Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2021

Spalte:

331-334

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Barker, Kit

Titel/Untertitel:

Imprecation as Divine Discourse. Speech Act Theory, Dual Authorship, and Theological Interpretation.

Verlag:

Winona Lake: Eisenbrauns (Penn State University Press) 2016. XII, 246 S. = Journal of Theological Interpretation Supplements, 16. Kart. US$ 36,95. ISBN 9781575064444.

Rezensent:

Torsten Uhlig

Mit dem auf seiner Dissertation (Australian College of Theology) beruhenden Buch verfolgt Kit Barker (Sydney Missionary and Bible College) seiner Einleitung zufolge das Ziel, mehr Klarheit in die theological interpretation zu bringen, indem er eine auf der Sprech-akttheorie beruhende Hermeneutik entwickelt, die aufzeigt, wie die Heilige Schrift als Rede Gottes (divine discourse) funktioniert (so auf S. 1). Dazu entwickelt er in Teil 1 die entsprechende Theologische Hermeneutik und will in Teil 2 ihre Nützlichkeit in Bezug auf theological interpretation zeigen, indem er seine Hermeneutik auf den Psalter und die Rachepsalmen im Besonderen anwendet. Damit ist der Rahmen abgesteckt, auf den das Buch im Wesentlichen bezogen ist: Es ist gerichtet auf einen Binnendiskurs innerhalb der Bewegung der theological interpretation, zu deren Kontext und Entwicklung ohne weitere Ausführungen lediglich in einer Fußnote auf einige Überblicke verwiesen wird.
Die Bewegung der theological interpretation, die sich durchaus aus einer ganzen Reihe unterschiedlicher Einflüsse und Strömungen speist, möchte die Spaltung zwischen Bibelwissenschaften und (Systematischer) Theologie überwinden, indem sie die exegetische Arbeit auf theologische Fragestellungen bezieht und (systematisch-)theologische Ausführungen aus der Begegnung mit den biblischen Texten zu entwickeln sucht. Diesem Versuch dürfte neben den generellen Entwicklungen in den Bibelwissenschaften und der Systematischen Theologie auch die spezifische Situation im angelsächsischen Raum zugrunde liegen, wo Bibelwissenschaften und Theologie oft in unterschiedlichen Fakultäten/Instituten bzw. institutionellen Zusammenhängen verortet sind. Wahrnehmbar wird dieses Programm u. a. in der Zeitschrift Journal of Theological Interpretation (seit 2007), der entsprechenden Monographie-Reihe, in der auch das hier zu besprechende Buch veröffentlicht ist, den Kommentarreihen Brazos Theological Commen-tary on the Bible (Brazos Press), International Theological Commentary (T & T Clark), Two Horizons Commentary (Eerdmans) oder der Monographie-Reihe Studies in Theological Interpretation (Baker). An der Bewegung der theological interpretation beteiligen sich auch einige aus der vielgestaltigen angelsächsischen evangelikalen Theologie (siehe besonders: Craig G. Bartholomew & Heath A. Thomas [Eds.]: A Manifesto for Theological Interpretation, Grand Rapids 2016), auf die sich wohl auch das vorliegende Buch im Besonderen bezieht; doch können sie nicht in eins gesetzt werden.
Nachdem B. in seiner Einleitung das Ziel, Grundannahmen und Voraussetzungen sowie seine Methodologie (eigentlich eine Skizze seines Vorgehens) transparent gemacht hat, entwickelt er in drei Kapiteln in Teil I (»In Pursuit of Theological Interpretation«) eine auf der Sprechakttheorie basierende Theologische Hermeneutik für die Bibel und, wie sie als Anrede Gottes heute plausibilisiert werden kann. Mit Kapitel 1 fasst er (viel zu) knapp die Entwicklung der Sprechakttheorie bei John Austin und John Searle zusammen und, wie diese einerseits in der Exegese (er bezeichnet dies als »speech act criticism«) und andererseits in Entwürfen zur Theologischen Hermeneutik angewandt wurde.
Kapitel 2 verrät besonders deutlich den engen Bezugsrahmen der intendierten Leserschaft, wenn der Vorschlag des katholischen Neutestamentlers Raymond Brown, das »Mehr« an Bedeutung alttestamentlicher Texte durch ihre Rezeption im Neuen Testament als sensus plenior zu fassen, allein anhand der Befürworter, Modifizierer und Gegner dieses Konzepts unter Evangelikalen diskutiert wird.
