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Ausgabe:

Dezember/2020

Spalte:

1250–1252

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Albrecht, Heidi, Grau, Frieder, u. Daniela Krause-Wack [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Diakonische Unternehmen und Gemeinschaften – Partner für gelingende Diakonie.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019. 392 S. = Diakonat – Kirche – Diakonie, 4. Kart. EUR 30,00. ISBN 978-3-374-05942-3.

Rezensent:

Christian Albrecht

Die modernen diakonischen Unternehmen haben einen erheblichen Anteil an den sozialstaatlichen Leistungen in Deutschland. Diese Leistungen der Diakonie werden zum weit überwiegenden Teil aus staatlichen Mitteln refinanziert, um die auf den eingeschränkten Sozialmärkten konkurriert wird. Erst diese Refinanzierung ermöglicht die Tätigkeit der Diakonie im derzeitigen, großen Umfang. Zugleich erfordert sie das unternehmerische Agieren der Diakonie, die in Konkurrenz zu anderen Sozialunternehmen steht. Mit dieser Marktförmigkeit ziehen die diakonischen Unternehmen regelmäßig kritische Fragen auf sich. Worin besteht ihr Proprium, wodurch unterscheiden sie sich noch von nichtchristlichen Sozialunternehmen? Geben sie nicht leichtfertig die Identität der Diakonie preis, die doch im spontanen Hilfehandeln, in selbstloser Nächstenliebe, im Dienst um Christi willen bestehe?
Einen besonders neuralgischen Punkt bildet der Arbeits- und Fachkräftemangel im Sozialwesen. Denn er führt dazu, dass diakonische Unternehmen im Wettbewerb um Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen immer weniger wählerisch sein können und dass die Mitarbeiterschaft in kultureller, sprachlicher und religiös-weltanschaulicher Hinsicht immer stärker divers geworden ist. Dass ökonomisch professionell agierende diakonische Sozialunternehmen ihre evangelische Identität durch die konfessionelle Homogenität der Mitarbeiterschaft garantieren könnten, ist längst eine Illusion. Die Identitätsfrage stellt sich unter diesen Bedingungen mit be­sonderer Schärfe: Wie kann der spirit eines christlichen Unternehmens herausgestellt und gepflegt werden?
Hier hat die Entdeckung der Bedeutung von diakonischen Gemeinschaften als Wurzel diakonischer Unternehmen ihren Ort. Zahlreiche große diakonische Unternehmen haben ihre Ursprünge in diakonischen Schwestern- oder Brüderschaften bzw. in Diakoninnen-, Diakonen- und Diakonatsgemeinschaften – so zum Beispiel die v. Bodelschwinghschen Stiftungen (Bethel), die Kaiserswerther Diakonie, das Rauhe Haus (Hamburg), die Evangelische Stiftung Alsterdorf (Hamburg), die Diakonische Stiftung Wittekindshof (Bad Oeynhausen), die Johannesstift Diakonie (Berlin), Hephata (Schwalmstadt-Treysa), Diakoneo (vormals Diakonie Neu­endettelsau), die Rummelsberger Diakonie und viele andere mehr. Bis in die 1960er Jahre hinein bildeten diese diakonischen Gemeinschaften vielfach den Kern der immer größer werdenden diakonischen Unternehmen und trieben häufig auch unternehmerische Innovationen voran. Zunehmend aber wurden sie durch die von ihnen selbst initiierten Prozesse der Professionalisierung und Ökonomisierung in den Hintergrund gedrängt und verkörperten eher die musealisierte Vergangenheit des Unternehmens als dessen Gegenwartsfähigkeit.
Allerdings blieben die Gemeinschaften in die organisationale Struktur der Unternehmen eingebunden, erinnerten an die ur­sprünglichen Arbeitsschwerpunkte des betreffenden Unternehmens und pflegten ein mehr oder weniger starkes geistliches Le­ben. Die diakonischen Unternehmen begannen daher vor ungefähr zehn Jahren, ihre Gemeinschaften als Ressourcen der konfessionellen und geistlichen Identität des Unternehmens zu entdecken: als ein Pfund, mit dem sich wuchern lässt in den immer schärfer werdenden Diskussionen um die christliche Identität. Und die diakonischen Gemeinschaften trauten zwar der neu erwachten Liebe nur zögerlich, sahen aber doch die Chance, für die inhaltlichen Ausrichtungen der Unternehmen, für deren christliches Profil und nicht zuletzt in deren Leitungsgremien ein stärkeres Gewicht zu gewinnen.
