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Ausgabe:

April/2021

Spalte:

282-284

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Becker, Eve-Marie

Titel/Untertitel:

Der Philipperbrief des Paulus. Vorarbeiten zu einem Kommentar.

Verlag:

Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag 2020. 323 S. = Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie, 29. Kart. EUR 78,00. ISBN 9783772086885.

Rezensent:

Lukas Bormann

Wer derzeit auf einen aktuellen Kommentar zum Philipperbrief zurückgreifen möchte, ist auf die englischsprachigen Kommentierungen von John Reumann (2008) und Paul A. Holloway (2017) angewiesen. Die jüngste Kommentierung des Philipperbriefs in der Reihe Meyers kritisch-exegetischer Kommentar stammt von Ernst Lohmeyer und erschien im Jahr 1928 bzw. 1930. Eve-Marie Becker, Professorin für Neues Testament in Münster, bereitet eine Kommentierung in dieser Reihe vor und hat in dem zu besprechenden Band 14 bereits publizierte und zwei unveröffentlichte Artikel als »Vorarbeiten« zusammengestellt. Die 16 im Buch zu Kapiteln geordneten Beiträge (I–XVI) sind in den Jahren zwischen 2013 und 2018 entstanden und stellen eine »Momentaufnahme« (18) dar. Im Register ist der Philipperbrief »wegen der Menge der Einträge« nicht berücksichtigt (11), was die Nutzung des Buches erschwert. Die Artikel verdanken sich vor allem Einladungen zur Beteiligung an Konferenzen und Sammelbänden (18). Manche dieser Anlässe waren interdisziplinär ausgerichtet oder wandten sich an eine akademisch gebildete Öffentlichkeit, so dass einige Passagen Grundwissen zu Paulus reproduzieren. Der Band ist unter open access kostenlos zum Download in der elibrary des Verlags verfügbar (elibrary.narr.digital).
Der erste Hauptteil enthält fünf rezeptions- und forschungsgeschichtliche Arbeiten, die sich mit der vermeintlich ersten Rezeption des Philipperbriefs in der Abschiedsrede des Paulus in Milet (Apg 20,18–36) (I), mit Melanchthons rechtfertigungstheologischer In­terpretation von Phil 3,7–11 (II), Rembrandts Bildnis des Paulus in Gefangenschaft (III), dem paulinische Verständnis von »Sorge« (IV) und mit den Kommentierungen des Briefs in Meyers Kommentarwerk (V) befassen.
Im zweiten Teil sind drei Beiträge zur »Person« des Paulus und seiner literarischen Selbstdarstellung zusammengestellt, die sich autobiographischen Aspekten in den Paulusbriefen (VI), seiner »Person« (VII) und seiner Selbstdarstellung als »idealer Repräsentant der humilitas« (143) widmen (VII).
Der dritte Teil wendet sich der literarischen und der realen Welt des Paulus zu, indem der »Briefeschreiber« (155) in die frühkaiserzeitliche Epistolographie eingeordnet (IX), sein Umgang mit vorpaulinischen Traditionen analysiert (X) und schließlich der Chris-tushymnus in seiner paränetischen Funktion für die paulinische Verkündigung an die Philipper interpretiert wird (XI).
Im vierten Teil finden sich die exegetisch aufschlussreichsten Arbeiten: Die Selbstbezeichnung des Paulus als »Sklave« (δοῦλος) in Phil 1,1 wird in Verbindung mit der Annahme der Sklavengestalt durch Christus in 2,7 als Aufforderung an die Philipper zur Nachahmung gedeutet (XII), was an anderer Stelle noch einmal differenzierter erörtert wird (257 f.). Aus dem Vergleich der Hinrichtungshaft des Sokrates und der Prozesshaft des Paulus wird der Schluss gezogen, dass vor allem Bewährung und Verzicht »die enorme Wirkung beider Personen auf ihre Nachwelt« (240) begründet hätten (XIII). Im Philipperbrief liege eine »mimetische Ethik« vor, die Paulus an Beispielen wie Christus in 2,6–11 »literarisch fiktiv« (251) inszeniere. Die paulinische Ethik lasse sich auf die Kurzformel von 3,17 »werdet zusammen meine Nachahmer« (259) bringen (XIV). Die Polemik in 3,2–4a sei literarisch stilisiert, sei ein »überzeichneter Negativkontrast zur autobiographischen Rede des Paulus in Phil 3« (280) und verweise ebenso wenig wie 3,18 f. auf konkrete Konflikte (XV). Der Verweis auf das weinende Sprechen ( κλαίων λέγω) in 3,18 wird als Beteiligung am »globalen mediterranen Tränen-Diskurs« (285) und ebenfalls als literarisches Tränen-Motiv gedeutet (XVI).
