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Ausgabe:

März/2021

Spalte:

175-176

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Gese, Michael

Titel/Untertitel:

Der Kolosserbrief.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020. 221 S. = Die Botschaft des Neuen Testaments. Kart. EUR 25,00. ISBN 9783788734534.

Rezensent:

Lukas Bormann

Der Autor des zu besprechenden Werkes, Michael Gese, ist Pfarrer und Studienleiter in Stuttgart. Im Kolosserbrief sieht er einen echten Paulusbrief, der »ganz der Theologie des Paulus« entspreche (194). Der Brief sei an die Gemeinden im Lykostal gerichtet, in ihm gehe es »um Paulus und die konkrete Situation vor Ort« (80).
Wie werden nun die in der Auslegung umstrittenen Fragen gelöst? Der Kolosserhymnus (1,15–20) wird engagiert von alttestamentlichen Bezügen her interpretiert (37–60). Die Präexistenzvorstellung wird aus der Weisheit abgeleitet, das Einwohnen des Pleromas in der Tempeltheologie verortet. Das Ergebnis der Interpretation stellt die Aussagen des Hymnus zu Schöpfung und Erlösung in das Licht der Wendung von V. 20 »durch das Blut seines Kreuzes«, die wiederum nach einer bestimmten, inzwischen vielfach in Frage gestellten Interpretation des Sühneritus in Lev 16 mit dem Ergebnis ausgewertet wird: »Was der alttestamentliche Kult symbolisch darstellte, ist hier Wirklichkeit geworden« (60).
Die anspruchsvolle Selbstvorstellung des Apostels in 1,24–29 fordert die Auslegung dadurch heraus, dass in ihr von einem Mangel der Bedrängnisse Christi gesprochen wird, der durch die Leiden des Apostels erfüllt werde (1,24). Die Kommentierung folgt der reformatorischen Interpretation, dass damit keinesfalls die Todesleiden Christi, sondern die Bedrängnisse durch die Evangeliumsverkündigung angesprochen seien (69 f.), die zur Abfassungszeit des Schreibens bereits angestrebt, aber noch nicht weltweit ausgeführt worden ist.
In der Frage nach der so genannten »kolossischen Philosophie«, gegen die sich das Schreiben in 2,8–23 wendet, bleibt die Auslegung allerdings hinter den Erwartungen zurück, die sie mit der Ankündigung, im Schreiben gehe es um eine »konkrete« Situation, ge­weckt hatte. Gegner des Paulus seien nicht zu identifizieren, eine Irrlehre habe sich in Kolossä noch nicht ausgebreitet und die An­weisungen des Paulus bezögen sich auf »das breite Spektrum möglicher Irrlehren« (89). Das gelte auch für die detaillierten Aussagen zu asketischen Praktiken in 2,16–23, die der Kolosserbrief mit christologischen Argumentationen zu Adiaphora erkläre. Diese seien auf religiöse Einflüsse »aus dem jüdischen und dem heidnischen Bereich« zurückzuführen (106). Es solle verhindert werden, dass besondere Regeln und Vorschriften einen »exklusiven Anspruch« begründeten (116).
Recht ausführlich werden die Tugend- und Lasterkataloge auf ihre ethische Relevanz hin analysiert. Die Fremdheit der Texte wird thematisiert, aber die Lasterkataloge werden in der Interpretation verzeichnet, wenn sie als Mahnung gegen »animalische Triebe« bezeichnet werden (134), geht es doch bei Unzucht, Begierde, Habsucht und Götzendienst um menschliche Verfehlungen im sozialen, kulturellen und religiösen Bereich (Kol 3,5).
Angesichts der Entscheidung, den Kolosserbrief zu den echten Paulusbriefen zu zählen, ist man besonders gespannt, wie die reziproken und gruppenbezogenen Anweisungen in der Haustafel interpretiert werden, steht doch dieser Abschnitt inhaltlich wie auch formgeschichtlich in großer Distanz zur pneumatologisch explizierten paulinischen Ethik. Im vorliegenden Kommentar wird die Haustafel (3,18–4,1) auf Paulus selbst zurückgeführt und diesem unterstellt, er hätte die »Unterordnung der Frau«, die Sklaverei und den Gehorsam gegenüber Höhergestellten nicht nur hingenommen, sondern sogar christologisch gerechtfertigt (158). Es wird aber auch auf die Schwachpunkte aufmerksam gemacht und kritisch angemerkt, die Ethik der Haustafel hätte »die antike Gesellschaftsordnung für kommende Zeiten zementiert« (155).
Die Grußlisten und der Eigenhändigkeitsvermerk in 4,7–18 gelten in der Kolosserforschung von jeher als starke Argumente für die Historizität des Schreibens. Sie seien »nicht fiktiv« (172) und wären als »literarische Fiktion […] sofort entlarvt worden« (176). Abschließend wird »die Botschaft des Kolosserbriefs« im Zusammenhang expliziert und auf die Gegenwart bezogen (179–208).
Manches ist unausgeglichen, besonders wenn die Aussagen des Kolosserbriefs im Rahmen der unumstrittenen Paulusbriefe ge­deutet werden, ohne dass die Unterschiede ausreichend beachtet werden. So wird dem Geist Gottes eine große Bedeutung beigemessen (26). Vom »Geist Gottes« ist aber im Kolosserbrief an keiner Stelle die Rede und auch die anthropologische Bedeutung des Geistbegriffs bei Paulus fehlt dort (vgl. Kol 1,8; 2,5). Auf der anderen Seite wird klar angesprochen, dass z. B. die Aussage in Kol 3,1, die Adressaten seien bereits »mit Christus auferstanden«, und der eschatologische Vorbehalt in Röm 6,4 f., der die allgemeine Auferstehung in der Zukunft verortet, nicht einfach miteinander in Übereinstimmung zu bringen sind (120–124). Schließlich wird nicht ganz deutlich, ob im Kolosserbrief eine präsentische Eschatologie und eine Christologie, die »die gegenwärtige und die künftige Welt […] nicht mehr zeitlich, sondern räumlich unterscheidet« (121), vorliegt oder ob es sich nicht doch um die futurische Eschatologie eines »Apokalyptikers« handelt, dessen Hoffnung »durchgehend auf die Zu­kunft ausgerichtet« ist (18). Da der Gerichtsgedanke im Kolosserbrief fehlt bzw. in 1,22 bestenfalls anklingt, ist die Behauptung von der Ausrichtung auf die Zukunft im Sinne eines apokalyptischen Endes nicht vom Text gedeckt. Im Schlussteil werden einige dieser Problemfelder jedoch thematisiert. Die Besonderheiten im literarischen Stil werden erläutert (183–185) und die theologischen Differenzen in der Christologie angesprochen (191–202).
Insgesamt liegt ein kenntnisreicher, gut lesbarer und informierter Kommentar vor, der den Kolosserbrief als »echten« Paulusbrief liest und ihn in die paulinische, ja in eine gesamtbiblische Theologie einzuordnen sucht. Das Interesse an den großen Zusammenhängen ist das besondere Anliegen dieses Kommentars. Es wird zu Recht die Christologie des Kolosserbriefs hervorgehoben, die als »wichtige theologische Ergänzung zu den paulinischen Hauptbriefen« gewertet wird (105), so dass die Eigenart dieses Schreibens schließlich auch gewürdigt wird.