Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2020

Spalte:

1255–1257

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Roleder, Felix, u. Birgit Weyel

Titel/Untertitel:

Vernetzte Kirchengemeinde. Analysen zur Netzwerkerhebung der V. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019. 256 S. m. zahlr. Abb. Kart. EUR 68,00. ISBN 978-3-374-05931-7.

Rezensent:

Miriam Zimmer

Mit Vernetzte Kirchengemeinde veröffentlichten Felix Roleder und Birgit Weyel 2019 einen Auswertungsband zur Netzwerkerhebung der V. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD. Etwa zeitgleich verfasste R. seine Dissertation Die relationale Gestalt von Kirche (2020), die denselben Datensatz kirchentheoretisch interpretiert. Der Band verortet sich in einem wachsenden Feld der kirchenbezogenen und theologischen Netzwerkforschung. Die einmalige Vollerhebung sozialer Beziehungen in einer typischen westdeutschen, evangelischen Kirchengemeinde (13) bietet umfassende Einblicke in christlich-religiöse Kommunikation und Vergemeinschaftung. Die Fallstudie erhob neben religiösen und sozialstrukturellen Individualdaten vier Beziehungsebenen: (1.) den Austausch über den Sinn des Lebens, (2.) den gemeinsamen Gottesdienstbesuch, (3.) den gemeinsamen Besuch regelmäßiger Gemeindeangebote und (4.) nahestehende Personen. Bereits im ersten Auswertungsband zur V. KMU unter dem Titel Vernetzte Vielfalt (2015) wurden der Datensatz und erste Einsichten dargestellt. Eine um­fassende Analyse der relationalen Daten fehlte bislang und wurde nun vorgelegt.
Nach einem einführenden Kapitel zur Entstehung des Datensatzes werden in den sechs folgenden Kapiteln die vier erhobenen Netzwerke separat und in ihrem Zusammenspiel untersucht. Dabei verfolgt der Band nicht eine zentrale Fragestellung, sondern wirft in jedem Kapitel unterschiedliche Themen auf. Das erste Analysekapitel, Kapitel 2, stellt die Frage, inwiefern lokale Kirche gesellschaftlicher Fragmentierung nach Alter, Geschlecht und Bildung integrierend entgegenwirkt (24–58). R. und W. kommen zu der Erkenntnis, dass die Kontaktstrukturen der Kirchengemeinde eine starke Homophilie aufweisen. Einzig der Bildungshintergrund und, je nach Angebot, das Geschlecht scheinen weniger relevant zu sein als in den Nahbeziehungen (43–45). Kapitel 3 zeigt, dass der Austausch über den Sinn des Lebens als religiöse Kommunikation (59–99) eine kleinräumige, dezentrale Netzwerkstruktur aufweist (64). Dabei bringen aktive Gemeindemitglieder in ihre Kommunikation über den Sinn des Lebens dezidiert religiöse Deutungsperspektiven ein (74 f.). Kapitel 4 diskutiert Kontaktmuster innerhalb der Gemeindeangebote (100–137). Es wird festgestellt, dass bei Angeboten mit vielen Teilnehmenden sowohl enge als auch flüchtige Kontakte zwischen den Teilnehmenden bestehen, während in kleinen Gruppen vor allem enge Beziehungen vorherrschen (123). Zudem werden sechs informelle Communities identifiziert, die intern eng vernetzt sind, zwischen denen dagegen eher lose Bindungen bestehen. Die Communities sind in den formalen Angeboten der Gemeinde verankert, reichen aber über sie hinaus. 30 Superknoten sorgen durch ihre vielen Kontakte für die Kohäsion des Gesamtnetzwerkes der Kirchengemeinde (134 f.). Kapitel 5 untersucht, inwiefern Gemeindemitglieder personale Brücken zwischen den Gemeindegruppen und zu ihrer Umwelt darstellen (138–169). Unterschiedliche Partizipationsprofile verdeutlichen den Zusammenhang zwischen der Teilnahme am Gemeindeleben, der Demographie und dem Gefühl der Verbundenheit mit der Kirchengemeinde (148). Aktive Gemeindemitglieder sind zivilgesellschaft-lich engagierter als nichtaktive (160). Im 6. Kapitel wird die Rolle von Gemeindepfarrern und Mitarbeitern beleuchtet (170–201). Die Kontakte zu Pfarrern ereignen sich vorrangig bei Kasualien und Gruppentreffen (174). Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen werden häufiger zum Austausch über den Sinn des Lebens aufgesucht; damit fällt ihnen die Rolle religiöser Experten zu (197). Kapitel 7 erklärt das Verbundenheitsgefühl der Mitglieder zur lokalen Kirchengemeinde durch deren Nahbeziehungen (202–211). Das 8. Ka­pitel schließt mit zwölf systematischen Erkenntnissen (212–222).
