Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2020

Spalte:

1259–1263

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Stetter, Manuel

Titel/Untertitel:

Die Predigt als Praxis der Veränderung. Ein Beitrag zur Grundlegung der Homiletik.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018. 442 S. m. 5 Abb. = Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie, 92. Geb. EUR 80,00. ISBN 978-3-525-62443-2.

Rezensent:

Stefan Karcher

Sprache und Kommunikation sind in der Homiletik so selbstverständliche Größen, dass es beinahe überrascht, wie selten Sprache, Kommunikation und Rhetorik in homiletischen Untersuchungen behandelt werden. Zweifellos ist in der evangelischen Predigt das gesprochene (und gehörte) Wort das Mittel, durch das etwas »ge­schieht«, im besten Fall eine positive Veränderung bei den Hörern und Hörerinnen. Endlich, möchte man fast sagen, liegt nun ein theoretisches Werk vor, das von genau dieser Selbstverständlichkeit ausgeht. Predigt verändert, oder präziser: Es besteht die »Möglichkeit«, dass Predigt etwas verändert; im Predigtgeschehen liegt also eine »transformative Dimension«, die einen »irgendwie gearteten Unterschied im Denken, Fühlen oder Wollen der Adressaten [macht]« (16). Geschickt wird in dieser Gegenstandsbestimmung das alte Vokabular von der »Wirksamkeit« umgangen, was den Ausgangspunkt der Untersuchung von Beginn an verdeutlicht: Sie nähert sich der Thematik von der sprachlichen und kommunikativen Seite, reflektiert kritiktheoretische, ästhetische, rhetorische sowie soziokulturelle Aspekte und nimmt die Predigt – ohne sich in Begriffsdefinitionen von Rede, Vortrag oder Ähnlichem zu verlieren – zunächst so vor, wie sie von außen betrachtet auftritt: als eine Aneinanderreihung gesprochener Worte, die von einer Person ausgeht und von anderen Personen gehört wird. Was also durch die Predigt geschieht und mit welchen Mitteln vom Sender ausgehend (71) in der Lebenswelt der Empfangenden »der Unterschied ge­macht wird«, damit beschäftigt sich die vorliegende Arbeit.
Bereits 2018 erschien die Dissertation von Manuel Stetter, ein beeindruckendes Theoriewerk mit 442 Seiten Umfang (davon 19 Seiten Register und 42 Seiten Literatur), das 2017 mit dem Promotionspreis der Theologischen Fakultät der Universität Tübingen ausgezeichnet wurde. S. assistierte dort als Doktorand bei Birgit Weyel und kehrte nach seinem Vikariat dorthin zurück. Als Landeskirchlicher Assistent habilitiert er sich zurzeit im Bereich Seelsorge und Pastoraltheologie.
S.s Publikationsliste zeigt zwischen 2009 und 2015 eine starke Schwerpunktsetzung auf Fragen zur Funktion der Predigt im Gottesdienst, ihrer argumentativen/diskursiven Gestaltung und ihrem Charakter als Rede. Bereits 2013 veröffentlichte er ein »Diskussionspapier« (in: Hermelink/Deeg, Viva Vox Evangelii), in dem er den Begriff der »transformativen Dimension der Predigt« erstmals vorstellte (Aiming at Change. The Transformative Dimension of Preaching). Die Publikation reiht sich ein in eine Sammlung von Werken, die offensichtlich eine gemeinsame »Stimmung« aufgenommen und damit eine neue Facette in die homiletische Diskussion eingebracht haben: eine Reform der Predigt durch die Reflexion der Intention der Predigt. S. selbst ordnet seine Arbeit in diese Diskussion ein (66, Anm. 167) und nennt Gräb (2013), Conrad (2014), Kretzschmar (2014), Meyer-Blanck (2010), Schlag (2014) und