In Kapitel 3 (»Speech Act Theory, Dual Authorship and Canonical Hermeneutics«) stellt B. dann in drei Unterpunkten seine Theologische Hermeneutik vor: A) Er bestimmt die Sprechakttheorie als maßgebliche Hermeneutik, da sie am angemessensten die Anatomie von Kommunikation beschreibt; demzufolge liegt die Bedeutung eines Textes in der Summe aller illokutionären Akte, die ein Text vollzieht und die die Interpretation erfassen muss. B) Die Bibel kann als Anrede Gottes heute verstanden werden, indem man eine zweifache Autorschaft (dual authorship) annimmt oder wahrnimmt und die biblischen Texte jeweils zu erfassen sind hinsichtlich der menschlichen illokutionären Akte auf den unterschiedlichen literarischen Ebenen wie auf der kanonischen Ebene die göttlichen illokutionären Akte. Und im Erfassen der menschlichen wie göttlichen Sprechakte werden die Interpreten des sensus plenior gewahr. C) In der Schlussfolgerung hebt B. hervor, dass menschliche und göttliche Illokutionen nicht einfach identisch sind, dass das Erheben der kanonischen und zentralen Illokutionen nur durch eine gemeinsame Anstrengung von Bibelwissenschaft und Systematischer Theologie erreicht werden kann.
In Teil II wendet B. dann diese Hermeneutik auf das konkrete Problem der Interpretation der Rachepsalmen an: Kapitel 4 versucht, die illokutionären Akte des Psalmisten, des Psalters und Gottes in ihrem Verhältnis zu bestimmen. In der Anwendung auf die Rachepsalmen generell in Kapitel 5 argumentiert B., dass sich deren illokutionären Akte in die des Psalters gut integrieren lassen und im Kontext der ganzen Bibel nicht dem Gebot der Vergebung und Feindesliebe im Neuen Testament entgegenstehen. In Kapitel 6 (Ps 137) und Kapitel 7 (Ps 69) wird versucht, an gut ausgewählten Psalmen den hermeneutischen Ansatz zu veranschaulichen und zu plausibilisieren. Die abschließende Zusammenfassung rekapituliert hilfreich die Argumentation und Ergebnisse der Arbeit.
Bei aller notwendigen Kritik sollen zunächst doch die Punkte herausgestellt werden, die Beachtung verdienen: Stilistisch gefällt das Buch durch seine verständliche Sprache, die klare Strukturierung und Argumentation.
Theologisch zu würdigen ist der Versuch, das Reden Gottes nicht in Reflexionen über die Heilige Schrift zu belassen, sondern in der Begegnung mit den biblischen Texten zu suchen und zu plausibilisieren. Es trägt auf jeden Fall zur Sensibilisierung für den Handlungsaspekt in Sprache und Texten bei und hinterfragt die häufige Reduktion auf propositionelle Gehalte in der Bibelauslegung. Zu würdigen ist auch der Versuch, die notorisch schwierige Verhältnisbestimmung zwischen illokutionären und perlokutionären Sprechakten zu thematisieren und zur Klärung beizutragen. Es regt an zum fortgesetzten Gespräch zwischen Bibelwissenschaften und Systematischer Theologie (dem Grundanliegen der Bewegung der theological interpretation).
Bei aller grundsätzlich vor allem im evangelikalen Raum beheimateten Argumentation nimmt B. zumindest zur Psalmenexegese die englischsprachige Literatur (und damit auch die übersetzten Werke von H.-J. Kraus, E. Zenger und L. Hossfeld & E. Zenger) in aller Breite wahr und hat auch keine Berührungsängste zu diachronen Entstehungsüberlegungen zu Ps 137 und Ps 69.
Für die Beanspruchung der Sprechakttheorie für die Theologische Hermeneutik wie ihrer Anwendung auf die Psalmen und Ps 137 und Ps 69 im Speziellen bleiben aber eine Reihe von Anfragen:
1) Es überzeugt auch nach diesem Versuch nicht, Sprechakttheorie als allgemeine Hermeneutik etablieren zu wollen, und zwar aus hermeneutischen und theologischen Gründen: So wäre das Verhältnis von Sprechakttheorie und Erzählung für die Hermeneutik intensiver zu beleuchten; es kann die Grundsatzdebatte über die Orientierung der Hermeneutik am Ideal des mündlichen, direkten Gesprächs (von Plato bis Gadamer und auch den Sprechakttheoretikern) oder bei der für schriftliche Kommunikation typischen Distanzierung (z. B. Derrida, Ricœur) nicht übergangen werden und es hätten mindestens die gewichtigen Einwände des zitierten Anthony Thiselton (»Communicative Action and Promise in Hermeneutics«, in: R. Lundin, A. C. Thiselton & C. Walhut [Eds.]: The Promise of Hermeneutics, Grand Rapids 1999, 133–239) gegen die exklusive Anwendung der Sprechakttheorie in der Hermeneutik gründlicher beachtet werden müssen. Damit sich berührend, ist es auch unzureichend, mit Verweis darauf, dass alle Kommunikation Handlung ist, auch Erzählungen und Poesie in das Korsett der Searleschen Variante kommunikativen Handelns zu zwingen. Man könnte weitere Handlungsformen, wie die »poetische« bei Roman Jakobson, integrieren oder erkennt in dem direkten Gespräch und den literarischen Formen grundsätzlichere, hermeneutisch zu berücksichtigende Unterschiede an. Jedenfalls erweist sich insbesondere bei den Versuchen, die »göttlichen« Sprachhandlungen zu erfassen, die von B. vorgenommene Verengung immer wieder als unzureichend (und theologisch bedenklich): Wenn etwa die Illokutionen Gottes in Ps 137 neben dem Angebot und der Einladung zur Nachahmung (mimesis) auch interpretiert werden als Bestätigung des Standpunktes des Psalmisten und gar als »call to pray against the enemies of Christ’s kingdom« (177), zeigt sich die ganze Problematik, wenn man den polyphon konstruierten Diskursraum des Kanons auf monologe Sprechhandlungen reduziert.
