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Ausgabe:

Januar/2021

Spalte:

116–118

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Wolst, Laura

Titel/Untertitel:

Lernen mit Religionen. Kooperationen zwischen Evangelischem und Islamischem Religionsunterricht aus Schülerinnen- und Schülerperspektive.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2019. 323 S. m. 3 Abb. = Religionspädagogik innovativ, 32. Kart. EUR 42,00. ISBN 9783170364189.

Rezensent:

Johannes Woyke

Die Untersuchung von Laura Wolst zu »Kooperationen zwischen Evangelischem und Islamischem Religionsunterricht aus Schülerinnen- und Schülerperspektive« in Nordrhein-Westfalen folgt einem sinnvollen Trend empirischer Forschungen zum konfessionellen Religionsunterricht unter den Bedingungen religiöser Pluralität zur Regionalisierung, wie sie etwa von der ReVikoR-Studie für Schleswig-Holstein in zwei Bänden vorgelegt worden ist.
Ausgangspunkt für die unter Michael Meyer-Blanck entstan-dene Dissertation ist die Einführung eines von einem islamischen Beirat verantworteten konfessionellen Islamunterrichts mit dem Schuljahr 2012/13 an nordrhein-westfälischen Grundschulen. W. zeichnet zunächst die Entwicklung des konfessionellen islamischen Religionsunterrichts in NRW und darin insbesondere die Debatten um die Zusammensetzung des verantwortlichen Beirats detailliert nach. Sie betont die Bedeutung und den Beitrag eines konfessionellen islamischen Religionsunterrichts zur gesellschaftlichen Integration, warnt aber zugleich mit B. Dressler vor »überfordernden Erwartungen und Instrumentalisierungen« (43). Die Existenzberechtigung des Faches liege vielmehr im Recht des Kindes auf Religion (F. Schweitzer) und orientiere sich in seinem Wesen und seiner Aufgabe an den grundgesetzlichen Bestimmungen aus A rt. 7 Abs. 3 GG und der diesbezüglichen bundesverfassungs-gerichtlichen Rechtsprechung. Allerdings unterliege der Begriff der Konfessionalität seit 1949 einem Bedeutungswandel und habe sich im evangelischen Kontext von einer Inhalts- hin zu einer deutlichen Subjektorientierung entwickelt. Religionsunterricht erhalte sein konfessionelles Gepräge entsprechend »durch die Positionalität bzw. Perspektivität der Unterrichtsinhalte sowie der LuL [Lehrerinnen und Lehrer], welche den SuS [Schülerinnen und Schülern] zu einer Orientierung verhelfen« (51; im Rückgriff auf B. Schröder). Die Begegnung mit Angehörigen nichtchristlicher Religionen sei darin enthalten. Demgegenüber fokussiere das derzeitige islamische religionsdidaktische Verständnis stärker auf Glaubensinhalte.
Diese Erörterung zum Begriff der Konfessionalität des Religionsunterrichts hätte durchaus ein wenig detaillierter diskutiert werden können, etwa mit K. E. Nipkows im Rahmen seines Elementarisierungsansatzes geäußerten Hinweises auf die spezifisch tentatorische Dimension religiöser Glaubenswahrheit als des durch An­fechtung hindurch Gewissmachenden; zumindest hätten die Aporien der bisherigen Debatte deutlicher herausgearbeitet werden können (vgl. dazu die gerade erschienene Monographie von Antonia E. Lüdtke, Confessional Gap. Konfessionalität und Reli-gionsunterricht denken, Stuttgart 2020).
In Vorbereitung ihres am Ende der Untersuchung propagierten Ansatzes eines »Lernen[s] mit Religionen« zeichnet W. die Entwicklung von einer Weltreligionendidaktik in gesellschaftlicher Ho-mogenität zum interreligiösen Lernen im Pluralismus nach. Die 1990er Jahre seien ein »Wendepunkt im Umgang mit den Weltreligionen im RU«, bei dem sich schließlich die Erkenntnis durchgesetzt habe, dass der Umgang mit außerchristlichen Religionen für den christlichen Religionsunterricht unverzichtbar sei, »und zwar auf der Basis absoluter Gleichwertigkeit« (68). Indes hätte deutlicher werden können, dass F. Rickers, dessen Einschätzung W. hier folgt, in Auseinandersetzung etwa mit der Position J. Lähnemanns