Weyel (2012; 2013). In diese Diskussion einer rhetorisch durchdachten und damit etwas »bewirkenden« bzw. verändernden Predigt ist die Untersuchung S.s einzuordnen und er bereichert sie dadurch, dass diejenigen in den Fokus gerückt werden, die die Predigt hören und verändert werden (sollen), die Rezipienten. Die exemplarische Nennung dieses beginnenden Diskurses in einer Fußnote führt jedoch zu kurz, hat doch gerade Ruth Conrad in ihrem Plädoyer für eine Predigt mit Absicht und Inhalt (2014) mit ihrem predigtgeschichtlichen Zugang im Anschluss an Schleiermacher die Forderung nach einer Transformation zu einem »erhöhte[n] religiöse[n] Bewußtsein« (Conrad, 61) explizit benannt. Stattdessen orientiert sich die Arbeit an religionsphilosophischen Transformationspotentialen bei Henning Luther, Paul Ricœur und Bruno Latour, was die kommunikations-, rezeptions- und sprechakttheoretische Anlage unterstreicht.
Die zentrale Frage der Arbeit, die in einem ausführlichen Eingangsteil (15–76) entwickelt und begründet wird, spitzt sich damit auf strukturelle, begriffliche, technische, konditionale, modale, ethische, kontextuelle und konzeptionelle Aspekte zu, die in den folgenden Kapiteln zwar nicht im Einzelnen benannt werden, aber stets als Orientierungspunkte einer präzisen Argumentation dienen und im Resümee (363–379) ihre Auflösung erfahren. Zusätzlich illustriert durch eine schematische Darstellung des Aufbaus der Arbeit (75) erkennt man: S. spricht nicht nur über Rhetorik und die transformative Dimension eines Textes, sondern versteht es auch, mit diesem Handwerkszeug umzugehen und es sogar in einer wissenschaftlichen Theoriestudie umzusetzen. Dieser »Nebenschauplatz« macht die Arbeit auch für Leser – oder besser: Sprachforsche r– interessant, die nicht dezidiert für homiletische Theorie zu begeistern sind, sondern sich mit der diskursiven/argumentati-ven Struktur einer wissenschaftlichen Arbeit auseinandersetzen möchten.
Diese Argumentationsstruktur der Arbeit unterstützt die Wahrnehmung des beeindruckenden Detailreichtums der Studie, wie ihn andere Rezensenten (LK 1, 2018; IJPT 23, 2019; nthk.de) bereits hervorgehoben haben und die man nur uneingeschränkt teilen kann. Sie haben auch bereits die außerordentliche Leistung gewürdigt, dass durch S.s Arbeit die Kritiktheorie neben Rhetorik und Ästhetik als neue Größe in den homiletischen Diskurs eingeführt wurde. Dass hierbei der Fokus der Betrachtung ausschließlich auf Michael Walzer liegt (77–136), ergibt sich zunächst daraus, dass es sich um einen der »anregendsten und kontrovers diskutierten Entwürfe« (78) handelt, der sich zudem mit dem sogenannten connected criticism auf die Immanenz der Rezipienten bezieht und damit auf deren Lebenswelt. Kenntnisreich führt S. durch die Kritiktheorie Walzers, verknüpft sie in Einzelaspekten mit Charles Taylor, präzisiert mit Hartmut Rosa, um schließlich zu der Pointe zu gelangen, dass es eine linguistische und argumentative Aufgabe sei, mit einer konnektiven Kommunikationspraxis die Adressaten »in die Lage zu versetzen«, das Gehörte in ihrem eigenen Bedeutungssystem zu verstehen (133). Vordergründig folgt diese E r­kenntnis den homiletischen Forderungen nach einer klaren »Ab­sicht« und »Intention« der Predigt. Argumentationslogisch dient die Kritiktheorie aber vorwiegend dazu, das strukturelle Argument der transformativen Dimension zu stützen, dass nämlich den Adressaten der Predigt der Transformationsprozess er­möglicht werden soll. Die Einzelfunktionen der Kritiktheorie werden mit ästhetischen und rhetorischen Mitteln lediglich weiter vertieft oder sogar verstärkt. Hierzu folgt ein Reflexionsgang zu den ästhetischen Perspektiven anhand Victor Turners Konzept der Liminalität und Erika Fischer-Lichtes Konzeption der ästhetischen Erfahrung (137–214).
