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Ausgabe:

Dezember/2020

Spalte:

1243–1245

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Jähnichen, Traugott, u. Joachim Wiemeyer

Titel/Untertitel:

Wirtschaftsethik 4.0. Der digitale Wandel als wirtschaftsethische Herausforderung.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2020. 266 S. m. 2 Abb. u. 1 Tab. = Ethik – Grundlagen und Handlungsfelder, 15. Kart. EUR 32,00. ISBN 978-3-17-037476-8.

Rezensent:

Andreas Suchanek

Es steht außer Frage, dass die weitreichenden gesellschaftlichen Veränderungen, die die Digitalisierung mit sich bringt, erheblichen Orientierungsbedarf mit sich bringen. Daher ist es sehr zu begrüßen, wenn zwei renommierte christliche Sozialethiker, Traugott Jähnichen und Joachim Wiemeyer, ein Buch vorlegen, das »von der Absicht bestimmt [ist], die notwendige und unverzichtbare normative Dimension aus einer christlich-sozialethischen Sicht explizit zu entfalten und daran wesentliche Kernbereiche der wirtschaftsethischen Herausforderungen der Digitalisierung sowie normativ erwünschte Handlungsoptionen darzulegen« (238).
Das Buch ist in fünf Abschnitte gegliedert. Im ersten Teil werden die Grundlagen gelegt. Das erste Kapitel stellt Orientierungen der christlichen Sozialethik vor, die Kriterien der Personwürde, Solidarität, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit sowie die der sachgemäßen Betrachtung. Daran schließen ethische Maximen zu Arbeit und Konsum an, die gewissermaßen die Einstimmung auf die nachfolgenden Überlegungen darstellen.
Im zweiten Kapitel werden Grundbegriffe der »Datenökonomie« eingeführt und ihre ökonomische Bedeutung wird kurz diskutiert. Besonders hingewiesen wird auf die Bedeutung des Datenschutzes angesichts der inhärenten Spannung zwischen der Wahrung der Personwürde und der gleichzeitigen ökonomischen Bedeutung personenbezogener Daten für digitale Möglichkeiten effizienteren Wirtschaftens.
Die Abschnitte 2–4 widmen sich der Mikro-, Meso- und Makroebene der Wirtschaftsethik. Die Bandbreite der Themen ist be­trächtlich und kann hier nur angedeutet werden. In diesen sozialethischen Diskussionen der vielfältigen aktuellen Felder, in denen Digitalisierung neue ethische Fragen in der Wirtschaft aufwirft, liegt die Hauptstärke des Buches.
Auf der Mikroebene werden einerseits Themen der Arbeitswelt– u. a. Selbstbestimmung versus Risiken der Teilhabe in der Arbeitswelt 4.0, Crowdarbeit, Bildung als Schlüsselqualifikation, die Be­deutung von Sinndeutungen der Arbeit, heute oft unter dem Be­griff »Purpose« angesprochen – behandelt, andererseits der Einfluss der Digitalisierung auf das Konsumverhalten in seiner Ambivalenz. So stehen neuen Möglichkeiten des Konsums, aber auch der Partizipation in der »Sharing Economy«, neue Herausforderungen wie etwa Gefährdungen der Privatsphäre, der Datensicherheit oder neuer Abhängigkeiten gegenüber.
Auf der Mesoebene werden Veränderungen im Arbeitsrecht, in der gewerkschaftlichen Interessenvertretung und für Unternehmen diskutiert. Gerade hier zeigt sich deutlich, dass die Autoren aus der christlichen Sozialethik kommen, wenn etwa der Schutz von Sonn- und Feiertagen unter flexibilisierten Arbeitsbedingungen oder die Herausforderungen für Gewerkschaften, Solidarität zu organisieren, thematisiert werden. Auch unternehmensethische Themen wie neue Geschäftsmodelle, die Bedeutung von Internet-Plattformen und die oft noch unzureichenden rechtlichen Rahmenbedingungen zur Regulierung all der neuen digital er­möglichten Freiheiten werden angesprochen.
