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Ausgabe:

Januar/2021

Spalte:

99–101

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Lehwalder, Jürgen

Titel/Untertitel:

Ortsgemeinden im Übergang. Fusionen von Kirchengemeinden in kasualtheologischer Perspektive.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2019. 318 S. Kart. EUR 39,00. ISBN 9783170364288.

Rezensent:

Jan Hermelink

Zu den strukturellen Folgen des Ressourcenschwunds, mit dem die deutschen Großkirchen sich seit 30 Jahren auseinanderzusetzen haben, gehört eine verstärkte Kooperation der Ortsgemeinden: von der Absprache einzelner Arbeitsbereiche bis hin zur rechtlichen Verschmelzung. Insbesondere solche »Fusionen« bisher selbständiger Kirchengemeinden, oft verbunden mit der Aufgabe von Kirchen- oder anderen Gebäuden, führen regelmäßig zu erheblichen Konflikten. Bisher sind diese Prozesse, die mitunter große öffentliche Aufmerksamkeit finden, vor allem kirchenrechtlich sowie in der Gemeindeberatung reflektiert worden. Insofern ist es erfreulich, dass mit dieser Mainzer Dissertation (2018) von Jürgen Lehwalder nun der erste Versuch einer dezidiert praktisch-theologischen Reflexion vorliegt.
Nach einer ausführlichen Hinführung, die das Thema historisch einordnet und die Konzentration auf ca. 15 Fusionen im Rhein-Main-Gebiet (Evangelische Kirche in Hessen und Nassau) begründet, reflektiert das zweite Kapitel (45–74) den kirchenpolitischen Kontext: Die Diskussion um das Impulspapier »Kirche der Freiheit« (2006) lässt exemplarisch erkennen, wie Gemeindefusionen einerseits – vor allem bei den Betroffenen selbst – auf den Erhalt ortsgemeindlicher Funktionsfähigkeit zielen, während sie andererseits – vor allem seitens der Kirchenleitungen – als Beitrag zu einer umfassenden Organisationsreform angesehen werden, die auf eine regional differenzierte kirchliche Arbeit zielt. – Sodann werden Gemeindefusionen knapp als »Raumgeschehen« betrachtet, ohne dass diese Perspektive im Weiteren besonders beachtet würde.
Das dritte, etwas irreführend als »kasualtheologische Überlegungen« angekündigte Kapitel (75–157) ruft weitere theoretische Kontexte auf, darunter eine Einordnung in den mehrdimensionalen Kirchenbegriff J. Hermelinks sowie die Perspektive der Orga-nisationsberatung, die sich auf Texte aus der Rheinischen Kirche beschränkt – obwohl auch andere Landeskirchen differenzierte Materialien vorgelegt haben. Sodann wird eine Studie zur Aufgabe von Kirchengebäuden referiert; hier kommt die breite architektonische und theologische Debatte (u. a. Sonja Keller 2016) nicht in den Blick – obgleich die enorme Konfliktträchtigkeit von (drohenden) Gebäudeverlusten in der vorliegenden Arbeit immer wieder aufscheint.
Die zentrale These der Untersuchung, dass nämlich die Betrachtung von Fusionen als »Gemeindekasualien« einen erheblichen Erkenntnisgewinn vor allem bezüglich ihrer theologischen Reflexion ermöglicht, soll im Durchgang durch einige aktuelle Kasualtheorien plausibilisiert werden (120–157). Besonders Wagner-Raus Erwägungen zum Segensraum sowie Friedrichs’ ritualtheoretischen Einsichten werden genutzt, um den Prozess der Fusionsverhandlungen (auch) als seelsorgliche Aufgabe und dann den Gottesdienst anlässlich einer vollzogenen Fusion als zentralen Ort ihrer religiösen Deutung vorstellig zu machen.
