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Ausgabe:

April/2021

Spalte:

297-301

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Vinzent, Markus

Titel/Untertitel:

Writing the History of Early Christianity. From Reception to Retrospection.

Verlag:

Cambridge: Cambridge University Press 2019. VI, 485 S. Geb. £ 105,00. ISBN 9781108480109.

Rezensent:

Adolf Martin Ritter

Das Buch von Markus Vinzent ist nur wenige Monate vor einem zweiten umfangreichen Beitrag aus derselben Feder zur Frage nach der »Entstehung des Christentums« (unter dem Titel »Offener Anfang«; s. ThLZ 145 [2020], 951 f.) erschienen. Damit wird nicht nur die erstaunliche schriftstellerische Fruchtbarkeit V.s unter Beweis gestellt. Wer das Buch aufschlägt, bekommt vielmehr sehr bald auch eine Vorstellung von dessen großer Gelehrsamkeit und strukturierender Kraft. Seine Vertrautheit sowohl mit Quellen (literarischen wie nichtliterarischen) als auch mit einer schier unüberschaubaren Forschungsliteratur, weit über Disziplinengrenzen hinweg, ist gelegentlich geradezu schwindelerregend, zumal für bedächtigere Leser – wie mich. Gleichwohl kann man, kann ich, um das bereits vorwegzuschicken, nur vorbehaltlos unterschreiben, womit der Oxforder Kollege M. Edwards seine kurze Anzeige (in »Church Times« vom 1. November 2019) beendete: »this is a book that no student of second-century-Christianity can afford to leave unread«.
V. zielt darin zwar in dieselbe Richtung wie in der genannten Monographie aus demselben Jahr (und, andeutungsweise, bereits mehreren früheren Veröffentlichungen). Er beschreitet diesmal jedoch einen anderen Weg. In einem ausführlichen, ambitionierten Einführungskapitel (5–76) – mitsamt einem vierseitigen »Nachwort« zu Beginn und einem knapp sechsseitigen »kurzen Vorwort am Ende« (465–470) – unternimmt er darin einen Durchgang durch die neueren und neuesten Methodendiskurse (knapp 14 engbedruckte Seiten nimmt die darauf bezogene Bibliographie in Anspruch) und entfaltet näher, was er drei Jahre zuvor in einem Beitrag zur neugegründeten Zeitschrift »Religion in the Roman Empire« (2 [2016], 103–124) mit einer gründlichen Überprüfung (»radical overhaul«) einer jahrhundertelang betriebenen »Ge­schichtsschreibung des frühen Christentums« gemeint hatte: »Retrospektion« heißt das Zauberwort; eine retrospektive Vorgehensweise (»retrospective trajectory«), vom Heute über diverse rekonstruierbare »formative Stufen« zurück in die Vergangenheit der antiken Texte, sollʼs richten.
Auf den Methodenteil folgen vier Fallbeispiele; an ihnen soll die Leistungsfähigkeit des Konzeptes demonstriert werden. Das erste ist der vieldiskutierten »Aberkios«-Inschrift, der »Königin der christlichen Grabepitaphien« (Th. Mommsen), gewidmet (77–161), das zweite der Frage nach Umfang und Datierung des Hippolyt von Rom zuzuschreibenden Schrifttums und dessen Verhältnis zu jenem Schriftenkatalog, der sich auf einer heute im Eingangsbereich der vatikanischen Bibliothek in Rom postierten antiken Statue eingemeißelt findet (162–195); das dritte geht der Frage nach der ursprünglichen Textgestalt der Apologie des Aristides (als vermeintlich erster erhaltener Vertreterin dieser Gattung innerhalb der frühchristlichen Literatur) nach (196–265); dem letzten Fallbeispiel (Ignatius von Antiochien, im Untertitel hier vorgestellt als »geheimnisumwitterter Blutzeuge« [»a mysterious martyr«]) ist der bei Weitem größte Raum zugestanden, fast die Hälfte des Buchumfangs nimmt es in Anspruch (266–464), wobei V. hier an Diskussionen anknüpfen kann, in denen ihm – zusammen mit seinem Lehrer R. Hübner oder auch allein – seit vielen Jahren wohl bereits die entscheidenden Impulse zu verdanken sind.
