Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2021

Spalte:

82–83

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Nelson, R. David

Titel/Untertitel:

Jüngel. A Guide for the Perplexed.

Verlag:

London u. a.: Bloomsbury T & T Clark 2019. 159 S. = Guides for the Perplexed. Kart. £ 17,99. ISBN 9780567660039.

Rezensent:

Wilhelm Hüffmeier

Nach seiner Monographie über Eberhard Jüngels Sakramentsverständnis (vgl. ThLZ 141 [2016], 536–538) legt der am North American Lutheran Seminary in Pennsylvania lehrende R. David Nelson nun ein Porträt der theologischen Entwicklung Jüngels und seiner Theologie vor. Dabei betont er mit einer Unterscheidung Karl Barths, dass Jüngel ein »practioner of ›irregular‹ dogmatics« (20 u. ö.) sei, eine Gesamtdarstellung der christlichen Dogmatik von ihm leider fehle.
Im 1. Kapitel (1–24) befasst N. sich, orientiert an Jüngels autobiographischem Text »Die Leidenschaft, Gott zu denken« (2009), mit dessen Kindheit, Studien- und Dozentenzeit »behind the wall« (10). Dort sei er vor allem durch die Erfahrung der evangelischen Kirche »as the only place where one could speak the truth freely« (4) zu einem prophetischen »theologian of Christian freedom« (3) herangebildet worden. Die Vermittlung der befreienden Wahrheit des christlichen Glaubens sei Kern und Stern von Jüngels weiterer »career as public theologian, churchman and scholar« (13) in Zürich und in Tübingen geblieben.
Das 2. Kapitel (25–53) gilt den »influences«, unter denen die »intellectual and theological formation« Jüngels sich vollzog. Dabei hebt N. die Begegnung mit Luthers Denken durch Gerhard Ebeling, mit Barths Theologie, Bultmanns Entmythologisierungsprogramm, der Neuen Hermeneutik und schließlich »The new spirit of ecumenism« seit dem II. Vatikanum hervor. Dass in Jüngels Theologie hingegen die Auseinandersetzung mit der »contem-poraneous anglophone theology«, z. B. »the ›third quest‹ for the historical Jesus« und der »the New Perspective on Paul« (53) fehle, bemängelt N., ohne sie jedoch in ein Gespräch mit Jüngel zu bringen. Jüngels Auseinandersetzung mit Vertretern der so genannten »Gott ist tot-Theologie« wie Altizer und van Buren in »Vom Tod des lebendigen Gottes« (1968) hätte dafür Material geboten.
In den Kapiteln 3 und 4 (55–124) bietet N. »field notes« (55) zu den »Four Major Monographs« und »Eleven Essential Theological Essays« Jüngels. Sie beginnen mit Bemerkungen zu »Paulus und Jesus« (1962), in dem klar die inhaltliche Kontinuität von Jesu Reichgottes- zur paulinischen Rechtfertigungsbotschaft, Jesus selber aber als »a meteoric figure« (59) ohne historischen und sozia-len Bezug zum Israel seiner Zeit gezeichnet sei. Meisterlich ist N.s theologisch präzise Kurzfassung von Jüngels ohnehin schon sehr dichter »Paraphrase« von Barths Gotteslehre in »Gottes Sein ist im Werden« (1965). Die recht formalen Hinweise zu Jüngels Hauptwerk »Gott als Geheimnis der Welt« (1977) gipfeln in der klugen Empfehlung, bei der Lektüre mit dem Schlussteil »Zur Menschlichkeit Gottes« zu beginnen. Dass es sich dabei um die inkarnationstheologisch begründete trinitarische Fassung des zentralen christlichen Bekenntnisses »Gott ist Liebe« handelt, bleibt leider unerwähnt. Jüngels Buch »Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen …« (1998) wird geschickt als »idiosyncratic« Beitrag zur Entstehungszeit der »Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfer-tigungslehre« des Lutherischen Weltbunds und des Päpstlichen Einheitsrates (1999) kontextualisiert. Letztere habe Jüngel zugleich kritisiert, ihr dann aber in ökumenischer Absicht öffentlich nicht widersprochen. Doch auch das Rechtfertigungsbuch versieht N. mit einem Vorbehalt. Denn »readers interested in a systematic summary of Lutheran teaching on justification will come away from the book disappointed«. Dass Jüngel die »concepts, categories, locutions and formulas of historic Lutheran dogmatics« (81 f.) überspringe, ist allerdings allzu grob geurteilt.
Die elf von N. präsentierten Essays haben ihr Zentrum in der Wiedergabe des neunfach entfalteten Textes »Meine Theologie – kurz gefasst« (1985). »›I believe‹, Jüngel confesses, ›therefore I speak, I listen, I am astonished, I think, I differentiate, I hope, I act, I am, and I suffer‹« (100). Warum jedoch spielen neben christologischen und trinitätstheologischen Texten jene Essays eine zentrale Rolle, die N. schon in seiner Monographie zu Jüngels Sakramentsverständnis analysiert hat? Wäre es nicht sachlich erhellender gewesen, wesentliche Texte zu Jüngels Anthropologie, Eschatologie und Ethik, wie z. B. »Der Gott entsprechende Mensch« (1975), »The Last Judgment as an Act of Grace« (1990) und »Christ, Justice an Peace« (1992) vorzustellen? Und hätte nicht ein charakteristisches Beispiel für Jüngel als Prediger des Wortes Gottes dem Buch gutgetan?
Im Kapitel »Conclusion« (125–128) würdigt N. Jüngel noch einmal als Theologen der frei machenden Wahrheit Gottes, der an die »abiding significance of the reformation« erinnert und dazu mahnt, dass »Protestants take their doctrine seriously« (125). Dass Jüngels zeitliche Kategorie der »interruption« der Wirklichkeit durch das Wort Gottes zu wenig die zeitlichen Kontinuitäten im Wirken
Gottes in der Welt und in der Kirche (127) berücksichtigt, ist m. E. ein Missverständnis. Nach Jüngel bedeutet »Unterbrechung« der Wirklichkeit durch Gottes Wort nicht deren Zerbrechen oder gar Zerstückelung. Unterbrechungen kommen vielmehr dem Le­ben gleichsam als Atempause zugute, z. B. dem kontinuierlichen Alltagsleben durch den gottesdienstlich gefeierten Sonntag. So sehr N.s gelehrte Bemühung, Jüngel und seine Theologie der anglophonen Welt nahezubringen, für ihn einnimmt, insgesamt ist sein Buch wegen inhaltlicher Lücken und dem Missverständnis im Zentralen wohl eher eine Annäherung an Jüngels Theologie.