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Ausgabe:

März/2021

Spalte:

199-201

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Köpf, Ulrich

Titel/Untertitel:

Die Universität Tübingen und ihre Theologen. Gesammelte Aufsätze.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. X, 568 S. Lw. EUR 89,00. ISBN 9783161591242.

Rezensent:

Konrad Hammann †

Die Artikel über Tübingen in der »Theologischen Realenzyklopädie« wie auch in der vierten Auflage des Handwörterbuches »Religion in Geschichte und Gegenwart« hat Ulrich Köpf, der beste Kenner der Geschichte der Universität Tübingen und deren Evangelisch-Theologischer Fakultät, verfasst. Was der emeritierte Tü­binger Kirchenhistoriker in jenen Nachschlagewerken in prägnanter Dichte und Konzentration auf das Wesentliche dargeboten hatte, entfaltet, erläutert und vertieft er nun in diesem Sammelband zur Universität Tübingen und ihren Theologen. Das Buch enthält 25 Beiträge, die K. ursprünglich zu verschiedenen Anlässen ge­schrieben hat, die aber hier in neuer, wohlgeordneter Zusammenstellung einen ausgezeichneten Überblick über die Geschichte der Universität Tübingen und ihrer beiden Theologischen Fakultäten geben.
Graf Eberhard V. fundierte die neue württembergische Landesuniversität 1477, indem er mehrere Kanonikate und Pfründen aus dem Sindelfinger Säkularkanonikerstift St. Martin an das neue Tübinger Chorherrenstift St. Georg verlegen ließ. Daneben unterhielten auch die Bettelorden der Franziskaner und der Augustiner-eremiten Studien an der neuen Universität, ohne dass sie eigene Professuren innegehabt hätten. Wie im Mittelalter üblich, war die Theologische Fakultät eng mit den kirchlichen Institutionen verbunden. In Tübingen wurden sowohl in der artistischen als auch in der theologischen Fakultät beide Wege – die via antiqua und die via moderna – gelehrt; allerdings muss man, wie K. zeigt, den von der Forschung früher stark betonten theologischen Gegensatz zwischen den beiden viae durchaus relativieren. Gabriel Biel, Konrad Summenhart und Wendelin Steinbach waren namhafte Vertreter der spätmittelalterlichen Theologie, die in ihren Tübinger Lehrveranstaltungen der Schriftauslegung eine – Protestanten vielleicht erstaunlich erscheinende – große Bedeutung beimaßen. Philipp Melanchthon, der selbst in Tübingen studiert und gelehrt hatte, unterstützte dann von Wittenberg aus in beratender Funktion maßgeblich die Reform der Universität im reformatorisch-humanistischen Geiste, die Herzog Ulrich von Württemberg 1535/36 in Gang brachte und die Johannes Brenz, der Reformator von Schwäbisch Hall, 1537/38 abschloss.
In fünf Beiträgen geht K. den weiteren Entwicklungen im konfessionellen Zeitalter nach. Die württembergischen Herzöge bauten die Universität Tübingen konsequent bis zum Beginn des 17. Jh.s zu einer orthodox lutherischen Bildungseinrichtung aus. Spätestens seit 1582 mussten sich die Dozenten und die Universitätsangehörigen auf das Konkordienbuch von 1580 verpflichten. Professoren wie Jakob Andreae, Jakob Heerbrand und Matthias Hafenreffer gewährleisteten im konfessionellen Zeitalter die lutherische Ausrichtung der Tübinger Theologischen Fakultät, deren Lehrpraxis K. in akribischer Analyse vergegenwärtigt. Er führt auch in eingehender Rekonstruktion die Anfänge evangelischen Dogmatikunterrichts in Tübingen – von Johannes Spangenbergs »Margarita theologica« bis zu dem an Melanchthons »Loci communes« sich orientierenden »Compendium Theologiae« Jakob Heerbrands – vor. Diesem thematischen Abschnitt des Sammelbandes wird man auch einen Beitrag zur »Frühgeschichte der Praktischen Theologie in Tübingen« zurechnen können, der zwar vom späten Mittelalter bis ins frühe 19. Jh. reicht, dessen Schwerpunkt jedoch auf den praktisch-theologischen Bemühungen des 16. und 17. Jh.s liegt.