Auf der Makroebene behandeln die Autoren vier Themen: das Problem, angesichts der natürlichen Monopolisierungstendenzen einen fairen Wettbewerb zu sichern und gesellschaftlich unerwünschten Machtkonzentrationen entgegenzuwirken, neue Herausforderungen in den Feldern der Besteuerung und der sozialen Sicherung sowie die Folgen der Digitalisierung im Hinblick auf das Thema der Nachhaltigkeit. Im Hinblick auf die keineswegs nur positiven Wirkungen der Digitalisierung auf die langfristige Sicherung der Zukunftsfähigkeit empfehlen die Autoren, vor allem die Möglichkeiten der Steuerpolitik für eine Steuerung des Einsatzes digitaler Technologien zu nutzen.
Der fünfte Teil des Buches befasst sich mit weltwirtschaftlichen Konsequenzen. Die Autoren heben unter anderem die Entwicklung Chinas zu einer digitalen Großmacht hervor und betrachten auch die Möglichkeiten für Afrika, die wirtschaftlichen Probleme besser zu bewältigen. Insgesamt wird ein eher optimistisches Fazit gezogen, wonach die Aufholprozesse durch digitale Techniken abgekürzt und politische Prozesse partizipativer gestaltet werden können. Doch werden auch die Risiken angesprochen, etwa wenn es um die Rückverlagerung arbeitsintensiver Prozesse wie etwa in der Textilindustrie geht.
Den Abschluss bildet ein Ausblick, der zunächst die wichtigsten Gedanken noch einmal rekapituliert, bevor ein generalisierender Blick auf die gesellschaftlichen Veränderungen entwickelt wird. Hervorgehoben wird die durch die sozialen Medien sich verändernde Kommunikation, die, so die Autoren, durch Emotionalisierung, Kontextunabhängigkeit – man könnte auch von Fragmentierung sprechen – und eine »Logik des Quantifizierens« (244) geprägt ist. Die Autoren plädieren hier, Luther aufgreifend, dafür, die »Ehre« des Nächsten zu achten – eine alternative Formulierung für den Gedanken gegenseitigen Respekts. Der letzte Abschnitt des Buches schließlich reflektiert den digitalen Wandel mit Blick auf die (Rolle der) Kirchen bei der bleibenden Aufgabe der Gestaltung.
Generell bietet das Buch, gestützt auf empirische Untersuchungen und Fakten, eine Fülle gehaltvoller Reflexionen aus christlich sozialethischer Perspektive und ist daher allen Lesern und Leserinnen zu empfehlen, die ihr normativ reflektiertes Verständnis der vielfältigen Weisen, in denen die Digitalisierung in unsere Wirtschaft eingreift, vertiefen wollen.
Abschließend seien noch zwei Desiderate für eine etwaige zweite Auflage genannt. Das erste ist ein Stichwortverzeichnis. Auf diese Weise könnte auch jenen Lesern, die die ethischen Orientierungen des ersten Kapitels in ihren Implikationen gezielt nachvollziehen wollen, geholfen werden.
Das zweite Desiderat betrifft den ethischen Grundbegriff der Verantwortung – oder, um es mit Bezügen zu protestantischen Perspektiven zu formulieren: den Gedanken der verantworteten Freiheit. Gerade im Kontext der Digitalisierung stellen sich diesbezüglich neue und grundlegende Fragen ethischer Natur. So bringen die neuen digitalen Freiheiten neue Verantwortlichkeiten mit sich, deren Reichweite und Grenzen angesichts der digitalen Vernetzungen jedoch oft noch unklar sind. Müssen Vorgesetzte darauf achten, was Mitarbeiter in sozialen Medien posten? Sind Unternehmen, die Plattformen bereitstellen, für das Verhalten der Nutzer (mit-)verantwortlich? Wer ist für die Richtigkeit der verwendeten Daten verantwortlich? Wie weit reicht die Verantwortung von Programmierern? Oder der Unternehmen, die sie beschäftigen? Oder derjenigen, die die Software nutzen? Usw. Die Dringlichkeit dieser Fragen ergibt sich nicht zuletzt aus dem Umstand, dass Algorithmen, wie im Buch auch vielfältig diskutiert, zum Teil weitreichend in Entscheidungsprozesse eingreifen oder diese gar übernehmen – von selbstfahrenden Autos über Personalrekrutierung, neuen Berechnungen von Versicherungsprämien (»pay as you behave«) bis hin zum Lieferkettenmanagement. Es wäre spannend zu lesen, welche systematischen Orientierungen die Autoren angesichts ihrer sozialethischen Expertise zu diesen Fragen offerieren.