Der Schwerpunkt der Analysen liegt auf der Zu- und Einordnung der Paulusbriefe in literatur- und kulturwissenschaftliche Fragestellungen. Diese an vielen Stellen anregende und weiterführende Herangehensweise erliegt bisweilen der Gefahr, dass die Individualität des Paulus und seiner Theologie sowie die Singularität der historischen Konstellationen, in denen er wirkte, zu sehr in den Hintergrund treten. Für diejenigen, die den Philipperbrief und die Menschen hinter der Briefkommunikation in ihrer Individualität und Besonderheit erfassen wollen, bietet die durchweg verfolgte Arbeitsweise manches Erhellende, aber auch Widersprüchliches und weniger Überzeugendes, etwa wenn der Philipperbrief als das Schlüssel- oder gar Gründungsdokument christlicher humilitas präsentiert wird (142) oder wenn die annalistischen Informationssplitter über Seneca bei Tacitus zu einem vermeintlich geschlossenen Senecabild verdichtet werden und dieses dann die Beziehung zwischen Apg 20,18–36 und dem Philipperbrief plausibel machen soll (24–28). Oft fragt man sich, ob man dem eher assertorischen als argumentativen Stil folgen möchte, der Definitionen aus der kultur- und literaturwissenschaftlichen Forschung übernimmt, in Aspekte aufteilt (gerne wird aufgezählt 1., 2., 3.) und die Bedeutung des Paulus für eine vermeintlich größere Sache, etwa die Literatur- und Geistesgeschichte (150: »Paul’s place in the literary and intellectual history«), reklamiert. Nur selten kommt demgegenüber die individuelle Kreativität der paulinischen Theologie als Antwort auf historisch singuläre, aber gleichwohl über sich hinausweisende Herausforderungen in den Blick.
Welches Profil ist von einem Kommentar zu erwarten, der an diese Vorarbeiten anknüpfen wird? Der Philipperbrief wird als literarisches Produkt eines »epistolaren Autors« interpretiert werden. Er wird als letzter erhaltener authentischer Brief des Paulus verstanden werden, dessen Autor vor allem an seiner »Selbststilisierung« (207 u. ö.) interessiert ist und diese funktional auf die Sicherung seiner »Autorität« (102 u. ö.) ausrichtet. Der Brief dient in dieser Sichtweise vor allem der ethischen Weisung an die Philippergemeinde, der die Niedrigkeit und Demut des Paulus (Phil 1,1) wie Christi (2,6–11) zur Nachahmung anempfohlen wird. Die Polemik in 3,2–4a zielt nicht auf eine bestimmte historische Konfliktsituation und damit auf theologische Gegner (oder zeitgemäßer: »Widersprechende«), sondern dient ebenfalls der biographischen Selbststilisierung des Paulus. Politische Konnotationen oder gar eine Kritik an der religiös-politischen Propaganda des julisch-claudischen Hauses liegen weder implizit noch explizit vor, vielmehr drängt das Schreiben auf die Beibehaltung bestehender Ordnungen.
Man darf gespannt sein, wie dieses Konzept, das historische, kommunikative, politische und eschatologische Bezüge gering, hingegen ethische, affirmative und literarische Leseweisen hoch einschätzt, angesichts einer vertieften Beschäftigung mit dem Wortlaut und den Abfassungsverhältnissen des Philipperbriefs, wie man sie von einem Kommentar in der Tradition des kritisch-exegetischen Kommentars Meyers erwarten darf, umgesetzt werden wird.