Mit Erika Fischer-Lichte begibt sich die ästhetische Reflexion in ein weiteres Feld der homiletischen Diskussion, nämlich auf das der performance. Es mag nicht auf uneingeschränkte Zustimmung stoßen, Predigt als »Aufführung« zu bezeichnen (167), jedoch sind die Ausführungen zum transformativen Potential einer ästhetisch-performativen Predigt hochplausibel. Predigt verändert, wenn sie »als Aufführung Alltagsvollzüge [unterbricht]«, sie verändert durch die Interpretation, Identifikation/Immersion, Assoziation und Oszillation/Ambivalenz bei den Rezipienten (172–179). Die ästhetische Predigtperformance besitzt damit ein transformatives »Provokationsvermögen« (207).
Der ästhetische Reflexionsgang wird wiederum plausibel mit dem rhetorischen verknüpft, wodurch schließlich der Redecharakter der Predigt im rituellen Kontext des Gottesdienstes in den Fokus rückt. Gerade im Hinblick auf das Provokationsvermögen der Ästhetik wird die häufig thematisierte Problematik des Manipulationspotentials der Rhetorik aufgenommen. Das Postulat der instrumentellen Rhetorik nach Josef Kopperschmidt legt die Zielrichtung der Rhetorik fest: ein intentionales Überzeugen gegen ein Überreden, ohne zu überzeugen, das nach einer ausführlichen Rezeption der Rhetoriktheorie Joachim Knappes in den Gegenwartsdiskurs geführt wird (235–248). Die »Vertiefung des Persuasionsbegriffs« (249–273) bildet im Spannungsbogen des Argumentationsgangs den Höhepunkt und bündelt die Ansätze von Walzer, Fischer-Lichte und Knappe zu einer ethisch-verantwortlichen transformierenden Predigt. Die daran anschließende soziokulturelle Kontextualisierung fällt in der Argumentation hinter diese ›Ergebnissicherung‹ zurück, bietet aber dennoch eine sinnvolle und notwendige Einschränkung des Bisherigen: Trans-formation setzt dynamische Pluralität voraus und nimmt die Hörer und Hörerinnen als »Akteure« (358) wahr – schöner noch, aber in der Anmerkung versteckt, als »verantwortliche Gestalter« (358, Anm. 206).
Trotz der Dichte und des Materialreichtums der argumentativen Hauptteile ist deren Rahmung durch Einführungskapitel und Resümee (361–380) glänzend konstruiert und aufeinander abgestimmt. Bereits eine eigenständige Lektüre dieser Teile ist für die homiletische Forschung anregend und erkenntnisreich. Lesern, die die Lektüre der Reflexionsgänge auslassen, wird jedoch entgehen, dass die logisch (69) angelegte Theoriestudie ganz praktisch transformiert und dadurch für alle, die predigen, eine hohe Relevanz besitzt. Wer liest, wird kritisch hinterfragen, wird die eigene Aufführung auf der Kanzel reflektieren und sich linguistisch, rhetorisch und ethisch mit den Aussagen der eigenen Predigten befassen. Dadurch wird die Lektüre zweifellos dazu führen, weiter über Intention, Absicht und Transformation durch die Predigt nachzudenken. Wer damit un­mittelbar beginnen möchte, hat in S.s Dissertation ein fundiertes Werk vor sich, dessen Literaturverzeichnis auf 42 Seiten 826 Titel beinhaltet und so S.s Kenntnisreichtum widerspiegelt.