Im Anschluss daran werden, außer dem erwähnten »kurzen Vorwort« anstelle eines Nachworts, nur noch ein Bibelstellen- und ein Sachindex, Autorennamen inbegriffen, geboten (471–485).
Auch ich würde mich am liebsten sogleich den Fallbeispielen zuwenden und die Methodendiskussion auf sich beruhen lassen. V. selbst macht, leichtsinnigerweise, diese Offerte gegenüber dem (für Methodologie weniger zu erwärmenden) Leser (4). Doch im Unterschied zu M. Edwards (und anscheinend auch diversen anonymen »Peer-Reviewern«, die seinen Text vor dessen Veröffentlichung zu begutachten hatten und auf die sich V. wiederholt bezieht [14, Anm. 68; 79, Anm. 11–13; 113, Anm. 173 u. ö.]), werde ich von dieser Erlaubnis keinen Gebrauch machen. Andernfalls würde das für mein Verständnis dem Proprium der hier zu Diskussion stehenden Veröffentlichung schwerlich gerecht. Und zwar will ich mich angesichts des zur Verfügung stehenden beschränkten Raumes auf die Frage konzentrieren, was der »retrospektive« Zugriff konkret bedeutet und was er, nach Maßgabe der genannten Fallbeispiele, für die Geschichtsschreibung austrägt.
Den Retrospektionsbegriff entnimmt V. – nicht, wie man denken könnte, der modernen Psychologie (oder gar der Geheimwissenschaft der Hermetik!), sondern – der zeitgenössischen Erzähltheorie (1, Anm. 4). In zwei knappen Abschnitten der Einführung (30) erläutert er: Retrospektion heiße, »zunächst« einmal »den status quaestionis auszubreiten« (womit sollte man sonst beginnen?, erlaube ich mir zu fragen); nicht bereits Antworten zu geben, sondern stattdessen die äußeren und inneren Faktoren zu umreißen, die diesen Status bestimmen. Danach führe der Weg rückwärts durch eine Schicht oder Stufe nach der anderen, wobei jeweils erneut nach den bestimmenden (äußeren wie inneren) Faktoren Ausschau zu halten sei. Ziel sei es nicht, »Originalquellen« ausfindig zu machen (»finding ›primary sources‹«); vielmehr werde und könne es am Ende eines »offenen Weges« damit sein Bewenden haben, sich mit »Konstruktionen, Ausgaben, Handschriften« zu befassen. Von dieser seiner »neuen Perspektive« verspreche er sich, heißt es weiter, verlockende neue Ergebnisse; und er zählt sie auf, deutet zumindest an. Mir aber bleibt die Frage, ob sich diese Ergebnisse nicht ebenso gut in umgekehrter Richtung und Reihenfolge, in besonnener, kritisch-selbstkritischer Anknüpfung an herkömmliche Geschichtsschreibung und ihre Methoden erzielen lassen, die Wirkungs- oder Rezeptionsgeschichte längst einbegriffen.
Machen wir die Probe aufs Exempel: a. Zum Gespräch mit der Forschung ist in allen vier Fallbeispielen viel Lobendes festzuhalten. Es lässt, soweit ich sehe, niemanden aus, geht allen Verästelungen der Debatte nach und wird offen geführt, ohne das »Beweisziel« je aus dem Auge zu verlieren. Der Ton ist unaufgeregt, die Argumentation weithin überzeugend, der immer wieder an den Tag gelegte Scharfsinn bewundernswert. Ich habe viel gelernt, keineswegs nur, wohl aber besonders, was seinen souveränen Umgang auch mit nichtliterarischen Quellen anlangt (vgl. zumal 178 f.), bei dem ich stets ein Lernender bleiben werde. Mir leuchtet sehr ein, dass die zur Zeit der Renaissance wiederaufgefundene, auf Anweisung Papst Johannes ʼ XXIII., als eine Botschaft, im Eingangsbereich der Vaticana aufgestellte Statue (mit Schriftenkatalog ohne Autorenangabe) eine weibliche Person darstellt, wahrscheinlich eine Amazone (als Symbol der Weisheit); für ihre Deutung auf den »berühmten« Hippolyt aus der Antike, so V.s ansprechende Vermutung, sei womöglich sein kirchlicher Fürsprech Kardinal Ippolito dʼEste (1509–1572) verantwortlich (172).