bezweifelt, dass eine solche Gleichwertigkeit innerhalb eines po-sitionell-konfessionellen Paradigmas gegeben ist; eine diesbezüg-lich notwendige Differenzierung findet sich freilich nur abgelegen (etwa 89, Anm. 319). Gut werden hingegen die Charakteristika interreligiösen Lernens benannt, wobei stets auch die Bandbreite der Positionen aufgezeigt wird: Lernen durch direkte persönliche Begegnung und nicht so sehr indirekt über Texte (»Interreligiöses Lernen im engeren und im weiteren Sinn«, S. Leimgruber), Schwerpunkt nicht so sehr auf Glaubenssystemen als vielmehr auf deren Auswirkungen auf den gelebten Alltag, Betonung der Gemein-samkeiten der Religionen gegenüber der Auseinandersetzung mit Differenzen und Gegensätzen (»weicher und harter Pluralismus«, K. E. Nipkow) sowie konfessionelle Identitätsbildung vor oder aber durch Verständigung mit dem jeweils Andersglaubenden (EKD-Denkschriften 1994 und 2014). Besonderes Augenmerk gilt »Toleranz und Perspektivenwechsel als zentrale[n] Fähigkeiten des in­terreligiösen Lernens im Pluralismus« (84). Unter Einbeziehung der Problemanzeigen, etwa des Systematischen Theologen Hans-Peter Großhans und des Philosophen Jürgen Habermas, dass Toleranz erst bei begründeter Ablehnung und bei Gleichgültigkeit überhaupt nicht greift (vgl. 85 f. und wieder 247, Anm. 471), wirbt W. mit Christoph Schwöbel für das Konzept einer »Toleranz aus Glauben« (91 ff.): »Da der eigene Glaube niemals als eigenes Werk erlebt, sondern prinzipiell und damit auch in anderen Menschen von Gott gesetzt sei, müsse auch ihre Glaubensgewissheit unbedingt toleriert werden« (92).
Ausgerüstet mit dieser im ersten Hauptteil der Dissertation erarbeiteten Grundlegung folgt nun im zweiten Hauptteil die Analyse von sieben Gruppendiskussionen in sechs Religionskursen mit religiös gemischten Lerngruppen (Übersicht, 128). Sorgfältig werden das Forschungsdesign und die Forschungsmethode der inhaltlich strukturierten qualitativen Inhaltsanalyse nach Ph. Mayring und U. Kuckartz dargelegt. Thematische Schwerpunkte der moderierten Gruppendiskussion bilden Konfessionalität und Toleranz sowie die Wunschvorstellung der Zusammensetzung und Organisation einer Religionslerngruppe. Die Auswertung erfolgt in zwei Schritten: Zunächst wird eine fallzentrierte Analyse vorgenommen und mithin auf die jeweilige Diskussionsgruppe und den kon-kreten Gesprächskontext fokussiert. Sehr sorgfältig werden dabei die unterschiedlichen Standpunkte der Schülerinnen und Schüler dokumentiert und eingeordnet. Und trotz der Schwerpunktsetzung durch den einzelnen Gruppendiskussionen vorangestellte Ankerzitate kommen die unterschiedlichen Perspektiven innerhalb der Lerngruppe gut zum Tragen. Die sich anschließende fallübergreifende Auswertung ist gegliedert über didaktische Prinzipien zu Zielvorstellungen des Religionsunterrichts – Glaubensstärkung, Alphabetisierung, Vorbereitung auf eine plurale Ge-­sellschaft und »offener« Unterricht – sowie über organisatorische Prinzipien mit der Präferenz eines konfessionellen oder eines ge­meinsamen Religionsunterrichts, einer »Abfolge« oder einer »Phasierung« beider (Übersicht, 228). Auffällig ist u. a., dass Schülerinnen und Schüler mehrfach den konfessionellen christlichen bzw. evangelischen Religionsunterricht als »stark bibelkundlich und ausschließlich selbstreferenziell angelegt« skizzieren (235), was W. nicht als Aussagen über real erfahrenen Unterricht deutet, sondern als »negativen Gegenhorizont zu einem präferierten ›offenen‹ und häufig ›interreligiösen RU‹« (236).
