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Ausgabe:

März/2021

Spalte:

208-211

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Agamben, Giorgio

Titel/Untertitel:

Der Gebrauch der Körper. Aus d. Ital. übers. v. A. Hiepko u. M. von Killisch-Horn.

Verlag:

Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag 2020. 478 S. Geb. EUR 25,00. ISBN 9783100024510.

Rezensent:

Hartmut von Sass

Spulen wir kurz zurück und dann wieder etwas vor: Bereits 1995 legte Giorgio Agamben eine eindringliche Analyse von politischer Souveränität und dem durch sie ausgeschlossenen »nackten Leben« vor. Im titelgebenden homo sacer erblickte A. jene entkleidete Exis-tenz, die nur noch getötet werden könnte, ohne geopfert werden zu dürfen (dort 17). Warum? Weil dieses Leben nichts mehr wert sei, so dass selbst noch das sacrificium dieses Lebens im Leeren verpuffen müsste. Die dubiose Leistung der souveränen Macht war es, ebendieses nackte Leben auszuschließen, um selbst bestehen zu können. A. sah demnach eine biopolitische Produktion am Werk, die das Gemeinwesen dadurch ermöglichte, dass es eine Ausnahme durch Exklusion machte – mit der Pointe, dass der Ausnahmezustand des Ausschlusses »nackter« Existenzen in der Spätmoderne zur Regel umfassender Exklusionsdynamiken geworden sei: von der Sklaverei bis zum KZ (ebd., 22).
Und nun, fast forward: Italien im Frühjahr 2020 – Bilder von LKWs mit Corona-Leichen werden übermittelt, während sich ein ganzes Land in den verordneten Ausnahmezustand begibt, gleichsam als negative Avantgarde für den Rest Europas. In mehreren Kommentaren (zumeist für die NZZ im März und April) kommentiert A. das Geschehen, ohne es als solches in den Blick zu nehmen, sondern um es sogleich philosophiegeschichtlich einzuholen: »Offensichtlich ist es so, dass es die Seuche irgendwie, wenn auch nur unbewusst, bereits gab« (ebd. am 07.04.2020). Das neue Credo eines social distancing führe, so A., weiter – zu einer neuen Massengesellschaft nur noch passiver Menschen; man glaube an nichts mehr als an das nackte biologische Leben, das es um jeden Preis zu retten gelte. Im Corona-Regiment erfülle sich nur jene Biopolitik des Ausschlusses, um die Ausnahme nun endgültig zur Regel werden zu lassen und die eigene Souveränität in diesem Übergang zu dokumentieren.
Doch diese letztere Schmittianische Wendung gehört längst ins Arsenal der pseudokritischen Verschwörungsunterstellungen, die so weit reichen, Corona als bloße Erfindung zur Souveränitätsstiftung zu stilisieren. Und jene Analogisierung unterstellt zudem, jene Toten seien der schon immer bezahlte Preis für die Etablierung des »Systems« – eine Parallele, die nur dadurch das ungemein Perfide umgeht, dass A. nun gerade gegen diesen permanenten Ausschluss anschreibt.
Mit dem hier anzuzeigenden Buch zwischen homo sacer und Pandemie endet ein gewaltiges Korpus, dessen Aufbau wie folgt aussieht:
I: Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben
II.1: Ausnahmezustand
II.2: Stasis. Der Bürgerkrieg als politisches Paradigma
II.3: Das Sakrament der Sprache. Eine Archäologie des Eides
II.4: Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung
II.5: Opus Dei. Archäologie des Amts
III: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge
IV.1: Höchste Armut. Ordensregeln und Lebensform
IV.2: Der Gebrauch der Körper
Bei diesem letzten und neunten Band handelt es sich nicht um eine Neuerscheinung, sondern um die deutsche Übersetzung des bereits 2014 publizierten L’uso dei corpi. Und auch um einen Abschluss handele es sich nicht wirklich, wie A. in der Vorbemerkung zugibt, weil bei dieser Art der »Forschungsarbeit« Neuanfänge oder Bilanzen ohnehin nicht erwartet werden könnten (9). Und so stürzt der Leser – unvorbereitet durch den Autor und ohne jede Leseführung oder Argumentationshilfen – in einen Gedankengang, der auch von diesem Buch nur fragmentarisch gespiegelt und wohl einfach weiterlaufen wird – wie ein »stream of conscious-ness«, den man in einem »Denktagebuch« irgendwie einzufangen versucht.
