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Ausgabe:

Dezember/2020

Spalte:

1247–1248

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Schallenberg, Peter

Titel/Untertitel:

Ethik der sozialen Marktwirtschaft.

Verlag:

Paderborn: Ferdinand Schöningh 2019. VIII, 130 S. = Christliche Sozialethik im Diskurs, 11. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-506-70397-2.

Rezensent:

Traugott Jähnichen

Der »Kern des Christentums ist praktizierte Nächstenliebe« (40). Diese zentrale Botschaft des Buches ist nicht in einem banalen Sinn als ein religiös überhöhtes Weltverbesserungsprogramm misszuverstehen, sondern erwächst aus der Grundüberzeugung des Christentums »von der Ewigkeit der Liebe Gottes und der Vorläufigkeit der Erde« (40). Weil Gott diese Liebe in der Schöpfung und vor allem in der Inkarnation Christi konkretisiert und gleichsam versiegelt hat, steht die Achtung der Gottebenbildlichkeit und damit untrennbar verbunden die Sicherung der Personwürde jedes Menschen im Mittelpunkt der christlichen Soziallehre. Es geht darum, so Peter Schallenberg in Übereinstimmung mit dem Klassiker der evangelischen Sozialethik Arthur Rich, dass Staat und Wirtschaft »gemäß dieser Sicht im Dienst am Humanum« (35) stehen müssen.
S. versteht Ethik als Bereitschaft, »sich Rechenschaft [zu] geben, Ver-Antwortung [zu] übernehmen« und dabei »auf die Stimme im Gewissen« (84): Bin ich der Hüter meines Mitmenschen? (vgl. Gen 4,9) zu achten. Diese anthropologische Fundierung der Sozialethik – »alles entscheidet sich am Menschenbild« (83) – impliziert, für das »Recht eines jeden Menschen als Person […], was der Person also gerecht wird und was ihr zusteht« (84), in globaler Perspektive einzutreten. Um diesen Grundgedanken zu entfalten, zeigt S. in einem jeweils umfangreichen theologisch-systematischen und in einem theologiegeschichtlichen Kapitel den Zusammenhang von theologischer Anthropologie und Sozialethik sowie in historischer Perspektive die christlichen Wurzeln der demokratischen Rechtsstaat lichkeit und der sozialen Marktwirtschaft auf. Im Blick auf die theologische Grundlegung bezieht sich S. wesentlich auf die augustinische Tradition als klassischer Ausdruck einer anthropologisch gewendeten Theologie sowie auf die sozialethischen Zuspitzungen der franziskanischen Bewegung (vgl. 23.55 f. u. a.). Dabei spielen – in Abgrenzung zur eher quietistischen Grundstimmung des Hochmittelalters – die durch das franziskanische Verständnis der eschatologischen Spannung eröffnete Entdeckung der geschichtlichen Zeit mit dem Impuls der Verbesserung menschlicher Lebensbedingungen und materialethisch die Hinwendung zu den Armen eine zentrale Rolle (65, vgl. 60 f.65.71 u. a.).
Das in der christlichen Tradition verankerte Verständnis des Menschen als Person und die daraus folgende Ethik der Zuwendung zum Nächsten mit dem Ziel einer umfassenden Teilhabe aller hat die europäische Geschichte tiefgreifend geprägt, auch wenn dies nicht im allgemeinen Bewusstsein hinreichend präsent ist. Ohne eine entsprechende »ethische Grundlegung der Politik« (43) lassen sich jedoch die demokratischen und sozialen Errungenschaften weder begründen noch angemessen verteidigen, wie S. in kritischen Auseinandersetzungen insbesondere mit dem Utilitarismus, mit der Philosophie Rousseaus und mit dem Marxismus aufzeigt.
In besonderer Weise verdankt sich die Ordnungskonzeption der sozialen Marktwirtschaft, die seit dem Vertrag von Lissabon auch als Leitbild der Politik der EU gilt, wesentlich christlichen Wurzeln. An dieser und an anderen Stellen, wie im Blick auf die Würdigung der lutherischen Unterscheidung von Kirche und Politik, betont S. die ökumenische Perspektive einer konfessionsübergreifenden, christlichen Sozialethik. Ob die Zurechnung der marktwirtschaftlichen Elemente auf das Konto des Protestantismus und die Einbringung der sozialstaatlichen Anteile durch den Katholizismus in dieser Eindeutigkeit belastbar ist, dürfte fraglich sein (vgl. 73). Weiterführend sind hingegen die Anmerkungen und Ergänzungen zu Max Webers Protestantismus-Kapitalismus-These (vgl. 48 f.), wobei S. auf die innovativen Beiträge der franziskanischen Bewegung bei der Herausbildung des Frühkapitalismus in Italien hinweist.
Das dritte, materialethische Kapitel dieses Buches gibt einen knappen Überblick über wichtige Aspekte der politischen und vor allem der Wirtschaftsethik, zumeist jedoch ohne ins Detail zu gehen, wo – so S. – häufig der Teufel steckt (vgl. 94.97). Daher finden sich in diesem Kapitel neben der Darstellung klassischer Positionen der katholischen Soziallehre etwa zur Arbeitsethik, zum Lohn, zur Mitbestimmung, zur Steuergerechtigkeit oder auch zur Nachhaltigkeit – nur wenige weiterführende Hinweise. Diskussionswürdig und auch umstritten dürfte die von S. im Blick auf die Sozialversicherungen aufgezeigte Perspektive sein, die Leistungen im Bereich der Rente wie der Gesundheitsversorgung auf eine »Grundsicherung« (101.103), deren Umfänge nicht spezifiziert werden, zu reduzieren. Interessant sind die Ausführungen zur Sharing Economy, die von S. einerseits auf die für ihn zentrale franziskanische Tradition zurückgeführt und andererseits in einen (wohl zu) engen Kontext zum digitalen Wandel gestellt wird.
Insgesamt bietet das Buch eine engagierte fundamentalethische Grundlegung, die vor allem durch ihre historische Tiefenschärfe besticht. Vertiefte Auseinandersetzungen mit neueren sozialphilosophischen Entwürfen und weiterführende Konkretionen der materialethischen Ausführungen wären wünschenswert. Einige (zum Teil wörtliche) Wiederholungen (vgl. 50/67; 51 f./70 f.; 53/72) stören bisweilen den Lesefluss.