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Ausgabe:

Januar/2021

Spalte:

113–115

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Simon, Werner

Titel/Untertitel:

Spuren der Geschichte. Religionspädagogische Studien zur Geschichte der religiösen Bildung und Erziehung. Bd. 2.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2019. 492 S. = Forum Theologie und Pädagogik, 24. Geb. EUR 49,90. ISBN 9783643141583.

Rezensent:

Monika Jakobs

Im vorliegenden Band werden bereits anderweitig erschienene, allerdings überarbeitete und erweiterte Beiträge des emeritierten Mainzer Religionspädagogen Werner Simon zugänglich gemacht. Sie umspannen den Zeitraum von der Reformation bis ins 20. Jh. und vermögen so die Wurzeln der wissenschaftlichen Religionspädagogik sowie die Entwicklungen, die sie bis heute prägen, freizulegen. Kenntnisreiche Einzelstudien, vor allem zu Personen und ihren religionspädagogischen »Konzepten«, stehen neben Überblicken, welche Forschungstendenzen, -ergebnisse und -desiderate zusammenfassen.
Bei den Einzelstudien begegnen bekannte Namen, wie Martin Luther oder Maria Montessori, wie auch weniger bzw. nur Spezialisten bekannte, wie Benedikt Strauch (1724–1803), Paul Bergmann (1859–1931) und Heinrich Kautz (1892–1978). Weitere Beiträge widmen sich der jesuitischen »Ratio studiorum« von 1599, dem Projekt von Einheitskatechismen, der katholischen Rezeption von Menschenrechten im 19. und 20. Jh. sowie einer Darstellung des wegweisenden Beschlusses »Der Religionsunterricht in der Schule« der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland von 1974.
Die Breite der Themen und die unterschiedlichen Zugänge werden zusammengehalten durch leitende Perspektiven, die bei der Lektüre immer wieder aufscheinen:
– die Frage der Modernisierung
– die gegenseitige ökumenische Bezugnahme
– die Notwendigkeit historischer Kontextualisierung religionspädagogischer Konzepte
– die Selbstreflexion auf das Fach Katechetik/Religionspädagogik
Unter der Perspektive der Modernisierung wird die jesuitische »Ratio studiorum« gedeutet als »Inkulturation […] in den Kontext einer neuzeitlichen Kultur und Bildung«. Die Ordnung und Normierung im Dienst konfessioneller Selbstvergewisserung erweisen sich als modern, weil sie die Grundlage für eine »leistungsbezo-gene, schichtneutrale Elitenbildung« sind. Der Weg dorthin liegt für die Jesuiten in einer Ordnung, die selbständiges Lernen und Verstehen zu fördern vermag.
In der Aufklärung wird dieses Thema neu verstärkt, indem Bildung als das unverzichtbare Mittel für die Befähigung des Menschen zur Selbstbestimmung angesehen wird. In einer Reihe von Beiträgen werden die religionspädagogisch relevanten Linien der »katholischen Aufklärung« nachgezeichnet. Dabei erweist sich das niederschlesische Augustinerchorherrenstift zu Sagan als Ausgangspunkt einer den deutschen Sprachraum überziehenden Re­form, der so genannten Normalschulbewegung. Sie ist verbunden mit dem Namen Johann Ignaz von Felbiger (1724–1788), der später unter der österreichischen Regentin Maria Theresia das gesamte Schulsystem neu aufstellte und auch außerhalb Österreichs breit rezipiert wurde.
S. kann aufzeigen, dass der Prior des Stiftes zu Sagan, Benedikt Strauch (1724–1803), wesentlichen Anteil an der Erstellung der Konzepte hatte. Im Bemühen um katholische Bildungsstrukturen hatte man keine Scheu, sich bei der evangelischen Konkurrenz umzuschauen – in diesem Falle inkognito bei der Heckerschen Reformschule in Berlin. Vom interkonfessionellen Einfluss zeugt auch Strauchs Konzeption des Unterrichts in biblischer Ge­schichte.
Konfessionsübergreifende Anleihen und Bezüge waren bis zur Mitte des 19. Jh.s selbstverständlich. Der Weg in die konfessiona-listische Apologetik wird beispielhaft aufgezeigt an drei Autoren des 19. Jh.s unter dem Titel »Zum Umgang mit dem ›pädagogischen Paradox‹«. Auf die aufklärerische Frage, wie man den Menschen zu Freiheit erziehen kann, ohne seine Freiheit zu beeinträchtigen, gibt F. M. Vierthaler eine aufklärerische Antwort, M. C. Münch eine romantische und A. K. Ohler eine neoscholastisch ge­prägte konfessionell-kirchliche im Sinne der katholischen Pädagogik.