Das Buch besteht aus drei sehr unterschiedlichen Teilen, die mit durchnummerierten Einheiten arbeiten und angereichert sind durch zahlreiche, meist etymologische Subtexte zu zentralen Begriffen oder Wortfeldern. Intertextuelle Verweise, insbesondere auf die Bände I und II.1, treten hinzu und machen darauf aufmerksam, dass dieses end- und anfangslose Konvolut immer wieder zu (familien)ähnlichen Konstellationen zurückkehrt und die bekannten Stimmen – vor allem Heidegger, aber auch Benjamin, Arendt, Foucault – mit nicht selten eigentümlichen Lesarten konfrontiert.
Der erste Teil geht unterschiedlichen Modi des Gebrauchs nach und entlehnt seinen Titel (wie das gesamte Buch) einer Stelle aus Aristoteles’ Politik: he tou somatos chresis (1254b 18). Hier wird noch einmal die Differenz zwischen bios und zoè, d. h. von politisch qualifiziertem und natürlichem Leben eingespielt; dabei wird sogleich hinzugefügt, dass die obige Dynamik der Ausnahme als »ex-ceptio« dafür sorgt (80), dass das nackte Leben sich selbst der Leistung souveräner Macht verdanke und damit bereits politisch sei (437). An einer Figur aber wird diese Bewegung von Eingemeindung und Ausschluss besonders greifbar, und sie zieht sich durch das gesamte Buch: der Sklave als Fanal des nackten Lebens. Hier haben wir, so A., einen automatenhaften »Menschen ohne Werk« vor uns (59), dessen ergon allein im Gebrauch seines Körpers bestehe (42); der Sklave stehe für ein unmenschliches Leben, das vollständig in der Sphäre des Gebrauchs aufgehe und das als Verdrängtes sich umso resilienter erweise (55). Doch jene Figur wird nicht historisiert, sondern typisiert, um zuletzt festzustellen, dass »die Hypertrophie der technologischen Dispositive letztlich eine neue und beispiellose Form der Sklaverei hervorgebracht hat« (147). Was sich also in der Sklaverei dokumentiert, ist das, was sich in der neuzeitlichen Technik vollende: die absolute Instrumentalität von etwas ohne Eigenwert, ohne Seele, ohne wirkliches Leben (143).
Ein theologischer Seitenblick, der gewagt, aber interessant ist: Im Priestertum erkennt A. das sacerdotiale Sklaventum, weil der Hirte ein bloßes, immerhin belebtes Werkzeug Christi sei, wie vor allem in der Sakramentenlehre deutlich werde (133 f.). Oder im Originalton: »Die moderne Technik hat ihren Ursprung nicht nur im Traum der Alchemisten und Zauberer, sondern wahrscheinlich auch in der be­sonderen magischen Tätigkeit, die die absolute, vollkommene in­strumentale Wirksamkeit der sakramentalen Liturgie ist.« (143)
Der zweite Teil fragt nach der Möglichkeit einer philosophia prima. Zunächst lässt A. immerhin durchscheinen, dass die idealistische Transzendentallehre und ihre analytische Nachfolge in Form der Sprachphilosophie als Kandidatinnen für solch eine Grundierung nicht (mehr) in Frage kommen, so dass der dortige Subjektivismus kontextualisiert werden müsste: »Der Sprecher ist auf diese Weise an die Stelle von Kants transzendentalem Subjekt getreten, und die Sprache hat den Platz des Seins als historisches Apriori eingenommen.« (201) Was bleibt, ist eine »Archäologie« – oder wie A. auch sagen kann: eine »Hodologie«, die also dem Weg (hodos) nachgeht, »den das Sein historisch jedes Mal zu sich selbst öffnet« (202). Was A. folglich abweist, ist eine zweite Spaltung, die wiederum bis zu Aristoteles zurückreiche (203), nämlich zwischen Sprache und Sein, zwischen vorausgesetztem Subjekt und seinem nur vermittelten Zugang zur Welt (210). Das Anliegen, die »Wirklichkeit« zurückzugewinnen, ist aus den Programmen »neuer Realismen« bestens bekannt. A. fügt diesen Ambitionen nun zweierlei hinzu: dass diese Wiedergewinnung nur möglich sei, indem man sich durch die westliche Philosophiegeschichte durcharbeite; und dass dazu eine »modale Ontologie« erforderlich sei, die das Dasein nicht als Substanz, sondern als eine bereits in die Umwelt eingelassene Lebensweise verstehe, mithin das Dasein nicht länger substantivisch, sondern adverbial bestimme (285). Beides – der archäologische Zugriff und der pragmatistische Kontextualismus – verrät einmal mehr die Nähe zum ersten Teil von Sein und Zeit.
