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Ausgabe:

März/2021

Spalte:

219-220

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Siegwalt, Gérard

Titel/Untertitel:

Lettres d’un craignant-Dieu à ses petites-filles. Et à quelques autres, sur plusieurs questions existentielles.

Verlag:

Paris: Les éditions du Cerf 2019. 256 S. = Cerf Patrimoines. Kart. EUR 20,00. ISBN 9782204137164.

Rezensent:

Fritz Lienhard

Gérard Siegwalt ist bekannt für seine Dogmatik, die in fünf Teilen und zehn Bänden veröffentlicht wurde, und seine »Theologischen Schriften«, die in fünf Bänden erschienen sind. In der vorliegenden Arbeit zieht er die Substanz aus seinen Reflexionen in Schriften, die eher »existenziell« sein sollen. Der Status eines Textes, der von einem Großvater für seine Enkelinnen geschrieben wurde, gibt ihnen eine sehr persönliche Note. Gleichzeitig ermöglicht der direktere Schreibstil, bestimmte theologische Motive klarer zu identifizieren als in eher technischen Schriften, was auch ein besseres Verständnis letzterer ermöglicht. Zudem werden sie durch die biographischen Aspekte in einen Kontext gestellt. Dieses Buch bietet somit wertvolle Schlüssel zum Verständnis.
Nach einer ersten Seite, auf der die Bedeutung des Begriffs »gottesfürchtig« (craignant Dieu) erläutert wird, weist ein Vorwort auf das allgemeine Ziel der Arbeit hin, wobei es sich von theoretischen Texten zugunsten einer Suche nach »Resonanz« abhebt. S. führt einen Dialog mit der Physik und ganz allgemein mit dem zeitgenössischen Denken. Auf diese Weise entfernt er sich von der traditionellen Alternative zwischen Wissenschaft und Glauben und entwickelt eine zutiefst dialogische Denkweise. Der erste Brief, der an die Enkelinnen S.s gerichtet ist, befasst sich mit dem Begriff des Erbes. Insbesondere stellt sich die Frage nach der Weitergabe des Glaubens und des Interesses an der Theologie. Im Zusammenhang mit den verschiedenen Trauererfahrungen in der Biographie S.s steht das Thema »stirb und werde« im Mittelpunkt. Ein zweiter Brief befasst sich mit dem so genannten Anthropozän und der ökologischen Krise. S. war ein Pionier auf diesem Gebiet, da er bereits in den 1970er Jahren begann, sich für dieses Thema zu interessieren. S. bezieht Stellung gegen jede Moralisierung, die sich mit religiöser Legitimität brüstet. Die ökologische Frage ist eher eine ethische Frage, Gegenstand eines prophetischen Wortes. Sie führt zu einem Zusammenspiel von wissenschaftlichem Denken und theologischer Reflexion. Es geht darum, die ökologische Krise in eine Chance zur Erneuerung, zur Rettung der Menschheit vor Gott zu verwandeln. Die wesentliche These des dritten Briefes zum Thema Gebet besteht darin, es eher als ein Sein denn als ein Tun zu betrachten. Es geht weniger darum, ein Gebet vor einem Gott-Vater zu formulieren, als vielmehr darum, eine Haltung einzunehmen. Auf diese Weise ist das Gebet nicht nur einer Konfession vorbehalten, sondern stellt ein Angebot für die gesamte Menschheit dar. Immer wieder bezieht sich das Konzept von Gott auf eine von Natur aus interreligiöse Mystik. Diese mystische Dimension führt auch dazu, Raum für die Dimension des Schweigens in der theologischen Arbeit zu schaffen.
Die anderen Briefe werden sozusagen »unter dem Deckmantel« der Briefe an die Enkelinnen veröffentlicht, so dass der sehr persönliche Ton erhalten bleibt. Ein vierter Brief ist an einen humanistischen und religiös gleichgültigen Freund gerichtet. Es geht um Freundschaft und das Wesen des religiösen Glaubens. Außerdem unterscheidet S. die etwas lasche Toleranz von der dynamischeren Offenheit gegenüber anderen. Ein fünfter Brief an einen römisch-katholischen Priester befasst sich mit Sexualität. Die Metapher des »Raubtieres« zu diesem Thema ist ein wenig überraschend, aber es geht darum, sowohl die Schönheit als auch die Gefahr auszudrü-cken. Ebenso geht es darum, die Sexualität zu zähmen. An Klarheit mangelt es S. jedoch nicht, wenn er sagt, dass Priester