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Ausgabe:

Dezember/2020

Spalte:

1270–1273

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Schmidt, Bernward

Titel/Untertitel:

Kleine Geschichte des Ersten Vatikanischen Konzils.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2019. 376 S. Geb. EUR 38,00. ISBN 978-3-451-38430-1.

Rezensent:

Andreas Krebs

Zum 150. Jahrestag der Verkündung von Unfehlbarkeit und Universaljurisdiktion des Papstes 1870 hat der Eichstätter Kirchengeschichtler Bernward Schmidt – ein ausgewiesener Kenner unter anderem der katholischen Synoden- und Konziliengeschichte seit der frühen Neuzeit – eine »Kleine Geschichte des Ersten Vatikanischen Konzils« vorgelegt. Dem sorgfältig, zugleich packend und mit Tiefgang geschriebenen Buch liegt eine klare chronologische Gliederung zugrunde; zudem erleichtern ein Personen- und Sachregister die Orientierung. Informativ werden die Voraussetzungen des umstrittenen Konzils dargelegt; mit Spannung verfolgt man die Debatten zwischen der Majorität der Bischöfe, die eine Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit bejahten, und der kritischen Minorität, die fast geschlossen vor der Schlussabstimmung abreiste. Auch die Gründe und Umstände, die zur nachträglichen Akzeptanz der Beschlüsse durch die Minorität führten, werden einsichtig gemacht. In einem abschließenden Kapitel zu den Fragen, ob das I. Vatikanum ein unfreies Konzil gewesen sei, wie es sich zum II. Vatikanum verhalte und welche Beziehung zwischen Kirche und Welt sich darin ausdrücke, differenziert der Vf. verschiedene Aspekte und Ebenen des jeweiligen Problems, überlässt die Antworten jedoch letztlich dem Leser.
Der Vf. bekennt selbst, dass seine Ausführungen im Wesentlichen auf den bislang nicht überbotenen Arbeiten von K. Schatz beruhen und keine neuen Forschungsergebnisse bieten (15). Trotzdem unterscheiden sich die Darstellungen. Schatz’ umfassende Geschichtsschreibung des I. Vatikanums (3 Bde., 1992–1994) geht behutsam und genau mit den Quellen um; in den Einordnungen und Bewertungen freilich wird sie von einem durchaus apologetischen Interesse geleitet: Gegen prononcierte Kritik, wie sie etwa von H. Küng (Unfehlbar? Eine Anfrage, 1970) und A. B. Hasler vorgetragen wurde (Pius IX. 1846–1878, päpstliche Unfehlbarkeit und 1. Vatikanisches Konzil, 1977), möchte Schatz bei gebührender Berücksichtigung aller Probleme doch die Legitimität und sachliche Ausgewogenheit der Konzilsentscheidung und ihrer Rezeption herausarbeiten. Demgegenüber ist der Vf. stärker um Neutralität bemüht: Es gelingt ihm, für Argumente, Denkweisen und Prägungen sowohl der Majorität als auch der Minorität Verständnis zu wecken. Oft stellt er dasselbe Ereignis nacheinander aus den konträren Blickwinkeln beider Parteien dar, ohne eine von ihnen uneingeschränkt ins Recht zu setzen. Im Ganzen verfolgt der Vf. die These, die Grundprobleme des Konzils hätten sich aus verhärteten Fronten zwischen Majorität und Minorität und mangelnder Beweglichkeit beider Seiten ergeben. Dabei spricht für die Ausgewogenheit des Buches, dass es eine ungeschönte Wiedergabe auch jenes Vorgangs enthält, der die Gültigkeit dieser These zumindest einschränkt (236–240): Ein überraschender Kompromissvorschlag des Kardinals Filippo Maria Guidi am 18. Juni 1870, der bei beachtlichen Teilen von Majorität wie Minorität Unterstützung fand, wurde durch eine persönlich-emotionale Intervention Pius’ IX. niedergeschmettert (»io sono la tradizione, io sono la Chiesa«). Für die Verwerfungen, die das I. Vatikanum mit sich brachte, ist also nicht allein die Lagerbildung unter den Bischöfen verantwortlich; zu­mindest an diesem entscheidenden Punkt war es Pius IX. selbst, der aktiv einen möglich scheinenden Konsens verhinderte.
