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Ausgabe:

März/2021

Spalte:

202-206

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Schäufele, Wolf-Friedrich [Hg.]

Titel/Untertitel:

Reformation der Kirche – Reform der Bildung. Die Universität Marburg und der reformatorische Bildungsauftrag.

Verlag:

Münster: Waxmann Verlag 2020. 302 S. = Academia Marburgensis, 16. Kart. EUR 34,90. ISBN 9783830941262.

Rezensent:

Roland M. Lehmann

Anlässlich des 500-jährigen Jubiläums der Reformation 2017 fand an der Philipps-Universität Marburg im September gleichen Jahres ein Symposium statt, dessen Ergebnisse Wolf-Friedrich Schäufele in einem Sammelband herausgegeben hat. Das Buch umfasst zwei öffentlich gehaltene Vorträge und 16 weitere Beiträge, geordnet nach fünf Sektionen.
In seinem perspektivenreichen Vortrag geht Martin Hein auf vier reformatorische Bildungsimpulse ein, die bis in die Gegenwart reichen: die grundsätzliche Unterscheidung von weltlichem Wohl und geistlichem Heil (25), die Befreiung der Bildung aus religiöser Verzwecklichung (27), der Sprachenerwerb als notwendige Voraussetzung kommunikativer Kompetenz zur eigenen Persönlichkeitsbildung (30), die Schulen in kirchlicher Trägerschaft als komplementäre Ergänzung des allgemeinen Bildungswesens (33).
Herman J. Selderhuis widmet sich der Gründung reformatorischer Universitäten in Europa, von denen es im 16. Jh. über siebzehn gegeben hat (36). Dabei werden die Standorte, der spezifisch reformatorische Charakter, der Leistungsdruck für das Lehrpersonal, das Verhalten der Studenten und die Unabhängigkeit vom kirchlichen Einfluss untersucht.
Nach diesen beiden themenübergreifenden Beiträgen fokussiert Sektion 1 Hessen als reformatorische Bildungslandschaft. In ihrem Impulsreferat beschreibt Gury Schneider-Ludorff wesentliche reformatorische Bildungsimpulse: die Erlangung von Bibel-, Sprach- und Persönlichkeitskompetenz sowie den Ausbau der Eliten- und Breitenbildung. Die Umsetzung der Impulse erfolgte durch Philipp von Hessen, der das Bildungssystem konsequent von oben nach unten aufbaute: zuerst die Universität, dann das Pädagogium und schließlich die Einrichtung eines flächendeckenden Schulsystems.
Willem Frijhoff beschreibt zunächst die allgemeine Ausgangslage der Universitäten in Europa und blickt dann auf die Spezifika der Marburger Universitätsgründung. Die spätmittelalterliche Wissenschaftsreform bereitete den Boden für die Reformation, und umgekehrt beschleunigte die Reformation wiederum den Universitätswandel. Das Spezifikum der Stadt Marburg war die Verehrung der heiligen Elisabeth von Thüringen, aufgrund deren Vorbild sich ein blühendes Gesundheitswesen rund um die Stadt entwickelte. Diese lokale Eigenheit äußerte sich auch bei der Universitätsgründung durch den besonderen Ausbau der medizinischen Ausbildung.
Die Finanzierung der Marburger Universität durch Güter säkularisierter Klöster beschreibt Katharina Schaal. Bei der Gründung 1527 lehrten zehn Professoren etwa 90 Studenten. Eine genauere Finanzierungsregelung des Lehrbetriebs erfolgte erst durch den Kasseler Landtagsabschied 1527, der die Aufhebung der Klöster und Stifter beschloss und deren Einkünfte auf die Universität übertrug (94).
In Sektion 2 werden die Voraussetzungen der Universitätsgründung beleuchtet. Hierzu stellt Markus Wriedt vier Thesen auf: 1. Das reformatorische Bildungsideal zielte auf die Förderung des Menschen sowohl zum Zwecke des allgemeinen gesellschaftlichen Wohls als auch der Erfüllung des Willens Gottes. 2. Die Verzahnung von Frömmigkeit und Bildung ist eine Fortsetzung des mittelalterlichen Bildungsverständnisses. 3. Es formierte sich neben der Reformation eine späthumanistische Komplementärkultur. 4. Die theologische Begründung von Erziehung, Schule und Ausbildung verschwand aufgrund des allgemeinen Bedeutungsverlustes der Kirchen in den folgenden Jahrhunderten.
