Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2021

Spalte:

78–80

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Barnbrock, Christoph, u. Christian Neddens [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Simul-Exis-tenz. Spuren reformatorischer Anthropologie.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019. 271 S. = Lutherische Theologie im Gespräch, 1. Kart. EUR 34,00. ISBN 9783374059195.

Rezensent:

Bo Kristian Holm

Die lutherische Anthropologie wird heutzutage oft als pessimis-tisch abgelehnt. Gleichzeitig haben sich Rational-Choice-Theorien gesellschaftlich verbreitet: Alles dreht sich letztlich darum, den eigenen Nutzen zu maximieren. Die Paradoxa sind augenfällig. Eben deswegen kann die lutherische Anthropologie eine realis-tischere – weil komplexere – Perspektive anbieten. Das Schwierige scheint aber zu sein, sich die »Simul-Existenz« konkret vorzustellen. Gibt es eine Erfahrungsbasis, an die man anknüpfen kann? Auf diesen Fragehorizont gehen die sehr unterschiedlichen Beiträge dieses Buches, die die gegenwärtige Breite der Problematik einzufangen versuchen, erhellend ein. Die Stärke des Buches liegt darin, dass es sowohl interdisziplinär als auch interkonfessionell arbeitet, und als erster Band der neuen Reihe Lutherische Theologie im Ge­spräch stellt es geradezu einen verheißungsvollen Auftakt dar.
Zu Beginn führt Christian Neddens in die notwendigen inhaltlichen und historischen Perspektiven ein. Die anderen Beiträge folgen dann in acht Gruppen aus je zwei Beiträgen. Rahmensetzend für die Diskussion wird der erste Beitrag von Notger Slenczka über »Extern begründete Identität« präsentiert. Sowohl Neddens als auch Slenczka heben besonders den identitätskonstituierenden Aspekt des simul hervor.
Unter Berücksichtigung von John Locke und Annette von Dros-te-Hülshoffs »Judenbuche« will Slenczka zeigen, dass das simul äußerst »modernetauglich« ist: Der moderne Mensch ist im tiefs-ten Sinne urteilsabhängig. Seine ganze Wirklichkeit ist an Urteile gebunden. Dies gilt Slenczka zufolge nicht nur für das »Gerecht-sein«, sondern eben auch für das »Sündersein«.
Ein urteils- und identitätsorientierter Zugang hebt mehr die individuelle als die soziale Dimension des simul hervor. Individuumsorientiert ist auch der kunsthistorische Überblick von Roland Mönig über Simul-Existenz in der Kunst unter der Überschrift »Ansichten des Menschen/Ansichten vom Menschen«. Mönigs Führung durch Bilder von Hoehme, Beckman, Schlemmer, Archipenko, Gertsch, Rainer und Meese hebt auch hier den individuellen Bezug als das den Bildern Gemeinsame hervor. Mit den Worten von Hoehme, »[…] die Bilder sind nicht auf der Leinwand, sondern im Menschen«, schließt Mönig seinen Beitrag und überlässt es dem Leser, eine Konklusion zu ziehen. Wo hier Menschen abgebildet sind, sind diese immer einsam. Es wäre interessant gewesen, das Menschsein in sozialen Relationen deutlicher zu thematisieren.
Die Beiträge von Oswald Bayer und Volker Stolle, die beide eine hilfreiche Kurzfassung von früher veröffentlichtem Material enthalten, bestätigen das Einführungspotential des Buches. Oswald Bayers und Stephan Weyer-Menkhoffs Beiträge sind einander als Paar zugeordnet und präsentieren zwei verschiedene Zugänge zur reformatorischen Paradoxie. Bayer betont, wie Luthers reformatorisches simul nach außen gewendet ist. Der Wandel vom peccator zum iustus geschieht nicht im Subjekt, aber in der Relation zu der »von außen kommenden Verheißung«. Damit kehrt Bayer das Verständnis vom Sein des Menschen im Werden um: Der gerechtfertigte Sünder ist schon aufgrund der Taufe im Sein. Weyer-Menkhoff versucht, die auf Logik gebauten Ermäßigungen des simul zu überwinden, indem er auf eine in der Praxis der Wortwahrnehmung hinleitende Metaphorik verweist, die in Christus ihr Fundament hat und besser imstande ist, die weltlichen Ambivalenzerfahrungen von Endlichkeit wahrzunehmen.