b. Meist spielt in allen vier Fällen die Retrospektion eine ganz untergeordnete Rolle; das Gespräch wird die längste Zeit auf Augenhöhe geführt, mit Partnern, die sich wohl ausnahmslos eher einer traditionellen, (dem Duktus des gelebten Lebens folgend) vorwärtsschreitenden Geschichtsschreibung verpflichtet fühlen, bis es dann, manchmal überraschend, zu »retrospektiven« Monologen V.s kommt (s. 114 f.152.206 f.215.228–230.257–259.269.402.408 f.); diese aber wirken oft aufgesetzt und führen über auch anderweitig erschwingliche Ergebnisse, mir nicht ersichtlich, hinaus. Um ein Beispiel zu nennen: Wer die gegenwärtige Forschungslage zu Aris-tides überschaut, sich in die Quelle vertieft, der wir in der Hauptsache unsere Kenntnis des griechischen Originals seiner »Apologie« (wie üblich ohne Nennung eines Autorennamens) verdanken: den Johannes von Damaskus (zu Unrecht) zugeschriebenen »Barlaam und Joasaph«-Roman (in der wunderbaren, zweibändigen Ausgabe R. Volks, mit Apparaten), und außerdem in Rechnung stellt, dass es inzwischen auch von fragmentarisch erhaltenen Übertragungen ins Armenische und Georgische zuverlässige Ausgaben gibt – V. kennt sie natürlich, hat er sie doch, wenn ich recht sehe, selbst angeregt –, der muss eigentlich von selbst darauf kommen, dass die Rekonstruktion der ursprünglichen Textgestalt dieser »Apologie« offensichtlich ein hoffnungsloses Unterfangen ist (257 f. im Vergleich mit 207). Ähnliches gilt von dem längsten Kapitel des Buches, dem über Ignatius: Dass etwa die »retrospektive« Betrachtungsweise – und nur sie – zur Erkenntnis führe, dass im 16. Jh. das Ignatiusbild aus einer 12-, statt 3- oder 7-Briefe-Sammlung bezogen wurde (269), ist zwar wirkungsgeschichtlich wichtig, für die Einschätzung der Kirchenväter-Rezeption auf reformatorischer wie gegenreformatorischer Seite geradezu unentbehrlich; doch für die (nicht minder wichtige) Frage nach den ›Origins‹, in diesem Fall der authentischen Gestalt des Corpus Ignatianum und dessen Einordnung in die Theologiegeschichte des 2. Jh.s, ist es getrost zu vernachlässigen.
c. Die Anordnung der Fallbeispiele beruht nicht auf Zufall. Sie folgen, räumlich, dem Weg des »Aberkios«, auf den Spuren des Apostels Paulus, von Ost (Syrien) nach West (Rom), wo sich auch das mit ihm in Verbindung gebrachte Grabepitaph, im »Museo Pio Cristiano«, aufbewahrt findet; von hier aus führt (mit Hippolyt) der Weg über Athen (Aristides) erneut in den Osten, während die Reise zurück (mit dem gleichfalls dem apostolischen Vorbild folgenden Ignatius) von dort (Antiochien) aus über Kleinasien wieder in Rom endet. Und zeitlich betrachtet bewegen wir uns von Anfang des 3. Jh.s (»Aberkios« und Hippolyt) über den »unsicheren Kantonisten« Aristides bis zur Mitte des 2.Jh.s, einer Zeit, in der es, wie V. annimmt, eine Sammlung von Ignatiusbriefen, umfangreicher als die drei aus der syrischen Überlieferung bekannten (IgnPol, IgnEph, IgnRom), gegeben haben dürfte (vgl. 278.284 u. ö.), wenn auch nicht gerade im Umfang der Siebenergruppe der sogenannten »mittleren Rezension«, die für die meisten noch immer als das authentische Ignatiusgut gilt, nicht aber für ihn! Es ist die Zeit, in der V.s Rückreise in die Vergangenheit resolut endet. Einem Sprung ins 1. Jh. verweigert er sich ähnlich beharrlich wie (im älteren katholischen Volksglauben) der Gottseibeiuns dem Weihwasser (vgl. 