Angesichts der ausbalancierten Darstellung von Voraussetzungen, Verlauf und Beschlüssen des I. Vatikanums überrascht die Unausgewogenheit umso mehr, mit welcher der Vf. in den letzten Kapiteln die alt-katholische Protestbewegung bzw. Kirche schildert. Schon Schatz hat die Meinung vertreten, der alt-katholische Widerstand gegen das I. Vatikanum habe sich letztlich an einem maximalistischen Verständnis der Papstdogmen abgearbeitet, zu dessen Verwirklichung es nie gekommen sei. Der Vf. übernimmt diese Meinung nicht nur ohne Abstriche (293), sondern verleiht ihr durch die Kürze und Konzentration seiner Erzählung noch zusätzliche Prägnanz. Verblüffend einseitig ist namentlich das vom Vf. gezeichnete Bild Döllingers ab 1869. Dass dieser ein scharfer Polem iker sein konnte und bei seinen Einlassungen mitunter allzu staatstreue und nationalistische Töne mitschwangen (324), ist unbenommen; dass aber der Vf. Döllingers zahlreichen Reden und Schriften dieser Zeit keinen einzigen Gedanken entnehmen kann, der auch aus heutiger Sicht zumindest interessant wäre, erstaunt dann doch. Gänzlich unbelichtet bleibt das ökumenische Engagement, das entscheidend für Döllingers Selbstverständnis war (Bonner Unionskonferenzen, 1874/75). Dabei existieren seit Langem Arbeiten auch römisch-katholischer Theologen (P. Neuner, F. X. Bischof), in denen Döllingers intellektuelle und charakterliche Vielschichtigkeit erkennbar wird; auch die Berücksichtigung alt-katholischer Döllinger-Forschung wäre möglich gewesen; wenigstens aber die jüngste, nuancierte Döllinger-Studie von Th. A. Howard (The Pope and the Professor, 2017) hätte den Vf. zu einem ausgeglicheneren Urteil inspirieren können.
Auch in der Sache macht es sich der Vf. mit dem alt-katholischen Protest sehr leicht: Die Partei um Döllinger, heißt es, habe ein »verfälschtes Bild« der Konzilsbeschlüsse gemalt, »das einem auch nur oberflächlichen Abgleich mit dem Text von Pastor aeternus nicht standhält« (324). War die Sache wirklich so einfach? In der ersten öffentlichen Protestnote etwa, der von Laien verantworteten »Kö­nigswinterer Erklärung« vom August 1870, bekennen »die unterzeichneten Katholiken, dass sie die Dekrete über die absolute Gewalt des Papstes und dessen persönliche Unfehlbarkeit […] verwerfen« (vgl. 317). Wer will, kann in diesen Text eine extreme Deutung des I. Vatikanums hineinlesen (als würde mit »absolut« und »persönlich« totale päpstliche Beliebigkeit unterstellt), um ihn damit beiseite zu wischen; gerecht wird man so dem Wortlaut aber nicht. Nach römisch-katholischem Kirchenrecht – das seit 1917 (und auch in der Neufassung von 1983) den 1870 erklärten Jurisdiktionsprimat in Normen umsetzt – ist der Papst zugleich höchster Richter, höchster Gesetzgeber und höchste Vollziehungsinstanz und zudem befugt, in seiner gesamten Kirche unmittelbar einzugreifen; in diesem präzisen Sinne kann man die päpstliche Rechtsgewalt tatsächlich als »absolut« bezeichnen. Zudem erhält die Unfehlbarkeit dogmatischer Entscheidungen, auch bei gegebener kirchlicher Einbindung, einen durchaus »persönlichen« Charakter dadurch, dass sie auf das Letzturteil eines herausgehobenen Menschen zugespitzt wird. Beides muss man nicht einmal als Nachteil ansehen – sollte aber anerkennen, dass der alt-katholische Protest, bei allen zeitbedingten Übertreibungen, doch nicht einfach nur ein Hirngespinst betroffen hat. Abgesehen davon hätte es dem Vf. erwähnenswert erscheinen können, dass noch heute eine alt-katholische Theologie existiert, die inzwischen – dokumentiert in den internationalen alt-katholisch/römisch-katholischen Dialogpapieren von 2009 und 2017 – zu differenzierten Wahrnehmungen des römischen »Petrusdienstes« gefunden hat.
Insgesamt macht das Buch – gerade weil es, von den genannten Einschränkungen abgesehen, eine kompakte Darstellung des aktuellen Wissensstands zum I. Vatikanum bietet – bestimmte Desiderate umso deutlicher bewusst. Wie der Vf. herausstellt, handelte es sich um das erste Konzil, bei dem Bischöfe aus Nordamerika und den »Missionsgebieten« sowie zahlreiche Vertreter orientalischer Riten anwesend waren (166); eine Zusammenschau ihrer Erfahrungen und Beiträge sowie der Probleme ihrer Heimatländer steht noch aus. Eine stärker global orientierte Geschichtsschreibung würde unter den Folgen des Konzils unter anderem auch das Armenische Schisma (1871–1879/81) beleuchten (M. Kartashyan) oder das Phänomen des »unabhängigen Katholizismus« in Ostasien einbeziehen (A. Hermann, P.-B. Smit), der gegen Ende des 19. Jh.s aus kolonialen Konflikten hervorging und sich ebenfalls gegen das I. Vatikanum abgrenzte. Zu denken gibt das Konzil schließlich auch als ökumenisches Ereignis: Es forderte die übrigen Kirchen zu oft scharfen Reaktionen heraus; zugleich ließ es sie untereinander näher zusammenrücken. Es wäre lohnend, der Frage nachzugehen, inwieweit das I. Vatikanum damit zu einem Impulsgeber des modernen – zunächst durchaus anti-römisch-katholisch profilierten – Ökumenismus wurde.