Im exegetischen Teil III behandeln Volker Stolle den für Luther wichtigen neutestamentlichen Autor, Paulus, und Andreas Pflock den für Luther neutestamentlichen Randtext, den Jakobusbrief, der als Lektüre der Existenz gelesen wird. Stolle weist auf die einleuchtende und gleichzeitig bedeutsame Einsicht hin, dass das relationale simul auch sozial zu verstehen ist. Allerdings hätte man sich hier gewünscht, dass auch die Bedeutung der johanneischen Christologie für Luthers Anthropologie berücksichtigt wird.
In Teil IV werden die ethischen Implikationen der Simul-Formel behandelt. Sasja Emilie Mathiasen Stopa wirft ein Licht auf die soziale Dimension des Sünderseins, indem sie das paradoxe Verhältnis von Vertrauen und Sünde in Luthers Gesellschaftsverständnis untersucht. Michael Hüttenhoff versucht, Luthers Simul-Formel gegenüber der Kritik Latomus’ zu prüfen. Damit zeigt er illustrativ, warum das interkonfessionelle Gespräch zwar notwendig, aber oft schwierig ist. Hüttenhoff untersucht Luthers simul aus der Perspektive moralischer Dilemmata und Schuldgefühle, wo Luther selbst das Sündersein des Menschen als eine Bestimmung des Menschen vor dem Handeln so versteht, dass das, was heute gerechtfertigt ist, morgen wieder Sünde sein kann, wenn der Mensch auf seinen eigenen Nutzen und sein Vermögen und nicht auf Gott und den Nächsten blickt. Hier hat das Urteil seinen Platz.
Im praktisch-theologischen Teil V nimmt Hans-Martin Gutmann die Rolle der Predigt in den Blick, während sich Christoph Barnbrock auf die Funktion des lutherischen Gottesdienstes konzentriert. Besonders die erzählende Predigt hat laut Gutmann die Möglichkeit, eine Resonanz in dem ambivalenzgefüllten Leben zu erzeugen. Ein starker Sündenbegriff wird hier ein notwendiger Schutz für allzu eindeutige Bosheitsvorstellungen und ein notwendiger Beitrag zur Entfeindlichung der Zivilgesellschaft. Laut Christoph Barnbrock braucht der Mensch in diesem komplexen Menschenbild des simuls Übung, und genau das ist die Funktion der lutherischen Messe, die er aufmerksam untersucht und anregende Spannungen in der gottesdienstlichen Wahrnehmung der brüchigen und in »der Spirale der immer gesteigerten Perfektionserwartungen« gefangenen menschlichen Existenz findet.
In zwei weiteren katholischen Beiträgen in Teil VI legen Lucia Scherzberg und Andrea Ngyen eine facettenreiche Untersuchung der Relation zwischen dem katholischen Konzept des Gerechtseins und dem lutherischen simul vor und sehen hier genug Möglichkeiten für eine Beurteilung der bleibenden Differenzen als legitime Vielfalt theologischer Perspektiven, was nicht zuletzt durch ein »unthematisches simul« in Papst Franziskus’ Amoris Laetitia belegt wird. In einem höchst interessanten Beitrag versucht Katharina Peetz das lutherische simul auf die Situation im post-genozidalen Ruanda anzuwenden, wo Erfahrungen aus verschiedenen konfessionellen Kontexten bemerkenswerte Parallelen zeigen.
Wolfgang Ulrich bestätigt die Gegenwartsrelevanz des simul in der modernen ambivalenten Konsumkultur. Christian Neddens un­tersucht im letzten Beitrag die Darstellbarkeit des simuls in der Kunst. Eine interessante Verbindung entsteht hier zu Mönigs Beitrag, da die Darstellungen der Rechtfertigung des Sünders aus der Reformationszeit nur Menschen in Relationen zeigen. Zwei geis-tige Impulse schließen das Werk ab.
Das Buch verdeutlicht, dass die Gegenwartsrelevanz vor allem erkennbar ist, wenn die ambivalente Sozialität mitberücksichtigt wird. Als Einstieg gibt das Werk viele anregende Impulse. Insgesamt zeigt sich, wie vielversprechend das simul als ein Schutz gegen falsche Eindeutigkeiten sein kann.