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Ausgabe:

Januar/2021

Spalte:

109–111

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Lorenzen, Stefanie

Titel/Untertitel:

Entscheidung als Zielhorizont des Religionsunterrichts?Religiöse Positionierungsprozesse aus der Perspektive junger Erwachsener.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2020. 362 S. = Praktische Theologie heute, 174. Kart. EUR 49,00. ISBN 9783170381544.

Rezensent:

Gerhard Wegner

In der Habilitationsschrift von Stefanie Lorenzen für das Fach Religionspädagogik an der Philosophischen Fakultät der Universität des Saarlandes (mittlerweile umhabilitiert an die Universität Bern) geht es um eine kritische Weiterentwicklung der Vorstellung von Entscheidung als Bildungsziel des Religionsunterrichts. Angesichts des sich – über den im Unterricht unter Schülern und Lehrern vermehrenden Haltungen mehr oder minder bewusster Nichtpositionierung hinaus – ausbreitenden Indifferenz-Phänomens wird die stilistisch hervorragend verfasste und methodisch innovative Arbeit über die Religionspädagogik hinaus auf großes Interesse stoßen. Wie reagiert das Kirche-Religions-System auf die um sich greifende »Befreiung zur inhaltlichen Nicht-Entscheidung im Grenzbereich des Religiösen«? (24)
Im Mittelpunkt (Teil II) steht eine qualitative empirische und zugleich theoretisch gewendete Untersuchung von »Verwicklungen« in religiöse Prozesse in 14 biographisch angelegten Interviews. Der Frage nach Möglichkeiten religiöser Positionierung wird so »von unten«, von den betroffenen jungen Menschen her, nachgegangen, bevor die Ergebnisse dann auf religionsdidaktische Konzepte angewendet werden. Höchst innovativ sind in diesem Zu­sammenhang die von L. entwickelten Interpretationskonzepte bzw. theoretischen Bausteine, von denen zum einen »Religion als aufgeladenes Wirkzentrum« und zum anderen »Verdichtung« herausragen. »Religiöse Verortung braucht einen Bezugsraum, in dem Religion als orientierungsgebende Größe (›Aufgeladenes Wirkzentrum‹) persönlich nahe kommt und damit erfahrbar wird (›Verdichtung‹)« (186 u. ö.). Im Unterschied zu der ähnlich erscheinenden Kategorie der Zentralität bei Stefan Huber geht es hierbei um die Wahrnehmung eines Gegenübers, nicht um innerpsychische Prozesse. Die Betreffenden konstruieren »Verdichtungsräume«, die an biographisch tradierte »Verwicklungsräume« anschließen können, in denen sich religiöse Kommunikation vollzieht. Es geht folglich »um die Wahrnehmung eines die Aufmerksamkeit konzentrierenden Gegenübers, das sich mit einer charakteristischen Veränderung des Interaktionsraumes und metaphorisch mit er­höht erlebter Dichte verbindet« (273). Dies ist mithin genau das, was Religion »spannend« macht. Vorausgesetzt dabei sind »Passungsreaktionen«, über die sich »Glaubensplausibilisierung« vollzieht. Stärker inhaltlich betrachtet geht es im Kern stets um »Halt im Leben«, was als eine Art Vorzeichen gesehen werden kann, unter dem Religion überhaupt thematisiert wird und Relevanzzuschreibungen nach sich zieht (254). Dabei gibt es allerdings interessanterweise keine einseitige kausale Beziehung.
Neben dieser Entwicklung neuer theoretisch-empirischer Kategorien ist die lebendige Beschreibung von vier Fällen, in denen Relationen des Sich-Positionierens und der Verdichtung herausgearbeitet werden, eindrucksvoll. Vorgeführt werden unterschied-liche raumgreifende Passungsreaktionen mit den damit verbun-denen Zugangsweisen zu Religion. Die Möglichkeit sich zu positionieren wird so als raumabhängiges Phänomen verstehbar (257). Zudem wird deutlich: »Konturierte religiöse Entscheidungen, wie sie teilweise von religionspädagogischer Seite gefordert werden, entstehen nur, wenn entsprechende soziale Kontexte als Hintergrundfolie zur Verfügung stehen.« (260) Liegen solche Erfahrungen nicht vor, was heute immer mehr zum Regelfall wird, sehen sich junge Erwachsene nicht in der Lage, sich entscheiden zu können. Die Folgen für kirchliche Bildung und Erziehung liegen auf der Hand. Es geht um die Schaffung atmosphärisch einladender Orte, in denen durchaus Vagheit und Offenheit vorhanden sein können, die aber Verdichtungserfahrungen ermöglichen (261 ff.).
