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Ausgabe:

April/2021

Spalte:

311-312

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Bultmann, Rudolf, u. Hans Jonas

Titel/Untertitel:

Briefwechsel 1928–1976. Mit einem Anhang anderer Zeugnisse. Hg. v. A. Großmann.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. XXV, 161 S. Lw. EUR 69,00. ISBN 9783161592843.

Rezensent:

Michael Hackl

Der edierte Briefwechsel zwischen Rudolf Bultmann und Hans Jonas, zwischen Lehrer und Schüler, später zwischen Freunden, setzt 1928 ein und endet 1976 wenige Monate vor Bultmanns Ableben. Neben den frühen Briefen von Jonas (2−14, vgl. XV), der erste aufgefundene Brief Bultmanns stammt erst aus 1953, zeugen die Gutachten (1928) über Jonas’ Dissertation davon (111–115), wie bedeutsam Bultmann für Jonas’ frühe akademische Entwicklung war. Immerhin machte Martin Heidegger, obwohl Betreuer der Arbeit, seine Benotung von dem Urteil Bultmanns, der das Zweitgutachten verfasste, abhängig (113).
Der Kontakt zwischen Bultmann und Jonas war auch persönlicher Natur. Als Jonas 1933 nach der Machtübernahme des NS-Regimes Deutschland verließ, war Bultmann der einzige Lehrer, von dem er sich verabschiedete (88). Auch als Jonas 1945 als Soldat der Alliierten nach Deutschland zurückkehrte, besuchte er umgehend Bultmann in Marburg (99.125). Mit seinem Lehrer Heidegger ist es hingegen zum Bruch gekommen; erst 1969 hat er sich mit Heidegger, wie er Bultmann mitteilt, »ausgesöhnt« (92). Die beigegebene Korrespondenz zwischen Jonas und Heidegger von 1972 belegt (119–123), dass dieser, wie auch Bultmann (97), Jonas’ Wiedergutmachungsanspruch als Verfolgter des NS-Regimes unterstützte.
Ab 1952, also einige Jahre nach Jonas’ Besuch 1945 in Marburg, intensiviert sich der Briefwechsel zwischen ihm und Bultmann. In ihren Briefen tauschen sie sich über eigene Arbeiten, aber auch über andere Schriften aus (vgl. 17 f.21 f.31–34). Trotz des intensiveren Kontakts ist es erst Ende der 1950er Jahre zu erneuten Treffen gekommen (vgl. 30.39 f.). Aus der Korrespondenz erfahren wir, dass Bultmann Jonas durch ein Gutachten 1959/60 einen längeren Forschungsaufenthalt in München ermöglicht hat (29 f.34). Just in diese Zeit fällt Jonas’ Berufung nach Marburg. Obwohl der editierte Briefwechsel Lücken aufweist (z. B. fehlen die Briefe vom 5. und 9.6.1960 aus dem Konstanzer Hans-Jonas-Archiv, die u. a. Bultmanns Rolle bei dem Berufungsverfahren aufzeigen), wird deutlich, wie sehr Bultmann darauf hofft, dass Jonas den Ruf annimmt. Bultmann lässt ihn wissen, dass er seiner Ansicht nach »der Einzige [ist], der heute die Kraft hat, die große Tradition aufzunehmen und fortzuführen, die in der Geschichte des Philosophierens in Marburg erwachsen ist« (44). Obwohl Jonas dem Marburger Ruf nicht folgte (46 f.), was für Bultmann »sehr schmerzlich« war (47), hatte er Verständnis für Jonas’ Entscheidung (47 f.).