Das vierte, bei weitem umfänglichste Kapitel widmet sich daher der Analyse ausgewählter Gottesdienste (159–298). Hier treten allerdings vier Predigten anlässlich von Fusionen in den Vordergrund. Liturgische Vollzüge (264 ff.) werden nur knapp und meist summarisch betrachtet; und Gottesdienste etwa zur Entwidmung von Kirchen, zur Einführung des Kirchenvorstandes einer Fusionsgemeinde oder zur Einweihung neuer Gemeinderäume werden nicht bedacht. Dies stellt gerade kasualtheoretisch eine erhebliche Verengung dar. – Inhaltlich erbringen Predigt- und Gottesdienstanalysen wenig mehr, als dass der »Kasus« Fusion homiletisch höchst anspruchsvoll ist, dass eher die Rückschau als der Blick nach vorne dominiert und dass eher die musikalische als die rhetorische Gestaltung überzeugt. Zwar spielen die meisten Fusionspredigten auf Motive aus den »klassischen« Kasualien, vor allem aus Bestattung und Trauung an; eine eigene »rituelle Kernszene« (nach W. Steck) lässt sich in den Fusionsgottesdiensten jedoch nicht ausmachen. Erschwert wird dies u. a. dadurch, dass hier meist viele Protagonisten aus unterschiedlichen kirchlichen Kontexten agieren.
Ein knappes Schlusskapitel skizziert kasualtheologische, dazu gemeinde- und pastoraltheologische Erträge (299–314). Hier zeigt sich die erhebliche Rollendiffusion, der besonders die Pfarrerinnen und Pfarrer der betroffenen Gemeinden unterliegen, nicht selten gepaart mit Entwertungs- und Kränkungserfahrungen.
Bereits das Referat lässt erkennen, dass die vorliegende Arbeit erhebliche methodische und inhaltliche Mängel aufweist. So werden diverse Kategorien aus der Kirchentheorie, der Raumtheorie, der Ritualtheorie und der Homiletik aufgerufen (und wieder abgelegt), ohne sie einander zuzuordnen. Die Predigten sollen vornehmlich in »semantischer« Hinsicht untersucht werden; das von W. Engemann vorgeschlagene Verfahren (166–168) wird aber nicht konsequent durchgeführt und zudem durch andere Fragestellungen ergänzt, die in sich alles andere als trennscharf sind – so wird etwa nach dem »Selbstbild« gefragt, das »der Fusionsgemeinde nahe gelegt« wird, und wenig später nach dem »leitenden Gemeindebild« (187 f.208.232 u. ö.). Auch die liturgischen Analysen schwanken zwischen semantischen und pragmatischen Aspekten.
Inhaltlich ist zu fragen, warum die »kasualtheologische Perspektive« fast durchgehend auf die vier bekannten Kasualien re-duziert wird. Dadurch geraten die vielfältigen kommunikativen Prozesse, die einer Fusion vorausgehen, unter eine einseitig »seelsorgliche« Perspektive; und der Gottesdienst zur Fusion erscheint – m. E. realitätsfremd – als Zentrum der religiösen und theologischen Deutung jenes umfänglichen Geschehens. Wenn man schon bei jenem punktuellen Ereignis bleibt, wäre die kasualtheologische Reflexion anderer kirchlicher Übergänge, etwa von Ordinationen oder Verabschiedungen, von Einweihungen und Entwidmungen zu nutzen – dazu ist gerade in Mainz viel gearbeitet worden.
Was lässt sich nun jenseits kritischer Anmerkungen aus dieser Untersuchung lernen? Zunächst bietet sie interessante Einblicke in die homiletischen Motive und die liturgischen Strukturen der Gattung »Fusionsgottesdienst«; und sie lässt auf diese Weise die erheblichen Probleme erkennen, die einer religiösen Deutung je­ner organisatorischen Prozesse begegnen. Zudem wird deutlich, dass das Thema »Fusion« einer pastoraltheologischen Reflexion bedarf – denn hier ist jede Akteurin, jeder Akteur aus Gemeinde, Dekanat oder Kirchenamt immer schon in erheblichem Maße be­troffen, auch der Vf. selbst (97–100).
Aussichtsreicher dürfte jedoch eine dezidiert kirchentheoretische Betrachtung des Themas sein. Denn die theoretischen und materialen Perspektiven, die hier vorgelegt sind, lassen die konkurrierenden Logiken, die bei jedem Fusionsprozess ins Spiel kommen, klar hervortreten: Hier werden nicht nur typische Spannungsverhältnisse zwischen der Gemeinde (der Engagierten) und der Leitungsorganisation aufgerufen, sondern ebenso zwischen religiö-ser Kommunikation und kirchlicher Disposition (R. Preul) und schließlich der Grundkonflikt zwischen »Erhaltung« und »Erneuerung« kirchlicher Strukturen, mit all seinen Facetten, Übergängen und Missverständnissen. Wie anspruchsvoll daher nicht nur die praktische, sondern auch die theoretisch-theologische Bewältigung ortsgemeindlicher Transformationen ist, das stellt die vorliegende Untersuchung eindrücklich vor Augen.