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Ausgabe:

Januar/2021

Spalte:

111–113

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Meyer, Karlo

Titel/Untertitel:

Grundlagen interreligiösen Lernens.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019. 448 S. m. 22 Abb. u. 8 Tab. Kart. EUR 35,00. ISBN 9783525720066.

Rezensent:

Detlef Hiller

Karlo Meyer, Jahrgang 1968, ist evangelischer Praktischer Theologe/Religionspädagoge und seit 2013 Professor für Religionspädagogik an der Universität des Saarlandes.
Das hier zu besprechende Werk ist ein umfangreiches Arbeitsbuch (448 Seiten!) für Lehrpraxis und Fachwissenschaft, das interreligiöses Lernen neu durchdenken möchte. Wie dem Titel zu entnehmen ist, geht es darum, Grundlagen zu schaffen. Das mag zu­nächst verwundern, als beanspruche M., dass ein traditionsreiches Themengebiet, wie das des interreligiösen Lernens, nun erst durch ihn einer Grundlegung bedürfe. M. bemerkt jedoch, dass sich seines Erachtens derzeit die Rahmenbedingungen des interreligiösen Lernens in Deutschland deutlich verändern und es deshalb sinnvoll sei, »auf Ebene der Grundlegungen [neue?, D. H.] Klarheit zu gewinnen« (13).
Leitend ist für ihn dabei die Frage: »Welche Hintergrundklärungen, welche inhaltlichen und formellen Differenzierungen so­wie welche Ansätze sollen Lehrkräften und Fachvertreterinnen präsent sein, um interreligiöses Lernen sachgerecht zu reflektieren und nicht nur Vorhandenes zu untermauern, sondern auch mögliche Richtungen für weitere Arbeit zu öffnen?« (14)
M. schreibt umfassend und durchaus kleinteilig, gibt viele Beispiele und liefert Exkurse. Dabei bleibt er als »Pädagoge« der didaktischen Klarheit und Systematik verpflichtet. Der Aufbau ist daher stets plausibel, sowohl was die Kapitelanordnungen betrifft als auch innerhalb der Abschnitte. Aussagen werden durch Querverweise mit bereits Vorgetragenem oder noch näher zu Erläuterndem verbunden. Eingeführte Methoden oder Perspektiven werden immer wieder aus verschiedenen Blickwinkeln und in unterschiedlichen inhaltlichen Zusammenhängen aufgegriffen. Abbildungen, Aufzählungen und Tabellen ergänzen die sorgfältige di­daktische Vorgehensweise.
M. behandelt in seinem voluminösen Werk, bestehend aus fünf Teilen (aufgeteilt in insgesamt zehn Kapitel), sowohl materiale als auch formale Grundlagen: Eindeutig material orientiert sind Teil I (»Hermeneutik – das Verstehen religiöser Traditionen«) und Teil II (»Das Religionsverhältnis – Theologie, Wahrheit und Bibel«). Auswahl, Darstellung und Bewertung dieser Inhalte sind natürlich nicht zustimmungspflichtig. Auf jeden Fall bieten sie dem Leser Stoff für gedankliche Auseinandersetzung.
Mit Teil III–V legt M. aber den quantitativen Schwerpunkt seiner Ausführungen auf formale Inhalte, indem er sich der Behandlung methodischer und didaktischer Fragen widmet. So behandelt Teil III »[p]ädagogische Weichenstellungen – und vier Modi der Religionserschließung«, Teil IV befasst sich mit den Adressaten des interreligiösen Lernens (»Auf Seiten der Schülerinnen und Schüler– Erfahrungen mit Fremdheit, Ambiguitätserleben und die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel«) und Teil V bildet den zusammenführenden Abschluss der methodischen Gedanken (»Zusammenführung: der doppelte Individuenrekurs«).
Letztlich geht es M. darum, einen konzeptionellen Ansatz vorzustellen, den er mit zunehmender Klarheit im Laufe seines Buches entfaltet. Er beruht im Wesentlichen auf drei so genannten »Weichenstellungen« (14):
1. In der ersten »Weichenstellung« unterscheidet M. vier Arten, wie interreligiöse Lerninhalte erfasst werden können. Er spricht von den »vier Erschließungsmodi«:
a) Die Erschließung von Zusammenhängen im Sinne des »Forschens«. Man könnte dies vielleicht als den klassischen Modus bezeichnen. »Das Ziel besteht im Erlernen von Strukturen, Me-thoden, Deutungsoptionen und Hintergründen des Wissenserwerbs …«.