Die Absage tat der Verbindung keinen Abbruch. Im nachfol-genden Briefwechsel debattieren sie über Jonas’ »selbsterdachten« Mythos (51), den Bultmann vor dem Hintergrund seines Entmythologisierungsprogramms hinterfragt (vgl. 57–62). Jonas greift die Kritik auf, betont aber, dass sein »symbolische[r] Versuch […] am ehesten ausdrückt, was mir Sinn im Rätsel des Seins und der Existenz« macht (68). Hier, wie auch beim Diskurs um den Begriff der »Eigentlichkeit« (72–76), nimmt Bultmann meist die Rolle des kritisch Fragenden ein. Er bleibt überdies skeptisch, ob Jonas die »Überwindung des platonischen (u. doch auch biblischen) Dualismus durch eine Ontologie gelingen kann, die eine immanente Kraft der Natur zur Selbsttranszendierung aufweist« (89). Auch Heideggers Philosophie wird Thema (82–86), u. a. wegen Jonas’ Beitrag Heidegger und die Theologie (83−86).
Wie wir aus Bultmanns letztem Brief an Jonas erfahren, ist er »dankbar für die Jahrzehnte«, die ihm »geschenkt waren« (109). Wie dankbar Jonas Bultmann war, belegt die im Anhang abgedruckte Rede (123−143), die er auf Bultmanns Gedenkfeier gehalten hat. Am Ende heißt es mit Blick auf Bultmann: »Für mein Leben gern würde ich dies vor so langer, langer Zeit begonnene Gespräch mit dem Lebenden fortführen und kann es nur mit dem teuren Schatten tun« (142, vgl. 71 f.). In seinem »Lehrer und gütigen Förderer« (125) hat Jonas den für ihn so wichtigen Gesprächspartner gefunden, der seinen Weg über Jahrzehnte hinweg geprägt hat.
Der Briefwechsel ist sorgfältig ediert, um einen die historischen Kontexte erschließenden Anhang (111–146), Fotos und ein Orts-, Personen- und Sachregister ergänzt. Des Weiteren ist der Band durch Sachanmerkungen und umfangreiche Personenbeschreibungen erschlossen, wobei Großmann bei der Edition nicht auf die Kritische Gesamtausgabe der Werke von Hans Jonas zurückgreift. Die Anmerkungen geben u. a. Aufschluss über Jonas’ Kontakt mit dem Hessischen Kultusminister wegen der Marburger Berufung (44.46) oder über Bultmanns Unterstützung bei Jonas’ ersten Publikationen (XIX f.116–118).
Dennoch wünscht man sich als Leser an manchen Stellen eine umfassendere Kommentierung; wenn z. B. Jonas 1929 Bultmann für die Unterstützung bei seinen »Druckangelegenheiten« dankt (11), würde man gerne wissen, um welche Schrift es sich handelt. Ebenso würde man gerne erfahren, dass Hugo Koch die »vernichtende Rezension« von Jonas’ »Erstlingsschrift« (124) Augustin und das paulinische Freiheitsproblem (1930) verfasst hat, die fast das Erscheinen des ersten Bandes seiner Untersuchung Gnosis und spätantiker Geist verhindert hätte. Nur der Einflussnahme Bultmanns ist es zu verdanken (vgl. XIX f.), dass der Verlag Jonas’ Buch doch noch druckte.
Ergänzungen wie diese, die fehlenden Briefe oder auch die Korrektur, dass es sich bei dem 1952 »lange geplante[n] Buch über die Philosophie des Organischen« (17) nicht um die 1966 erschienene Aufsatzsammlung The Phenomenon of Life. Toward a Philosophical Biology (18), sondern um Jonas’ Buchprojekt Organism and Freedom. An Essay in Philosophical Biology aus den frühen 1950er handelt, sind bei einer späteren Auflage leicht einzufügen. Es wäre erfreulich, wenn zudem der Anhang um weitere »relevante Dokumente« (XXIV) ergänzt würde, z. B. um Bultmanns Brief an Vandenhoeck & Ruprecht vom 2.12.1929 aus dem Hans-Jonas-Archiv, in dem er den (Teil-)Druck von Jonas’ Dissertation Der Begriff der Gnosis (1930) empfiehlt. Unbeschadet der angeführten Kritik ist der Briefband ein beeindruckendes Zeugnis für die Fruchtbarkeit des ein halbes Jahrhundert andauernden Gesprächs zwischen einem Theologen und einem Philosophen, das letztlich ein Ge­spräch zwischen zwei Freunden war.