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Ausgabe:

März/2021

Spalte:

206-208

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Tersteegen, Gerhard

Titel/Untertitel:

Abhandlungen zu Frömmigkeit und Theologie. Hg. v. J. Burkardt.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 356 S. = Edition Pietismustexte, 12. Kart. EUR 24,00. ISBN 9783374053575.

Rezensent:

Ulrich Kellermann

Der Detmolder Historiker und Staatsarchivdirektor Johannes Burkardt bereichert die Tersteegenforschung wieder einmal mit einem wichtigen Beitrag, nachdem er nach langer Suche in der ZBU Ams-terdam ein Exemplar der Vorrede Tersteegens zu einer Lutherbibel von 1731 aufgespürt und den Befund 2015 veröffentlicht hat. Er bringt nun eine textgeschichtliche Aufarbeitung von zehn zentralen Tersteegen-Texten und erfüllt bei ihnen das Desiderat, ihren Überlieferungsstrang vom ältesten Text bis zur Endfassung zu verfolgen. Der preisgünstige Textband wird umso wichtiger zum wissenschaftlichen Kennenlernen Tersteegens, als das umfangreichere Werk Dietrich Meyers »Gerhard Tersteegen. Ich bete an die Macht der Liebe« (1997) vergriffen ist.
Alle Texte werden einschließlich der Interpunktion nach den ältesten auffindbaren Quellen buchstabengetreu wiedergegeben und enthalten die lateinischen Fußnoten Tersteegens auf der gleichen Seite. In kommentierenden numerischen Fußnoten zu jeder Seite bringt Burkardt die Übersetzung lateinischer, französischer und niederländischer Begriffe und lateinischer Zitate, wichtige theologische Hinweise, die Bibliographie der von Tersteegen ge­nannten Quellen und Literatur und vor allem die Varianten der späteren Editionen.
Zum Opus gehören drei schwer zugängliche Schriften: (Nr. 5) Judas excommunicirt, oder Verhandlungen von dem Abendmahl Judä Ischarioth (vor 1737; gedr. nach der Abschr. 1785 in der UB Bonn; in der Ausgabe Meyer nicht enthalten); (Nr. 9) Beweis, daß man demjenigen, der von Gott in seinem Gewissen zurückgehalten wird, mit offenbaren Weltkindern und Gottlosen nicht zum Abendmahl zu gehen, seine Gewissensfreiheit ungekrängt lassen müsse (1768?) nach dem Erstdruck 1774 (UB Bonn und ZBU Amsterdam); (Nr. 10) Vom Separatismo und der Herunterlassung (späte Abfassung) nach der Abschrift 1785 in der UB Bonn.
Text Nr. 1 ist der am meisten überarbeitete Traktat Von dem Un­terschied und Fortgang in der Gottseligkeit. Dieser Traktat war Ter-steegens Vorrede zu seiner auszugsweisen Übersetzung von Jean de Bernières-Louvignys französischen Schriften unter dem Titel Das Verborgene Leben mit Christo in GOtt (1726) und ist hier nach dem ursprünglichen Wortlaut und im vollen Um­fang der Vorrede wiedergegeben. Ab der Rezeption im Weg der Wahrheit (WdW) 21750 (5. Stück) blieb der mit einer Biographie Bernières’ und von Tersteegen mit editorischen Hinweisen versehene Teil IV unberücksichtigt (außer dem gekürzten Schlussgebet nun in III 38). Dieser Edition fügte Tersteegen das (Nr. 4) Handbrieflein von der Mystik (1735) als An­hang hinzu. Seinen Wunsch, auch (Nr. 8) den Kurzen Bericht von der Mystik (1768) als zweiten Anhang zur weiteren Beseitigung von falschen Vorstellungen von der Mystik aufzunehmen, realisierte man erst in WdW 51781. Alle drei Texte führen hervorragend in das Wesen und die Bedeutung der Mystik bei Tersteegen ein.
In den beiden in der Frühgeschichte getrennten Texten (Nr. 2.1) Einleitung zu: Kurtz- und gründlicher Unterricht von der Heiligen Schrift (1734) und (Nr. 2.2) Anweisung zum rechten Verstand und nützlichen Gebrauch der Heiligen Schrift (= Vorwort zur Lutherbibel 1731), die unter wechselnden Titeln und weiteren Bearbeitungen bereits seit WdW 11735 ihre literarische Zusammenbindung erfuhren, sowie im 2. Teil des Traktats (Nr. 7) Erklärung über einige Punkte von dem Glauben, der Rechtfertigung, dem geschriebenen Wort Gottes (1754–57; Erstdruck um 1757 unauffindbar, nach dem ältesten Druck Essen 31763 im Vergleich mit einem undatierbaren Druck [vor 1762?] in der UB Basel; erweitert und aufgenommen in WdW 41768 am Ende als Erste Zugabe) sind die Grundlagen von Tersteegens Bibelfrömmigkeit und -hermeutik nachlesbar: Die Bibel bleibt in ihrer unbedingten Autorität und Existenzbezogenheit für ihn vor allem das Medium des den Leser ansprechenden heiligen Geistes.
Im ersten Teil des zuletzt genannten Traktats (Nr. 7) Von dem Glauben und der Rechtfertigung entfaltet sich dem Leser zusammen mit dem Traktat (Nr. 6) Warnungsschreiben wider die Leichtsinnigkeit (1746) nach dem Druck Solingen 1747 die von Tersteegen ge-genüber uns unbekannten Antinomisten und den Herrnhutern betonte unauflösbare Synthese von schrittweiser Buße, schrittweiser Rechtfertigung (Bekehrung) und (fortschreitender innerlicher!) Heiligung. Zu den Traktaten Nr. 6 und 7 bringt Burkardt im Nachwort eine sehr detaillierte Rezeptionsgeschichte.