b) Der zweite Modus ist der »Modus des eigenen existentiellen Fragens, Diskutierens, ggf. Erprobens und Sich-vorläufig-Positionierens auf einen interreligiösen Impuls hin.«
c) Der dritte Modus wird beschrieben als »eigenen situationssensiblen, sozial und ethisch begründbaren Umgang mit und Handlings von religionsspezifischen Situationen«.
d) Der letzte Modus ist »die Aktivierung im Modus eigenen [g]lokalen Engagements […] z. B. Engagement für ein dialogisches, regionales oder darüber hinausgehendes, weltweites Interesse […]« (175–177).
2. Die zweite »Weichenstellung« betrifft den didaktischen Um­gang mit religiösen »Zeugnissen«. M. unterscheidet feinsinnig zwischen »Zeugnissen« und »Zeugnissen«. Durch den Bindestrich möchte er verdeutlichen, dass es hier keineswegs nur um Zeugen einer Religion oder um deren »verweisenden Charakter« ge­he, sondern auch um »Zeug« im Sinne von »Rüstzeug« oder »Werkzeug«, also um Dinge, die auf den Gebrauchs- und Erfahrungsraum einer Religion verweisen (217–219). Dieser Bezug müsse didaktisch hergestellt werden, damit interreligiöses Lernen gelingen könne. Das Befassen mit »Zeug-nissen« im Vollzugs- und Erfahrungsraum stellt M. damit der seines Erachtens immer noch verbreiteten sterilen, katalogartigen oder lexikalischen Darstellung von be­stimmten religiösen Gegenständen oder Ritualen im Religionsunterricht gegenüber.
3. Die dritte »Weichenstellung« ist das, was M. den »doppelten Individuenrekurs« nennt und den er für die Erstellung von Unterrichtsmaterialien fordert. Wiewohl er diesen »doppelten Individuenrekurs« bereits am Anfang des Buches als »Weichenstellung« ankündigt und ganz offensichtlich auch allen seinen Ausführungen zugrunde legt, erläutert er ihn erst im letzten Kapitel. (Warum er ihn nicht schon anfangs inhaltlich grundiert, ist eine Anfrage an das sonst sehr didaktische Vorgehen M.s.)
Gemeint ist mit dem »doppelten Individuenrekurs« letztlich das konsequente Rekurrieren beim interreligiösen Lernen auf individuelle Erfahrungen. »Doppelt« ist dieser Rekurs, weil zum einen religiöse Traditionen durch individuelle Personen, ihre Erfahrungen und Handlungsweisen dargestellt werden und zum anderen auch die Verarbeitung beim Lernenden möglichst individuell und erfahrungsbezogen (z. B. durch die genannten »Erschließungsmodi«) induziert wird. Es geht also sowohl bei dem Inhalt als auch beim Lernenden selbst immer um den »Rückbezug auf individuelle Sichtweisen und mit diesen verbundene Gebrauchs- und Beziehungskontexte« (363). Daher sei in Unterrichtsmaterialien stets die »Bedeutung des Personalen, der Interaktion und Beziehung« zu spiegeln. Denn erst durch den »doppelten Individuenrekurs« werde ein »offeneres, fluideres Verstehen religiöser Traditionen« eröffnet (373), werden Pauschalisierungen und statische Festlegungen aufgeweicht sowie Ambiguitätstoleranz und Fähigkeit zum Perspektivenwechsel ermöglicht. »[D]em Missverständnis von Religionen als feststehenden Systemen [werde] gewehrt« (419). Es sei daher zu bedauern, dass das vorhandene Unterrichtsmaterial den »doppelten Individuenrekurs« oft nicht berücksichtige (362).
Den Einwand, »die Präsentation einer Glaubens- oder Handlungsvariante eines Individuums [leiste] der Meinung Vorschub, dass diese Ausprägung für alle anderen Menschen dieser Tradition auch gelte« (396), lehnt M. ab. Eher sei das Vorstellen individueller religiöser Erfahrung »geeignet, die Offenheit gegenüber Alternativen zu erhalten, als dies durch enzyklopädische Präsentation der Fall« wäre, auch wenn dies noch eines empirischen Beweises bedürfe (397). Insgesamt liegt ein Buch vor, das Praktiker und Theoretiker des interreligiösen Lernens anregt, die eigene Herangehensweise neu zu reflektieren und ggf. kritisch zu hinterfragen.