Der zentrale Teil II der Arbeit ist zum einen von einer die Arbeit motivierenden und zu ihr hinführenden Problembeschreibung des Kontexts umrahmt: der Frage nach religiöser Bildung als Antwort auf das Problem der Entscheidung (Teil I) – und zum anderen von einer Auseinandersetzung der erarbeiteten »Theorie der Verdichtung« mit aktuellen religionsdidaktischen Konzepten (Teil III). Auf diese Weise wird der robuste Ausgangspunkt bei Entscheidungen in einen Weg zum Finden »reflektierter Positionalität« (Hüttenhoff) aufgelöst. Nicht mehr ein Entweder-Oder soll am Ende stehen, sondern eine Wahrnehmung und Anerkennung individueller Lebensdeutungen und ihrer Relationierung mit unterschiedlichen Deutungssystemen (297). Dabei spielen Momente einer »Sich-Öffnung innerhalb einer Passung auf Probe« (290), von Verwicklung, Passivität, Anerkennung und Ambivalenzen eine entscheidende Rolle. Kohärenz wäre das Ziel, nicht Eindeutigkeit, »die Entdeckung eigener Orientierungen im Resonanzgeschehen mit dem jeweiligen religiösen Gegenstand« (299). Konkreter: »Es ginge dann weniger um ein definitives religiöses oder nicht-religiöses Selbstverständnis, sondern um die Fähigkeit, mit Religion langfristig konstruktiv in Kontakt zu treten.« (300) Der Religionsunterricht müsste religiöse Traditionen spannungsvoll inszenieren, vor dessen Hintergrund die Entwicklung des je Eigenen erarbeitet wird (344). Die Bedingung hierfür ist geradezu eine gebrochene Beziehung zur Religion, um sich den der Religion impliziten Überwältigungsversuchen entziehen zu können. Es bleibt mithin dabei, dass es um (im Unterricht notwendigerweise gebrochene) Erfahrungen existentieller Auseinandersetzung geht, denn ohne sie kommt keine Relevanz zustande. Aber sie kann nicht mehr vorausgesetzt werden: Es gibt keine geteilten heilen »Verwicklungsräume« mehr; sie werden uneindeutig. Konsequent nimmt L. auf diese Weise den Wandel der religiösen Landschaft ernst, ohne damit die spezifische Wirkungsform der Religion einzuebnen. Sie funktioniert mittels Faszinosum (und Tremendum?) = eines »aufgeladenen Wirkzentrums«. Wer Entscheidung will, muss eine entsprechende Nähe durch frühe religiöse Sozialisation schaffen; daran ändert sich nichts. Zum Normalfall werden heute aber fluide Haltungen im Zwischenraum von Religion und Nichtreligion. Entscheidend ist, sie offen zu halten.
Die Qualität der Arbeit führt zu Rückfragen, wie denn das ge­naue Verhältnis des »aufgeladenen Wirkzentrums« zur Überwältigung ist. Fällt das nicht zusammen z. B. im Konzept der Ergriffenheit von Joas (dessen Name fehlt im Literaturverzeichnis!)? Und es legt sich nahe, nach theologischen Parallelkonzepten zu suchen. Das Heilige bot sich eben schon an. Aber auch die alte Idee der Erschließungssituationen von Ian T. Ramsey könnte in den Sinn kommen. – »Das aufgeladene Wirkzentrum, das dem verdichteten Raum durch die jeweils spürbare Spannung die zentrale Ausrichtung bzw. Orientierung gibt.« (250) Zudem könnte man nach der spezifischen Qualität des Narrativen fragen, ohne die Religion nicht denkbar ist. Und schließlich erstaunt, warum das Religiöse ohne seine prosoziale Schwester diskutiert wird. Gerade christliche Religion existiert nicht ohne die Betonung prosozialer Haltung. Der Halt im Leben ist immer auch ganz konkret Hilfe von anderen. Aber insgesamt: Eine großartige Studie, die weitere, gerade auch quantitative Analysen über den Religionsunterricht hinaus nach sich ziehen sollte.