Christian Plate verdient gemacht, der über Haendlers Homiletik und Predigtpraxis promoviert hat (Christian Plate, Predigen in Person. Theorie und Praxis der Predigt im Gesamtwerk von Otto Haendler [APrTh 53], Leipzig 2014).
Es ist wie so häufig, wenn man im Werk eines Autors die von ihm formulierte Theorie mit der eigenen Praxis vergleicht: Die Theorie ist in der Praxis zu ahnen, keinesfalls aber bestimmt diese die Praxis. Nur wenige Predigten des vorliegenden Bandes lassen sich als tiefenpsychologische Musterpredigten charakterisieren (wie diejenige zu Gen 32,22–32 aus dem Jahre 1948; 300–306). Bei den allermeisten Predigten handelt es sich vielmehr um situativ ge­prägte theologische Reden im Stile von Abhandlungen, die sich zudem weitgehend rhetorischer Stilmittel enthalten. Es dominiert die klassische Themapredigt in (drei) Unterpunkten mit nur losem Textbezug; häufig werden der Predigt einzelne Verse zugrunde gelegt. Diese fungieren dann als Motto und als Leitmotiv; nur sehr selten folgt eine Predigt der Erzählstruktur bzw. Argumentationsstruktur eines biblischen Textes. So gut wie gar nicht gibt es historische Hinweise zur Textentstehung oder zur Theologie von biblischen Autoren. Die kurzen Textstücke sind vielmehr Schlaglichter, die die Situation erhellen sollen.
Homiletisch interessant ist die Apologie dieser Praxis in einer Predigt aus dem Jahre 1965 (342–347), in der die binnenkirchliche Kritik am »Spruchchristentum« explizit zurückgewiesen wird: »[…] es ist außerordentlich kurzsichtig, ein Leben aus Sprüchen, d. h. doch aus knappen, prägnanten Worten, zu verurteilen. […] Die Sprüche sind für uns der Zugang und jeder hat seine. Wenn es wenige sind, schadet es nichts.« (342)
Von H. sind (neben den Kasualansprachen) etwa 200 Gemeindepredigten erhalten; 20 davon aus den verschiedenen Epochen werden in dem vorliegenden Band abgedruckt, so dass die Predigtgeschichte zwischen 1916 und 1964 durch die ausgewählten Beispiele anschaulich wird. Als ehemaliger Frontsoldat im 1. Weltkrieg preist H. noch 1926 in einer Feldpredigt – ohne biblischen Textbezug – die Treue zu »Gott und Vaterland«: »Wir Krieger wissen, was Treue ist! Das deutsche Blut ist edle Saat. […] Wir stehen zu euch und mit euch zu Gott und Vaterland!« (454) Aber auch in einer Gemeindepredigt (Ostern 1929 über Joh 14,19) heißt es über Luther im völkischen Jargon: »Was wohnt in diesem Luther für eine tiefe innige Glut der Gläubigkeit! […] Hier ist in unerreichter Größe lebendig geworden, was die deutsche Seele sich erträumte in dem Raunen ihrer Wälder, hier ist ihr heldenhaftes Sehnen zu starker, gestählter männlicher Kraft geworden.« (65) Sehr viel nüchterner kann H. dann in einer Predigt zum 10. Jahrestag der Weimarer Reichsverfassung (am 11.8.1929) betonen, dass ein Gottesdienst Christus allein in den Mittelpunkt zu stellen hat: »Diese Zielsetzung jedes Gottesdienstes muss besonders betont werden an einem Tag, an dem es scheinen könnte, als wollten wir ein menschliches Werk in den Mittelpunkt stellen.« (457) Diese theologisch in jeder Weise sachgemäße Zurückhaltung gegenüber der theologischen Überhöhung des Politischen findet sich gegenüber Volk und Vaterland deutlich weniger. Der Herausgeber charakterisiert H. denn auch als klassischen Vertreter »einer national-protestantischen Kriegspredigt« (158). Diese Orientierung reicht weit in die Weimarer Zeit hinein; erst in einer Predigt über 1Joh 1,7 am 1. Advent 1932 gibt es eine deutliche Distanzierung vom Völkischen: »Das Volk, das Vaterland, fasst den Menschen bei seiner letzten, heiligsten Liebe. Aber in dieser Liebe ihm dienen, das kann im vollen Wert solchen Dienstes nur, wer durch eine größere Gemeinschaft geheiligt ist. […] Es ist die Grenze auch des besten Volkes auf Erden, dass es stirbt, wenn es nicht aus dem Größeren lebt, aus dem lebendigen Gott.« (245) Dass H.s Predigten der Zwischenkriegszeit allerdings von einem »dialektisch-theologischen Pathos« geprägt seien (so der Herausgeber, 9), vermag ich ebenso wenig zu erkennen wie Wilhelm Stählins »radikale Kehrtwende zurück zur Dialektischen Theologie« (9). Stählin hielt lebenslang an einer »Theologie des 1. Artikels« fest und war somit von Barth und seinen Gefährten kategorial verschieden – trotz seiner Kritik an der theologischen Rezeption der Psychologie.