Athina Lexutt erörtert die philosophischen und theologischen Grundlagen, die zur Bildungsreform geführt haben. Hierzu greift sie auf Pico della Mirandola zurück, der die Würde des Menschen darin gesehen hat, sich selbst gestalten zu können und damit der Schöpfungsabsicht Gottes als sein Ebenbild zu entsprechen. Dies umfasst, Zusammenhänge zu verstehen, sie zu versprachlichen und in Handlungen umzusetzen (106). Der Ruf »Ad fontes!« richtete sich nicht auf eine antiquarische Pflege der Überlieferung (108), sondern sollte die eigene kritische Urteilskraft schärfen (112), um sich von fremden Urteilen unabhängig zu machen. Nicht das Auswendiglernen und die Erlangung einer äußerlich-methodischen Fingerfertigkeit waren das Ziel, sondern das selbständige Denken (117).
Marcel Nieden blickt auf die Wittenberger Universitätsreform und veranschaulicht präzise die Transformationen in Bezug auf die Umwidmung von Professorenstellen, die Veränderung des Lehrplans, die Universitätsfinanzierung und die Universitätsabschlüsse. Zusammenfassend hält Nieden fest, dass die Wittenberger Universitätsreform bereits bestehende Innovationen fortführte (135). Neue Akzente sieht er in der konsequenten Integration des Humanismus, der Deklerikalisierung und der spirituellen Neuausrichtung (136).
Wilhelm Ernst Winterhager relativiert die Auffassung, die Reformatoren hätten einen »Bildungsschub« (139) ausgelöst. Denn das Festhalten an Latein als Unterrichtssprache verhinderte eine Verbreiterung des Gelehrtenstandes. Die dichotomische Kluft zwischen Gelehrtenstand und Volk wurde gegenüber dem späten Mittelalter daher eher noch verschärft (149).
Sektion 3 widmet sich den Strukturen der frühneuzeitlichen Universität. Nach Meinung von Matthias Asche war für die Philipps-Universität Marburg aus institutioneller und personeller Sicht weniger Wittenberg als vielmehr die Erfurter Humanistenuniversität das Vorbild (157). Die Marburger Universität wurde zum Typus weiterer Landesuniversitäten, wobei Philipp von Hessen der Erste war, der ein staatlich finanziertes Stipendienwesen eingerichtet hat (161).
Die Voraussetzungen und Konsequenzen des Territorialisierungsprozesses für die universitäre Bildungslandschaft lotet Horst Carl aus. Ohne Territorialisierung hätte es keine Reformation gegeben, die im Kontext frühneuzeitlicher Staatenbildung verstanden werden muss. Die bereits im Spätmittelalter einsetzende Territorialisierung förderte die Gründung von Universitäten, die sich in mehreren Wellen vollzog. Die aus der Territorialisierung erwachsene Macht der Landesherren ermöglichte ferner die Rettung der Universitäten während des Rückgangs der Studierendenzahlen in den 1520er Jahren (Frequenzkrise). Die Territorialisierung führte außerdem wider Erwarten nicht zum Rückgang der universitären Vernetzung, prägte das Selbstverständnis des jeweiligen Landesherrn, formierte ein föderatives Gefüge in der Bildungslandschaft und führte zu einer Dynamisierung der Wissensgenerierung.
In Sektion 4 wird die Universitätsgeschichte konfessionell ausdifferenziert. Hierzu beleuchtet Leonhard Hell die jesuitische Studienordnung am Ende des 16. Jh.s mit Blick auf ihre kontroverstheologische Ausrichtung. In der Einleitung vertritt er die Auffassung, die Reformation habe keineswegs einen allgemeinen Bildungsschub ausgelöst, sondern stattdessen die bereits im Spätmittelalter einsetzende Bildungsreform verzögert (177). Die am vehementesten »konfessionalisierte« Fachabteilung in der jesuitischen Ausbildung war die Auslegung der Heiligen Schrift, die sich konsequent an der Stimmigkeit von Bibel und kirchlicher Tradition in kritischer Abgrenzung zum lutherischen Prinzip »sola scriptura« orientierte (187).
Statt von einer lutherischen Konfessionalisierung Marburgs spricht Markus Matthias lieber von einer »lutherischen Religionskultur« (202) in der zweiten Hälfte des 16. Jh.s. Denn personell kam es zu keiner uniform geprägten Professorenschaft an der Universität. Seiner Einschätzung nach könne man bei Ludwig IV. von Hessen-Marburg auch keine wie in der Forschung behaupteten »Lutheranisierungsbemühungen« (199) beobachten. Unter den Marburger Theologen war Ägidius Hunnius der einzige Theologe von intellektuellem Format, der einen Beitrag für die lutherische Religionskultur insbesondere auf dem Gebiet der Christologie und der Prädestinationslehre geleistet habe (203).