Diese Melange aus komplementären Interessen von Unternehmen und Gemeinschaften mit einigen Differenzen in den wechselseitigen Wahrnehmungen und Ansprüchen bildet den – mehr vorausgesetzten als artikulierten – Hintergrund des hier zu besprechenden Sammelbandes. Er dokumentiert einen 2015 begonnenen, vom Verband Evangelischer Diakonen-, Diakoninnen- und Diakonatsgemeinschaften angeregten Prozess des Austausches zwischen den Ältesten der Gemeinschaften und den Vorständen der Unternehmen, der zahlreiche Fachtage und Konferenzen umfasste und gemeinsame Absichtserklärungen hervorbrachte. Getragen war d ieser Prozess vom Bewusstsein einer gemeinsamen Geschichte der diakonischen Gemeinschaften und Unternehmen, von unterschiedlichen Ausprägungen eines gemeinsamen Auftrags, von un­abhängigen Existenzformen, von der Sorge vor allzu starker Entfernung voneinander – und von dem Bemühen, die Ausdifferenzierungen des Gemeinsamen und des Unterscheidenden konsensuell zu beschreiben und damit nicht zuletzt Anregungen zur grundsätzlichen wie operativen Zusammenarbeit zu gewinnen.
Der Band enthält über 50 Beiträge. Die Autorinnen und Autoren stammen insbesondere aus den Bereichen diakonischer Unternehmen, diakonischer Gemeinschaften, diakonischer Verbände und aus der Mitarbeiterschaft der Diakonie. Die Beiträge sind in Blöcke gegliedert und bieten – bedauerlicherweise nur sehr kurze – Orientierungen über das Verhältnis von diakonischen Gemeinschaften und Unternehmen in der Geschichte, informieren – leider ebenfalls allzu knapp – über empirische und statistische Fakten, sondieren Hindernisse und Chancen zukünftiger Entwicklungen, stellen Modelle gelungener Zusammenarbeit vor und versammeln best practice Beispiele. Hervorzuheben sind vor allem diejenigen zur Bildung diakonischer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
So vielfältig wie die Zugänge und Inhalte der Beiträge ist auch deren Form. Fachvorträge mit wissenschaftlichem Anspruch finden sich; Reden und Wortmeldungen auf den Tagungen sowie Meditationen, Andachten, Gebete und zukunftsvisionäre Vignetten werden dokumentiert; Geleitworte aus den Bereichen der diakonischen Gemeinschaften, der diakonischen Unternehmen und der Kirchenleitung sind beigegeben; ein Impulspapier ist abgedruckt. Den weit überwiegenden Teil aber bilden unterschiedlichste Fallbeispiele für das Leben diakonischer Gemeinschaften, für die Bedeutung der Gemeinschaften in Unternehmen, für Verzahnungen von Unternehmen und Gemeinschaften, für Ausbildungsgänge zum Diakon bzw. zur Diakonin und für Berufsbiographien. Enthalten sind überdies zahlreiche Lesehilfen wie Einführungen in die Kapitel und Zusammenfassungen der zahlreichen Einzelbeiträge.
Der Band hat seine Bedeutung darin, dass er ein Dokument innerdiakonischer Konsenssuche ist – mit allen Stärken der Einsicht in die Notwendigkeit des Gemeinsamen und in die Aufgabe, latente Konflikte einzuhegen. Allerdings liegt sein Verdienst weniger darin, dass er im analytischen Abstand zu dem dokumentierten Prozess selbst konzipiert wäre, und in der Absicht, über den unmittelbaren Akteurskreis hinaus für ein breiteres Bewusstsein des bestimmenden Grundproblems zu werben. Dieses Problem be­steht, ohne dass das in dem Band als solches pointiert ausgesprochen wäre, in dem komplexen Spannungsverhältnis zwischen diakonischen Unternehmen, der verfassten Kirche (sie taucht in dem Band nur am Rande auf) und den diakonischen Gemeinschaften. Letztere fühlen sich weder in den modernen Unternehmen noch in einer traditionell kommunitätenskeptischen Volkskirche völlig zu Hause, werden aber plötzlich von beiden Seiten entdeckt und umworben als Garanten einer diakonischen Unternehmensidentität. Noch wissen sie nicht recht und können angesichts offener Entwicklungen auch noch nicht wissen, wie ihnen dabei geschieht.