19 f.59.62.152.205.209 f.227 f. u. ö.). Seine Gründe wollen mir jedoch überhaupt nicht einleuchten. Seine These lautet, eine Erzählperspektive (und somit auch eine Geschichtsdarstellung) habe sich an der nachweisbaren Präsenz von Texten und Begriffen und nur daran zu orientieren. Er beruft sich dafür u. a. auf ein dictum von K. Barth (19 f., Anm. 86), welches besagt: »Geschichte vor der Geschichte ist erkennbar nur den Forschern mit Katzenaugen, die im Dunkeln sich zurechtfinden« (Die Theologie und die Kirche, München 1928, 10). Und er klammert sich an eine Minderheitenmeinung unter Exegeten (hierzulande vor allem), wonach die – gewiss nur zu rekonstruierende – sogenannte Logienquelle (Q) eine Luftnummer sei und durch ein (freilich ebenfalls nur zu rekonstruierendes!) vorlukanisches Evangelium zu ersetzen, das dann Markion aufgriff und zum Hauptbestandteil seiner καινὴ διαθήκη machte, mit der Folge, dass nun die Verfasser der vier kanonischen Evangelien zur Feder griffen und sehr bald, grosso modo, der neutestamentliche Kanon entstand. Indes, ist es ratsam, bei allem Respekt, ausgerechnet Barth zum Ratgeber in historiographischen Fragen in Anspruch zu nehmen – ihn, den Vertreter der »Dialektischen« oder »Wort-Gottes-Theologie«, den man in erster Linie im Blick hatte, wenn die Schuld an einer »antihistoristischen Wende« innerhalb der Geschichte der neueren protestantischen Theologie gegeben wurde? Mit der Mehrheit der Exegeten aber bleibe ich davon überzeugt, es bedürfe keiner »im Dunkeln« einzig tauglichen »Katzenaugen«, um Verbindungslinien zu entdecken zwischen dem werdenden neutestamentlichen Kanon und den »Origins« der Christentumsgeschichte, Jesus von Nazareth, der gewiss noch kein »Christ« war, ohne den es allerdings nach aller Wahrscheinlichkeit auch nie ein »Christentum« gegeben hätte! Und, abgesichert durch datierbare Gegebenheiten wie das Corpus der (höchstwahrscheinlich) »echten« Paulusbriefe sowie das erhaltene Papyrusfragment mit einem im späteren Johannesevangelium be­gegnenden Text, lassen sich in Evangelienüberlieferungen durchaus Bezüge herstellen auf datierbare Ereignisse der jüdischen Geschichte im 1. Jh., die kaum vager sein dürften als die aus der Mitte des 2. Jh.s, auf die sich V. seit Längerem kapriziert (vgl. 226–228). Ich nenne nur, außer dem Bezug auf den von Josephus eingehend beschriebenen »jüdischen Krieg« (66–73), die bei Philo (Legat. 200–203) überlieferte Nachricht, 40 n. Chr. habe auch in Rom die schockierende Kunde die Runde gemacht, Kaiser Gaius, mit dem Spitznamen Caligula, habe angeordnet, eine ihn darstellende Ko­lossalstatue im Allerheiligsten des Jerusalemer Tempels aufzustellen und vor ihr zu opfern. Die Erregung muss groß gewesen sein, gewiss auch bei den nach Karfreitag und Ostern in Jerusalem verbliebenen Jesusanhängern. Schien sich doch die Weissagung Da­niels von der Aufstellung des »Gräuelbildes« der Verwüstung im Heiligtum und ihren verheerenden Folgen (Dan 9,27; 11,31; 12,11) erfüllt zu haben, das Ende der Zeiten also gekommen zu sein oder doch nahe bevorzustehen.
Gleichviel: V.s Buch ist viel zu klug, viel zu reich an Anregungen und wichtigen Informationen, es ist übrigens auch (meist) angenehm zu lesen, weil immer wieder, humorvoll und anekdotenreich, in einem lockeren Plauderton gehalten, als dass ich etwas zurücknehmen könnte oder wollte von der Eingangsfeststellung; ich bleibe mit M. Edwards davon überzeugt: Wer sich ernsthaft auf das Christentum im 2. Jh. einzulassen gedenkt, kann es sich kaum leisten, sich die Lektüre dieses Buches zu schenken!