In seinem profunden Beitrag beschreibt Wolf-Friedrich Schäufele den zweimaligen Wechsel der Universität von der lutherischen zur reformierten Konfession (1605–1625 und 1653-1822). Sie ging jeweils von der neuen Landesherrschaft aus und geschah abrupt durch den vollständigen Austausch des theologischen Personals, wenngleich auch Kontinuitätsmomente zu erkennen sind, wie das Festhalten der Kirche zum althessischen Bekenntnis. Der Standort Marburg avancierte zur bedeutendsten reformierten Hochschule Deutschlands, war aber mit seiner spezifisch »niederhessischen Irenik« (217) auch eine Instanz interkonfessioneller Vermittlung.
Die komplexe Gründungsgeschichte der lutherischen Universität Gießen verfolgt Eva-Marie Felschow. Aufgrund der »Calvinisierung« der Marburger Universität durch Landgraf Moritz von Hessen-Kassel 1605 schuf 1607 Ludwig V. von Hessen-Darmstadt die lutherisch geprägte Universität in Gießen. Im Zuge des Dreißigjährigen Krieges kam es zur Suspension der Gießener Ludoviciana zugunsten des alten Standorts Marburgs (1624/1625). Der Westfälische Friede führte schließlich 1650 zur Wiedereinrichtung der Universität in Gießen.
In Sektion 5 werden aktuelle Aspekte erörtert. Heinrich de Wall sieht das heutige Bildungswesen dazu herausgefordert, mit religiösem und weltanschaulichem Pluralismus zurechtzukommen, ohne dabei das Religiöse als Bestandteil der Bildung des Menschen zu negieren (241).
Ralf Koerrenz beschreibt die Funktion des heutigen Religionsunterrichts an staatlichen Schulen. Vor dem Hintergrund schulpädagogischer Zugänge und sozialpädagogischer Impulse formuliert er drei Funktionen: »Freiheit zulassen«, »Konfessionalität stärken« und »Leistungsfixierung kritisieren« (250). Der Religionsunterricht bietet demnach erstens ein Gegengewicht zum Hang des staatlichen Systems, eine Ideologie der Homogenisierung zu fördern, die allein gut funktionierende Wesen für das bestehende System erschaffen will. Zweitens stärkt der Religionsunterricht mit seiner konfessionellen Ausdifferenzierung zugleich auch die Individualisierung des Menschen. Und drittens relativiert er die Leistungsfixierung und die durch die Notenvergabe entstehende Ideologie, dass der Wert des Menschen allein von seiner innerweltlichen Leistungsfähigkeit abhängig sei.
Abgerundet wird der Sammelband durch Christoph Markschies und seine Diagnose aktueller Probleme und der Fortentwicklung Theologischer Fakultäten an den staatlichen Universitäten. Er beobachtet »neue Verzagtheiten« aufgrund der sinkenden Zahlen an Theologiestudierenden (257), immer wieder neu aufbrechende »Spaltungen« zwischen Fakultät und Kirchenleitung (262) und schließlich einen stabilisierenden, aber auch Neuerungen entgegenstehenden »Strukturkonservatismus« (280) der theologischen Fakultäten. Die Zukunft sieht er darin, das Modell einer von einer Konfession geprägten Fakultät beizubehalten, den konstitutiven Bezug auf die Praxis der evangelischen Kirche zu stärken, die Konflikte zwischen akademischer und kirchlicher Theologie zu beenden und die multi- sowie areligiösen Kontexte stärker in der Ausbildung zu berücksichtigen.
Insgesamt bietet der Sammelband einen perspektivenreichen Einblick – nicht nur in die Marburger Universitätsgeschichte in ihren Anfängen, sondern auch in die territoriale Reformationsgeschichte Hessens sowie in bildungstheoretische Debatten der Gegenwart. Die Konzeption und Anordnung kann als überaus gelungen angesehen werden und unterscheidet sich von so manchen Sammelbänden, die thematisch »ausfransen«. Wünschenswert wäre es gewesen, wenn die Lücke zwischen dem 16./17. Jh. und der Gegenwart durch weitere Beiträge über die Zeit dazwischen geschlossen worden wäre, insbesondere in Bezug auf die Preußische Phase ab 1866, die den Beginn der »eigentlichen Hochzeit der Marburger Theologie« (220), dem theologischen Liberalismus, markiert. Dies ist allerdings weniger als Kritik, sondern vielmehr als Anregung zu verstehen, eine Fortsetzung dieses Themas in Angriff zu nehmen. Es könnte dafür kaum einen besseren Zeitpunkt geben als das 500-jährige Bestehen der Marburger Universität 2027.