Die konservative Prägung der Tübinger Theologie bis in das 18. Jh. hinein illustriert K. an dem dogmatischen Kompendium des Christoph Friedrich Sartorius von 1782, um anschließend in zwei weit ausholenden Studien die Rede von den theologischen Tübinger Schulen im 19. Jh. einer präzisen Überprüfung zu unterziehen. Diese ergibt, dass man im Bereich der evangelischen Theologie die um Gottlob Christian Storr sich bildende ältere Tübinger Schule und die jüngere Tübinger Schule Ferdinand Christian Baurs und seiner Schüler voneinander unterscheiden kann, während die zu­letzt von Max Seckler verteidigte Annahme einer regelrechten katholischen Tübinger Schule aus mehreren Gründen als recht problematisch erscheint; freilich soll damit die Bedeutung einzelner katholischer Theologen, die im 19. Jh. in Tübingen lehrten, nicht in Abrede gestellt werden.
Ein eindrucksvolles Bild von Ferdinand Christian Baur und seiner Schule zeichnet K. in fünf Beiträgen, die – ausgehend von einer Vorstellung der konsequent historischen Theologie Baurs, von deren methodischen Implikationen und geschichtstheologischen Grundprinzipien – insbesondere auch die weite Ausstrahlung in den Blick nehmen, die vom Wirken und Werk des großen Tübinger Kirchenhistorikers ausging. Dabei erfahren sowohl die Schule Baurs insgesamt und das konfliktreiche Verhältnis einiger seiner Schüler zur zeitgenössischen kirchlichen Frömmigkeit als auch exemplarisch mit Christian Märklin ein heute weithin vergessener Schüler Baurs und mit dem Tübinger Juristen Marum Samuel Mayer ein dezidierter Gegner Baurs besondere Aufmerksamkeit. Zu Recht hebt K. wiederholt hervor, dass dem historisch-kritischen Denken Baurs eine paradigmatische Relevanz gerade für den Um­gang evangelischen Christentums mit den Herausforderungen der Moderne zukomme.
Auch David Friedrich Strauß, dem ebenso berühmten wie be­rüchtigten Verfasser des »Lebens Jesu«, hat K. einige Einzelstudien gewidmet. Hervorzuheben ist neben einer biographischen Skizze zunächst die äußerst detaillierte Analyse des spannungsreichen, aber letztlich tragischen Verhältnisses zwischen Baur und seinem Schüler Strauß. Sodann bieten auch Untersuchungen zur literarischen Anlage von Straußens »Leben Jesu« sowie zu dessen auf den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. abzielender historischer Abhandlung über den römischen Kaiser Julian instruktive Ein-blicke. Drei Beiträge, von denen der letzte schon in das 20. Jh. hineinreicht, schließen den ergiebigen Band ab. Sie handeln vom Verhältnis des vormaligen Stiftsrepetenten und späteren Tübinger Literaturwissenschaftlers Friedrich Theodor Vischer zur Theologie und Kirche seiner Zeit, von Carl Heinrich Weizsäcker, dem Nachfolger Baurs in Tübingen, der vor allem als Historiker des Urchris-tentums in die Theologiegeschichte eingegangen ist, sowie von Karl Müller, dem Tübinger Kirchenhistoriker, der seine wissenschaftliche Laufbahn als Mediävist begonnen hatte, um sich schließlich, nicht zuletzt in seiner großen »Kirchengeschichte«, als wahrhaft universaler Kirchenhistoriker zu erweisen.
K. hat sich mit diesem Sammelband zur Universität Tübingen und ihren Theologen in die große Tradition seiner Tübinger Vorgänger eingereiht, seine Themen in minutiöser Quellenforschung erschlossen und sie zugleich in die größeren historischen und theologischen Zusammenhänge hineingestellt. Sein Buch zeigt, wie man Theologie- und Wissenschaftsgeschichte schreiben kann. Es erinnert an eine Zeit, in der die Universität ihren mittelalterlichen Anfängen entsprechend über Jahrhunderte hin eine Institution zur Vermittlung umfassender Bildung und zur Verständigung über diese war. Diese Erinnerung ist, wie K. zu Recht betont, heute »notweniger denn je« (V).