In den Traktaten Beweis (Nr. 9), Vom Separatismo und der Herunterlassung (Nr. 10), einem Postskript zum Vorhergehenden, und Judas excommunicirt (Nr. 5) lernt man Tersteegens Kritik an der Abendmahlspraxis der Kirche seiner Zeit kennen. Er verteidigt mit biblischen Argumenten und dem Heidelberger Katechismus die Frommen (und sich selbst), die der Communion in der Amtskirche aus Gewissensgründen fernblieben, um keine Gemeinschaft mit »Gottlosen« (d. h. Kommunikanten ohne Sündenreue und vorherige Beichte) einzugehen. Aus dieser Verteidigung wird ein Plädoyer für die Gewissensfreiheit gegen den kirchlich ausgeübten Glaubenszwang am Exempel des für Tersteegen an sich uninteressanten Abendmahls (s. E. nur eine äußerliche Handlung). Die Schrift über Judas ist zugleich ein Ausnahmebeispiel für eine vehemente Beteiligung am »Theologengezänk«, dem er sich sonst entzog, und für seine Fähigkeit, auch die theologischen Diskurse seiner Zeit mit ihren Methoden bis hin zur historisch-kritischen Exegese mit allen Mitteln der logischen Vernunft zu führen, um sein »Vorurteil« von der Unmöglichkeit der Teilnahme des Judas am Abendmahl Jesu zu stützen. Alle drei Schriften vermitteln Tersteegens Kritik an der Kirche, sein enges Verständnis des Abendmahls allein als Geschehen der Communio Sanctorum und seine Absage an jeden Separatismus.
Nr. 3, das Sendschreiben von der Vernunft, deren Fähigkeit, Ge­brauch und Missbrauch im Göttlichen (1735 oder früher), ist abgedruckt nach dem 3. Stück WdW 11735. Dieser von Tersteegen aus dem Holländischen übersetzte Brief führt in seine Auseinandersetzung mit dem für den Zugang zur göttlichen Wahrheit unzureichenden Vernunftbegriff der Aufklärung ein. Für ihn bleibt der leidende Verstand, d. h. die inwendige Erfahrung der Gegenwart und Liebe Gottes, der einzige Weg zu Gott.
Mit dieser Textauswahl (als Textbuch für ein Tersteegen-Seminar sehr empfehlenswert) ist ein gutes Textfeld zu einer ersten wissenschaftlichen Begegnung mit der Theologie Tersteegens ausgebreitet, wobei man freilich mit der Lektüre der sprachlich angepassten unkritischen modernen Drucke einen leichteren Zugang zu ihm findet.
Den abgedruckten ältesten Texten folgen zwei informative Kapitel: Die Editorische[n] Notiz[en] listen alle herangezogenen Editionen auf. Und das Nachwort bleibt für die Arbeit mit den Texten als Kommentar außerordentlich wichtig, da hier zu jeder Schrift eine Einführung gegeben, ihre Datierung abgeklärt, eine konzentrierte theologische Darstellung der Gedanken geboten und die wichtigste Literatur der Gegenwart dazu genannt wird. Diese beiden Kapitel bilden zusammen mit den numerischen Textanmerkungen Burkardts einen wertvollen Kommentar zu jedem einzelnen Traktat.
Der Band endet mit einem Verzeichnis der abgekürzten Literatur und einem informativen Personenindex.
Der Versuch, einer »Theologiegeschichte« Tersteegens in den einzelnen Entwicklungssträngen nachzuspüren, liegt nicht in Burkardts Intention. Die aus seinem Werk erkennbare intensive Nacharbeit Tersteegens an seinen Schriften brachte m. E. auch keine großen theologischen Entwicklungen, sondern nur Verdeutlichungen. Tersteegens Theologie ist in seinem »Unparteiischer Ab­riß Christlicher Grundwahrheiten« (1724; postum 1801) wohl be­reits endgültig festgeschrieben.
Eine Überschau der Fußnoten, Editionsdaten und -erläuterungen lässt erkennen, wie literarisch kreativ Tersteegen trotz körperlicher Schwäche in seinem vorletzten Lebensjahr war, um sein theologisches Vermächtnis einzubringen. Burkardts gut bedachte Auswahl verstärkt den Eindruck, dass Tersteegen weniger praktizierender Pietist (da keine besondere Pflege der Gemeinschaft und der mutua consolatio fratrum) und mehr Lehrer mystischer Frömmigkeit, Prediger und Seelsorger des Einzelnen war. Die Durchsetzung seines Frömmigkeitstyps hätte nach A. Ritschls Urteil (1880) wohl zu Recht »zur Auflösung des Pietismus [als Gemeinschaftsbewegung] von innen heraus geführt«. Die Bewahrung seines geist-lichen Erbes durch Einzelne wurde jedoch immer wieder zum Ferment in der Frömmigkeit der Kirche. In dieser Hinsicht bleibt die Schriftenauswahl Burkardts auch für eine mystisch orientierte Spiritualität von heute wegweisend.
Wer in Zukunft mit Burkardts Sammlung textlich über Tersteegen arbeitet, wird sie auch als profundes Nachschlagewerk dankbar benutzen mit hohem Respekt vor seiner mühevollen Suche nach den ältesten Quellen, vor der akribischen Arbeit an den Texten und ihren Varianten und ebenso vor ihrer gelungenen konzentrierten theologischen Kommentierung.