Ohne die Gründlichkeit der Analyse und die Relevanz der Forschungsleistung schmälern zu wollen – diese sind imponierend und inspirierend –, steht die Arbeit S.s in einer Tradition geisteswissenschaftlicher Forschungskultur, die auch wegen ihrer Me­thodik kritisch hinterfragt werden sollte. Sehr gute Qualifikationsschriften zeichnen sich allzu häufig durch Umfang und Literaturmenge aus, die Bildung und Breite suggerieren, aber wenig zum Erkenntnisfortschritt oder Argumentationsgang beitragen. Führt die Erwartung an breit und umfassend gebildete Promovenden und Promovendinnen nicht letztlich zu der methodischen Schwäche, dass Qualifikationsschriften zwar sprachlich und argumentativ überzeugen, die Erkenntnisse aber in der Substanz nur auf wenigen exemplarisch ausgewählten Autoren beruhen? In S.s Arbeit ist das vorwiegend die Kritiktheorie Michael Walzers als der eigentliche Forschungsgegenstand, der mit Ansätzen von Erika Fischer-Lichte, Joachim Knappe, Josef Kopperschmidt, Hartmut Rosa, Charles Taylor, Victor Turner und Birgit Weyel argumentativ ins Gespräch gesetzt wird. Zweifellos ist die Auseinandersetzung mit den Werken dieser Autoren sorgfältig durchgeführt und dem Argumentationsgang uneingeschränkt dienlich. Warum braucht es dann noch den Verweis auf Alexander Schweizer im Literaturverzeichnis, der als verzichtbarer Vergleich und Definitionsgeber l ediglich in einer Fußnote erwähnt wird (76, Anm. 185), warum Zygmunt Bauman, der ebenfalls nur ein einziges Mal in einer Anmerkung zitiert, aber nicht argumentativ rezipiert wird (36, Anm. 70)? Warum wird nicht auf George Herbert Mead hingewiesen, der mit seiner These der personalen Identität die Entwicklung der Identitätstheorie maßgeblich bestimmte?
Dieser Hinweis auf die Verwendung des Identitätsbegriffs ist exemplarisch für eine kompilierende Arbeitsweise. Schließlich wurde »Identität« in der gesellschafts- und humanwissenschaftlichen Forschung äußerst vielfältig und komplex diskutiert und der Umgang mit dem Begriff weist eine mehr als 50 Jahre andauernde Diskussion auf. In S.s Arbeit dient der gewählte Bezug auf Heinz Abels daher lediglich dazu, den Begriff einzuführen und die Bestimmung der Identität als Reaktion auf die Frage: »Wer ich bin, [und] wer ich sein will« (31, Anm. 50) hervorzuheben, um die Selbstkonstruktion des Subjekts (31–38) mit Walzers Kritiktheorie und den Spannungsfeldern der Selbstdeutung in Verbindung zu setzen (125–128). Gerade weil die Kritiktheorie zur Selbstinterpretation und -integration eines religiösen Bewusstseins in praktisch-theologischen Arbeiten bislang kaum Beachtung gefunden hat, scheint hier eine Präzisierung angebracht.
S.s Arbeit steht damit in einer Reihe ausgezeichneter Dissertationen, die ohne Zweifel eine breite und kritische Rezeption verdienen, nicht zuletzt, weil die stilistisch einwandfreie Arbeit so konstruiert wurde, dass sie tut, was sie fordert, nämlich eine Veränderung einzufordern. Dieser Veränderung liegt sicherlich die Wirksamkeit einer Predigt – oder allgemein: von gesprochenem und geschriebenem Text – zugrunde und ist mehr im rhetorischen Aufbau des Textes zu suchen. Hierfür liefert S. die erforderliche theoretische Begründung. Die praktische Weiterarbeit erfordert nun einen weiteren Blick der Homiletik und der Praktischen Theologie in die Bereiche der gegenwärtigen Sprach-, Kommunikations- und Me­dienwissenschaft.