R. und W. verdeutlichen durch eine Vielzahl kirchensoziologischer und theologischer Perspektiven die Komplexität des lokalen religiösen Beziehungsgeschehens im Austausch mit den und jenseits der formalen Strukturen und betonen die Perspektivenbedingtheit des Blickes auf den Untersuchungsgegenstand. Die in­terne Diversität und Differenzierung der Beziehungsstrukturen, Aktivitäten und Netzwerkpositionen in Kirchengemeinden werden sichtbar (213) und verweisen damit kirchentheoretisch auf die Möglichkeiten und Abstufungen der mittelbaren und unmittel-baren Teilnahme am Gemeindeleben. Weiterhin zeigt die Studie die Divergenzen und Verbindungen kirchengemeindlich organisierter und privater, nichtorganisierter, religiöser Kommunikation (217).
Die Analysen zeigen, wie unterschiedliche kirchentheoretische Fragestellungen aus der Netzwerkperspektive mit verschiedenen Analyseinstrumenten untersucht werden können, wirken dabei allerdings teilweise kontingent und arbiträr. Diese ersten Auswertungen könnten zu theologischen, religionssoziologischen und netzwerktheoretischen Fragestellungen bedeutend beitragen, müssten dazu jedoch in die jeweiligen Forschungskontexte eingeordnet und hinsichtlich spezifischer Forschungsfragen ausgewertet werden. Jedes Kapitel birgt das Erkenntnispotential eines solchen Diskursbeitrags, bleibt aber durch die fehlende Fragestellung vage und unspezifisch.
Die von W. und R. an einigen Stellen selbst bedauerte Begrenztheit der Studie (z. B. 47 f.107.171) durch den Datensatz stellt dabei weniger ein Problem dar. Freilich, die Festlegung auf einen Fall, die Grundgesamtheit der Gemeindemitglieder, standardisierte Beziehungsabfragen, Beschränkung auf regelmäßige Gemeindeaktivitäten und nur ausgewählte sozial-strukturelle Individualdaten sowie ein einziger Erhebungszeitpunkt lassen nur eingeschränkte Analysen und Aussagen über das kirchliche Leben zu. Das analytische Potential von Fallstudien, nämlich die Erklärung interner Prozesse, Mechanismen und Logiken des Einzelfalls, wird leider nicht annähernd ausgeschöpft. Dies liegt wesentlich an der fehlenden Konsequenz der Analysen und Interpretationen. Die Studie verwendet die soziologische Netzwerkanalyse als Toolbox, strebt aber selten da­nach, die Phänomene auch relational zu erklären. Fundierte netz werktheoretische Konzepte und Figuren wie Multiplexität, Triadenschließung (zu Kapitel 2 und 3.4), Gruppen- und Netzwerkkohäsion (Kapitel 5.2), strukturelle Löcher, Brücken- und Gatekeeperpositionen (Kapitel 3) sowie Cliquen in Netzwerken (zu Kapitel 4.3) werden zur Interpretation der vorgefundenen Strukturen nicht erklärend herangezogen. Folglich fehlt auch in den Kapitelausblicken die re-lationale Konsequenz. Die Ergebnisse wer-den nicht, wie zu er-warten, im Lichte der Netzwerklogik, sondern mit altbekannten, sozialstrukturellen Konzepten gedeutet (57 f. 132.163 f.). Spannend wäre doch, welche Perspektiven sich aufzeigen ließen, würde man kirchentheoretische Fragen wie Gemeindeleitung, Mission/Rekrutierung, Engagement, zivilgesellschaftliche Bedeutung und mul-tiple Mitgliedschaft aus der Netzwerkperspektive weiterdenken.