2) Die Interpretation von Ps 137 weckt erhebliche Zweifel daran, in dieser Weise die Sprechakttheorie für die Theologische Hermeneutik bestimmend zu machen. Das widerraten dann über die Beispielpsalmen hinaus auch die biblischen Texte, in denen Zitate als falsch abgelehnt werden (Hos 6,1–3; Jes 58,1–2; Mal), oder die Reden der Freunde Hiobs; sodann wäre grundsätzlicher über das Wechselverhältnis von Gottesbild und Verständnis eines Autors/Sprechers zu reflektieren.
3) Die Begrenzung der Bedeutung von Texten auf ihre illokutionären Akte überzeugt schon an einzelnen Schriften innerhalb des Kanons nicht, und noch weniger auf der Ebene des Kanons und der bei B. gar nicht thematisierten Ebene der Begegnung mit den Texten in ihrer Rezeptionsgeschichte.
4) Damit berührt sich ein weiteres Problem, nämlich das der voreiligen Identifikation von ganzen Texten mit Sprechakten, die den Aspekt der Zeit missachtet. Angesichts der zeitlichen Dimension des sequentiellen Lesens/Hörens einer größeren Menge einzelner Sprechakte ist B.s Versuch ihrer (räumlichen) Hierarchisierung in der Bestimmung der »literarischen Ebenen« für die Einordnung illokutionärer Akte im Ganzen des Psalms, Psalters und Kanons unzureichend.
5) Die Bestimmung der illokutionären Akte auf der Ebene des Psalters ist unterkomplex entfaltet. B. bestimmt anhand von den zentralen Themen, dem Aufbau des Psalters und literarischer Charakteristika als zentrale Illokutionen des Psalters die »Einladung« zu mimesis (Nachahmung der Antworten der Psalmen in ähnlichen Situationen) und Hoffnung sowie die »Warnung« gegen Ablehnung des Gotteswortes. B. geht auf Ps 1 und Ps 2 ein; aber die Wahrnehmung der promissio (»Selig ist, wer …«) im Rahmen des Eingangsportals von Ps 1 und Ps 2 oder die spannenden pragmatischen Funktionen der narrativ konstruierten Psalmenüberschriften bleiben unbeachtet und verlangen nach einer intensiveren Beschäftigung mit dieser hochkomplexen, aber beachtenswerten Frage.
6) Anfragen wären schließlich zu richten an die konkreten Analysen der Sprechakte zu den Psalmen. Es wird an vielen Stellen nämlich nicht ersichtlich, wie B. anhand der Texte selbst zu den jeweiligen Bestimmungen der Illokutionen kommt. Allein zum Unterabschnitt Ps 69,6–14 wären hier eine Reihe von Einschätzungen zu problematisieren. So formuliert B. beispielsweise: »The psalmist is therefore portrayed as one who …« (194). Hier wird aber der Psalmist nicht von jemand anderem porträtiert, sondern spricht von sich selbst; zudem stellen die Selbstaussagen die Lage nicht einfach dar, sondern sind expressive Illokutionen. Oder B. interpretiert: »The psalmist then reminds God that the cause of his suffering is his loyalty to him«, aber woran wird das »reminds« festg emacht? Gerade angesichts von V. 10, den B. gar nicht aufgreift, sind die Sprechakte wesentlich komplexer (die gerade in Bezug auf das Bedrängen JHWHs und die indirekt expressiven Illokutionen teilweise mit der herkömmlichen Taxonomie insbesondere von Searle kaum abbildbar sind).
Das Buch eignet sich durchaus als Einblick in einige Facetten der Diskussion innerhalb der Bewegung der theological interpretation, die im deutschen Sprachraum bzw. kontinentaleuropäischen Theologiediskurs wahrscheinlich nicht so intensiv wahrgenommen wird. Es erinnert an die Notwendigkeit, die Einsicht in den Handlungsaspekt von Kommunikation bei der Auslegung biblischer Texte mit zu beachten. Es regt zum Weiterdenken an über das Verhältnis von Bibel und Gottes Wort und, welchen Beitrag dabei Sprechakttheorie leisten könnte. Es illustriert aber auch deutlich die Grenzen der darin vorgeschlagenen Anwendung der Sprechakttheorie für die allgemeine und theologische Hermeneutik, für die Kanonhermeneutik, die Bestimmung des Charakters von Gottes Reden und die exegetische wie theologische Durchdringung des Psalters und der Rachepsalmen.