Im letzten Abschnitt kehrt A. zu jener eingangs charakterisierten Spaltung zwischen bios und zoè zurück – nun aber mit der Frage, wie sie überwunden werden könnte (333.345). Wie also ist zu verhindern, dass der Dualismus von Politik und Ausnahme – eine Teilung, die selbst nicht Ausnahme, sondern politisch-souverän ist – immer wieder aufbricht? Zunächst sei daran zu erinnern, dass beide Seiten des Duals zusammengehören und ihre Beziehung als das zu definieren sei, was sie als Elemente erst konstituiert; die Be­standteile seien nur durch ihre Komplementarität zu definieren (452). Von der Mengenlehre zur Politik gelangt A. dann recht überraschend dadurch, dass der Wittgensteinsche Term der »Lebensform« (bei A. manchmal auch »Lebens-Form« oder »LebensForm« geschrieben) reaktiviert wird. Zwar geht auch A. auf die Regelhaftigkeit dieser Formen ein, um jenen Begriff dann aber doch ganz anders zu verwenden, als man es aus den Philosophischen Untersuchungen gewohnt ist; denn A. bestimmt eine Lebens-Form als »ein Leben, das mit seiner Lebensweise untrennbar verbunden ist, ein Leben, in dem es so etwas wie ein nacktes Leben, das isoliert und abgetrennt werden könnte, gar nicht gibt« (351). Näher an der antiken Tradition des guten Lebens oder der eudaimonia-Lehre kann A. auch sagen, dass das glückliche Leben dasjenige sei, das seine eigene Form nur nicht als Eigenschaft seiner selbst habe, sondern das diese Form ist (369). Oder noch einmal mit dem Aristotelischen Lebensbegriff in doppelter Fassung: »Einen politischen bios hat derjenige, dem seine zoè nicht als ein Teil, nicht als etwas Abtrennbares (d. h. als nacktes Leben) eignet, sondern seine zoè, ganz LebensForm ist.« (371) Wie aber soll das gehen? Ganz versteckt lässt A. durchblicken, auf Platons so genannten »Wächterrat« zu vertrauen, jene »nächtliche Versammlung« von Intellektuellen, die darauf Acht geben, dass der politische Souverän nicht länger gegen die Wahrheit des Seins verstoße.
Der dreiteilige Aufbau ist also ziemlich klar: Zunächst wird eine Spaltung angenommen; dann wird behauptet, diese ziehe sich durch die gesamte Geschichte des Westens; und schließlich wird skizziert, wie der Zustand ihrer Überwindung aussehe. Gegen alle drei Module lassen sich sehr leicht Einwände vortragen: Einmal abgesehen davon, dass A. dem Dual von bios und zoè einen Allgemeinheitsgrad – vom doppelten Leben, über den typisierten Sklaven und Genozide bis zur Pandemie – zutraut, der ihm kaum zukommen dürfte, beschreibt A. jene Dynamik nur, erklärt sie aber nicht. Dann sollte man es lieber mit Girards Arbeiten zum Sündenbockmechanismus halten, die explikativ womöglich ebenso unbefriedigend bleiben, aber zumindest Erklärungsansprüche er­heben, die wahr sein könnten, selbst wenn man sie für falsch hält. Zudem gerät A.s Archäologie in ein Narrativ der Unvermeidlichkeiten, das in jener Spaltung ein Geschick, nicht eine Kontingenz erkennt. Jenen Ton der pessimistischen Dringlichkeit hatte auch schon Heidegger in seiner raunenden Rede von der »Seinsvergessenheit« angeschlagen, die jedoch ihrerseits das Sein völlig vergessen hatte: Die Geschichte des Westens auf eine in der Antike angeblich angelegte Amnesie zu verkürzen, ohne irgendeinen Seitenblick auf historische Kontexte jenseits erster oder letzter Philosophien zu wagen, ist ein derartig kognitivistischer Reduktionismus, der nicht nur hybrid ist, sondern einfach lächerlich, da witzlos wirkt. Und jene erlösende Lebensform – wenn man denn nur wüsste, wie sie genau aussehen soll! – bleibt so lange ein kontrafaktisches Konstrukt, wie man die Kapitel gewonnener Freiheit – von der Abschaffung der Sklaverei über die Gewinnung demokratischer Mitsprache bis hin zur Idee einer inklusiven Politik des Sozialen – mit kei nem Wort bedenkt. Diese Erinnerung ist kein blind-liberaler Geschichtsoptimismus, sondern die Forderung danach, die globale These wenigstens probehalber einer Gegenlektüre auszusetzen. So ist A. selbst genau das passiert, was er im großen Stil geschichtlich am Werk zu sehen glaubt: Er hat als auktorialer Souverän die »nackt« bleibende Gegenseite ausgeschlossen, um die Einwände gegen sein herrschendes, aber einseitiges Narrativ zur »ex-ceptio« zu erklären – und gegen sie zu immunisieren. Dies aber könnte sich nun seinerseits als eine Form verschwörerischer Pandemie herausstellen.