Der völkische und nationale Ton in H.s Predigten tritt in der folgenden Zeit deutlich zurück. Lobreden oder zustimmende Nebentöne gegenüber dem NS-Staat bzw. seiner Ideologie sind in H.s Predigten kaum zu finden (vgl. aber die Rede vom »Deutschsein […] als unser heiliges Recht« und von »Stolz und Treue zum heiligen Heimatboden, zur Nation und zum Reich« in einer Taufpredigt über Joh 8,12 vom September 1940; 374).
Sind die meisten hier zugänglich gemachten Predigten auch nicht eigentlich tiefenpsychologisch geprägt, so lässt sich doch eine zunehmende Schwerpunktverlagerung auf die Themen Gebet, Stille, Meditation und Entwicklung des eigenen Selbst ausmachen. Der Modus dabei ist die diskursive Entfaltung, die Rede über Meditation und Selbst, nicht deren performative Gestaltwerdung. Zum Abschluss einer Berneuchener Freizeit im Juli 1935 sagt H. über Lk 9,62: »[…] jeder Mensch – und wenn sein Leben schwerer wird, dann oft umso mehr – sehnt sich nach solchen, die durch den Tod des Ichs ins Leben hindurchgegangen sind.« (292) Der Zeitbezug der Predigten ist gegenüber solchen allgemeinen Aussagen wenig ausgeprägt. Vielfach handelt es sich um theologische Formulierungen, denen auch der Anlass und die Gemeindesituation kaum anzumerken sind (vgl. etwa die Predigteinleitung, 282).
In den Jahren nach 1945 schiebt sich allerdings eine Problematik immer mehr in den Vordergrund: die zunehmende »Entfremdung vom Christentum« (327; in einer Predigt über Röm 8,15 im August 1961). Anteil haben H.s Predigten schließlich auch an dem problematischen, lange Zeit verbreiteten exegetischen und theologischen Paradigma, nach dem das Alte Testament und antike Judentum vorwiegend von Gesetzlichkeit und Unfreiheit geprägt gewesen seien (vgl. die Aussagen unter der Überschrift »Der Gott des Gesetzes und die gesetzliche Unfreiheit« in derselben Predigt 1961; 327).
Christian Plate und Wilfried Engemann kommt das Verdienst zu, mit dem vorliegenden Band nicht nur einen ausführlichen praktischen Kommentar zu H.s Homiletik geliefert zu haben, sondern zugleich einen Beitrag zur Predigtgeschichte des 20. Jh.s, der neben H.s psychologischen Spezifika so manches für Theologie und Predigtweise Typische anschaulich werden lässt. Der Band ist wiederum erfreulich sorgfältig lektoriert und lässt sich mit den ausführlichen Erläuterungen und Verzeichnissen gut verwenden.