Woher dieses Klischee stammt, müsste gleichwohl genauer er­fasst werden. Denn es fällt auf, dass W. selbst zuvor in Hinsicht auf das Prinzip der Konfessionalität in der religionspädagogischen Debatte betont, dass diese durch die Perspektivität auf alle möglichen Unterrichtsinhalte inklusive »ethische[r] Themen« gewährleistet sei und eben nicht durch die Beschränkung auf »ausschließlich konfessionsbezogene oder bibelkundliche Themen« (51). Und im die Studie abschließenden Ertrag warnt sie vor einer »Vereinnahmung der SuS dadurch, dass ausschließlich ein dem Bekenntnis der Unterrichtenden entsprechender RU durchgeführt wird« (290). Dies klingt ebenfalls nach einer anachronistischen Negativfolie – als hätte es den Einzug des thematisch-problemorientierten Religionsunterrichts seit den 1970er Jahren in Lehrpläne und Religionsbücher nicht gegeben und als frage Theologie nicht generell auch nach Wesen und Aufgabe des Menschseins in der Welt (theologische Anthropologie und Ethik).
In Hinsicht auf den Konfessionalitätsbegriff und die Toleranzherausforderung notiert W. wichtige Beobachtungen aus den Gruppendiskussionen, setzt sie in Beziehung zur religionspädagogischen Grundlegung zuvor und formuliert Folgerungen für den Religionsunterricht. Dazu entwickelt sie ein heuristisches Modell der interreligiösen Erfahrung: Auf einer Grunddimension der Affirmation interreligiösen Lernens durch die Schülerinnen und Schüler bauen auf vier unterschiedlichen Niveaus Hauptdimensionen auf: »Neue Einsichten durch religionskundliches Wissen« (1.), »Größeres Verständnis für andere Religionen« (2.), »Bezugnahme auf die eigene Religion« (3.) und »Änderung der Einstellung oder des Verhaltens« (4.) (257 ff.).
In einem letzten Hauptteil werden nun »Konsequenzen für das konfessionelle Profil des Evangelischen Religionsunterrichts« der Zukunft vorgeschlagen (267): Statt auf Bildung einer religiösen Identität möge der Religionsunterricht auf eine »Positionierung« im Sinne einer »temporäre[n] Haltung« der Schülerinnen und Schüler, »die sich […] verändern kann«, abzielen (272). Toleranz als Gegenteil des bloßen Hinnehmens von Meinungen und »als paritätische Toleranz und wechselseitige Anerkennung« sei einzuüben (273). Ein »Lernen mit statt über Religionen«, also »dezidiert interreligiöses Lernen« sei für den Religionsunterricht anzustreben, damit im Jugendalter typische »Abschottungstendenzen« begleitet werden können (ebd.). Gerade die Beschäftigung mit »divergierende[n]« – und damit ist gemeint: unterschiedlichen und gegensätzlichen – »Inhalten« sei »als wichtiges Präventiv gegen pseudotolerante Fehlentwicklungen« einzusetzen, damit sich bei den Lernenden »Ambiguitätstoleranz« entwickeln kann (274). In Hinsicht auf die Organisationsformen des Religionsunterrichts, die solches interreligiöses Lernen fördern, befürwortet W. solche, »die eine flexible Reaktion auf die Bedürfnisse der SuS ermöglichen, die entweder situativ als Anpassung der Unterrichtsgestaltung an eine be­reits bekannte Lerngruppe oder […] eine verallgemeinerte Anpassung an die antizipierten Bedürfnisse der gesamten Schülerschaft einer Schule aufgrund vergangener Erfahrungen sein kann« (276), wofür das Phasenmodell als die geeignetste Form propagiert wird (vgl. 298).
Dass die vorliegende, im Sommersemester 2018 von der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation angenommene Studie weitgehend den Diskussionsstand bis 2017 wiedergibt und für die Drucklegung 2020 offenbar nicht oder nur wenig aktualisiert worden ist, ist durchaus bedauerlich. Hier hätten sich etwa interessante Querverbindungen zur Schleswig-Holsteinischen ReVikoR-Studie und darin eben nicht allein mit der Lehrkräfte- (Bd. 1: Stuttgart 2016), sondern vor allem mit der Schülerinnen- und Schülerbefragung (Bd. 2: Stuttgart 2017) ergeben, die über die Erwähnung einer noch nicht abgeschlossenen Untersuchung (285, Anm. 548) hätten hinausgehen können. Dessen ungeachtet hat W. eine wichtige Studie vorgelegt, die für den Religionsunterricht insbesondere in Nordrhein-Westfalen, aber auch darüber hinaus von Gewinn ist und die den religionspädagogischen Diskurs zum Interreligiösen Lernen im konfessionellen Setting weiterbringt.