Zeugnis dieser Wende sind auch die Bemühungen um Einheitskatechismen in Deutschland seit der Mitte des 19. Jh.s sowie das Projekt Weltkatechismus, das auf das Papsttum Benedikts XV. (1914–1922) zurückgeht (»Das Projekt eines ›Weltkatechismus‹«). Abgrenzung gegenüber der Moderne und dem Liberalismus sowie theologische Apologetik werden bestimmend. Gleichzeitig werfen die Kritiker den Initiatoren mangelnde Berücksichtigung der weltweiten katholischen Vielfalt auch im Hinblick auf die Lernvoraussetzungen sowie die Nichtbeachtung der Bedürfnisse der Ortskirchen vor.
Auch in den Beiträgen »Moderne Religionspädagogik – Ihre Entwicklung und Identität« sowie »(Re-)Konstruktionen der ›anderen‹ Tradition« werden die Verkirchlichung des Christentums und der damit einhergehende schärfere Ton zwischen den Konfessionen angezeigt.
Eine Reihe von Aufsätzen widmet sich der Religionspädagogik im 20. Jh. Hervorzuheben sind dabei die beiden umfassenden Überblicksbeiträge »Katholische Religionspädagogik in Deutschland im 20. Jahrhundert« sowie »Moderne Religionspädagogik – Ihre Entwicklung und Identität«. Der gängigen katholischen religions-pädagogischen Epocheneinteilung in neuscholastische Katechetik, katechetische Reformbewegungen, Materialkerygmatik und Er­fahrungsorientierung, welche kaum zeitlich abzugrenzen sind, wird eine Epochensicht (1900–1933; 1933–1945; nach 1945) gegenübergestellt, welche die Desiderate und Lücken religionspädagogischer Forschung sichtbar machen. Diese sieht S. im Hinblick auf die Zeit des Nationalsozialismus – darauf weisen auch der Artikel zu Heinrich Kautz und der zur »Nationalen Erziehung im Katholischen Religionsunterricht« hin – aber auch für die Materialkerygmatik und für die Zeit ab 1968.
Die Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils zum Thema »Bildung und Erziehung« sowie die Darstellung des Synodenbeschlusses »Der Religionsunterricht in der Schule« und seiner Re­zeption ergänzen die Sicht auf das 20. Jh.
Den gesamten Band kann man lesen als Antwort auf die Frage: Warum historische Religionspädagogik? S. selbst warnt davor, historische Erfahrung ungeschichtlich auf gegenwärtige Problemkonstellationen zu übertragen. Was sich zeigt: Bildungsgeschichte bis ins 20. Jh. hinein ist untrennbar verwoben mit der Geschichte religiöser Erziehung und der sie leitenden theologischen, kirchlichen und politischen Interessenlagen. Der Blick auf die Geschichte lehrt Geduld und Bescheidenheit: Geduld, weil sich zeigt, dass sich Neuerungen und Veränderungen über Generationen hinziehen und vor Rückschlägen nicht gefeit sind, Bescheidenheit einerseits, weil viele heutige Prinzipien und Ideen eine lange Vorgeschichte haben, so z. B. das selbständige Denken. Andererseits erweist es sich, dass alle (religionspädagogischen) Innovationen immer auch Kinder zeitgenössischer Geisteshaltungen und Auseinandersetzungen sind und von ihnen her sowohl ermöglicht als auch be­grenzt werden.
Die Lektüre des Bandes lohnt sich – trotz der Vielfalt der Themen– konsekutiv von der ersten bis zur letzten Seite. Die Beiträge eignen sich aber auch gut zur Einzellektüre für das Studium oder für an einem bestimmten Thema Interessierte. Besonders hervorzuheben ist der Reichtum an gut ausgesuchten Originalzitaten, die nicht historisch Forschenden kaum zugänglich sind und welche die ohnehin gut lesbaren Texte zusätzlich verlebendigen. Für Forschende und Studierende auf der Suche nach Forschungsthemen ist der Band, auch wegen der umfassenden bibliographischen Anmerkungen, eine Fundgrube. Personen-, Orts- und Sachregister vervollständigen dieses rundum gelungene Buch.