so bald wie möglich heiraten dürfen sollten. Ein sechster Brief ist an anonyme Personen gerichtet, die ihm »mit der Nase am Smartphone« begegnet sind. Hier geht es um Sucht. Außerdem spricht er über die Praxis der sozialen Netzwerke, die seiner Meinung nach vom Leben und der Realität selbst ablenken. Er unterscheidet zwischen einem »inkarnierten« und »entflohenem« Leben. Ein siebter Brief richtet sich an junge Pfarrpersonen und befasst sich mit der Unterscheidung zwischen dem Spirituellen und dem Zeitlichen. S. verzichtet auf die allzu scharfe Unterscheidung zwischen Kirche und Welt. In gleicher Weise lehnt er eine Einschränkung des Glaubens auf die Kirche ab. Strukturell wehrt S. jeden Dualismus ab. Insbesondere konzentriert sich die Debatte auf die Frage des Verhältnisses zur politischen Wirklichkeit. Ein achter Brief ist an einen römisch-katholischen Bischof gerichtet und spricht über die Kirche. Dies ist offensichtlich ein wichtiges Thema in der ökumenischen Debatte. S. gesteht sein Interesse am Katholizismus und seine zeitweise Versuchung, zum Katholizismus zu konvertieren. Er ist jedoch der Meinung, dass es besser ist, innerhalb der eigenen religiösen Konfession zu bleiben, um sie weiterzuentwickeln. In der Tat ist es in der religiösen Pluralität wichtig, die eigene Endlichkeit und damit die Beschränkung auf eine bestimmte Konfession anzunehmen. Tatsache bleibt, dass S. sich in wesentlichen Fragen stets von der römischen Kirche distanziert hat. Er stellt insbesondere den Ekklesiozentrismus und den Klerikalismus in Frage. Der neunte Brief richtet sich an »junge Menschen« und befasst sich mit der Nachfolge Christi. Es geht darum, das Christentum in seinem Verhältnis zu anderen Religionen darzustellen. Die Wahl einer Religion ist mit der Selbstakzeptanz verbunden. S. setzt das sich selbst Finden und das Gott Finden gleich. Er besteht auf die Dimension der religiösen Erfahrung als Zugang zum Glauben.
Weitere Briefe sind als Anhänge beigefügt: Ein Brief befasst sich mit Trauerarbeit, wobei der Schwerpunkt auf der Dimension »Arbeit« liegt, die mit einer Entbindung verglichen wird. Sie lässt einen wachsen und öffnet die Partizipation an der letzten Wirklichkeit, das heißt an Gott. Ein weiterer Brief ist an muslimische Freunde gerichtet und betrifft die Nachbarschaft. Sie ist Ausdruck einer Gesprächsgruppe mit dem Namen »Bruderschaft Abrahams«. Ziel ist eine friedliche Nachbarschaft, die zur Praxis des Dialogs führt. Ein weiterer Brief bezieht sich auf interkirchliche Treffen und richtet sich an Glaubensgeschwister, in diesem Fall anderer Konfessionen. Über die geschwisterlichen Beziehungen hinaus ist das Ziel die eucharistische Gastfreundschaft.
Natürlich gibt es in diesem Buch Elemente, die den von S. angestrebten Dialog erschweren. Der erste Satz ist acht Zeilen lang und schließt dadurch direkt einen großen Teil der potentiellen Leserschaft aus. Zudem ist die Thematik teilweise ein wenig unkonventionell, insbesondere in Bezug auf das Smartphone. Eine eingehendere Untersuchung würde dazu beitragen, bestimmte Klischees zu vermeiden. Darüber hinaus entspricht die Denkweise zu politischem Engagement nicht unbedingt den Anliegen der heutigen Pfarrerinnen und Pfarrer, sondern eher denen der Kolleginnen und Kollegen aus den 1960er und 1970er Jahren. Vielmehr geht es beim politischen Engagement der heutigen Pfarrpersonen um Ökologie, was im Einklang mit S. selbst stünde. Dennoch bin ich von der Aktualität und Relevanz des Denkens dieses Theologen überzeugt. Heute sind neue Religiositäten und der Pentekostalismus die beiden wachsenden weltweiten Bewegungen. Sie ähneln sich in ihrem Synkretismus, dem Glauben an die Zunahme der menschlichen Fähigkeiten, dem Beharren auf emotionaler Innerlichkeit und der Ablehnung von Traditionen, Dogmen und Institutionen. S. greift diese Motive positiv auf und setzt sie konzeptionell in Beziehung zu den zentralen Aussagen des christlichen Glaubens. Diese Arbeit ist zu begrüßen.