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Ausgabe:

Dezember/2020

Spalte:

1229–1232

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Vind, Anna

Titel/Untertitel:

Latomus and Luther. The debate: Is every good deed a sin?

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019. 329 S. = Refo500 Academic Studies, 26. Geb. EUR 100,00. ISBN 978-3-525-55251-3.

Rezensent:

Martin Ohst

Die literarische Flutwelle der »Reformationsdekade« hat manches an die Gestade gespült, was besser auf dem Meeresboden des Ungeschriebenen und des Vergessenen geblieben wäre. Gänzlich anders verhält es sich mit diesem Buch: Dass diese ursprünglich von Leif Grane (gest. 2000) betreute und schon 2002 auf Dänisch erschienene Dissertation von Anna Vind nun einem größeren Lesepublikum zugänglich wird, ist ohne jede Einschränkung zu begrüßen. Das gilt nicht etwa trotz der Tatsache, dass V. darauf verzichtet hat, es auf den »neuesten Forschungsstand« zu bringen, und stattdessen nur knapp auf die einzige seither erschienene für ihr Thema einschlägige Monographie (Hannegreth Grundmann, Gratia Christi. Die theologische Begründung des Ablasses durch Jacobus Latomus in der Kontroverse mit Martin Luther, Münster 2012) verweist (12 f.), sondern gerade deswegen: So ist diesem Buch mit seinen ursprünglichen ausgewogenen Proportionen sein frischer Zug und Schwung erhalten geblieben. In ihm vereinen sich in selten anzutreffender wechselseitiger Durchdringung die den Leser ansteckende Freude am historischen Wahrnehmen und Rekonstruieren und das lebendige Interesse an systematisch-theologischen Fragen. V. bewegt sich durchgängig sehr eng an ihren Quellentexten entlang und bezieht ihre Leser in ihren Dialog mit diesen ein. Diese nur scheinbar einfache Methode (13 f.) handhabt sie souverän – mich jedenfalls hat sie dazu verführt, neben ihrem Buch auch gleich noch einmal Luthers Anti-Latomus zu lesen.
Das corpus der Untersuchung ist in drei Hauptteile gegliedert: Die »Historical Introduction« (23–77) ist der ersten Runde der Auseinandersetzung zwischen der Löwener theologischen Fakultät und Luther gewidmet. V. interpretiert deren öffentliche Stellungnahme gegen Luther luzide als Fortsetzung interner Konflikte zwischen den Vertretern des hergebrachten scholastischen Wissenschafts-Ethos und den humanistischen Neuerern, an deren Spitze Erasmus von Rotterdam stand: Er war mit gemeint, als die Löwener ihre »condemnatio doctrinalis« publizierten, welche in der Absicht verfasst war, im Zusammenspiel von Theologie und Lehramt der condemnatio iudicialis Luthers seitens des Apostolischen Stuhls vorzuarbeiten. Er zog sich jedoch taktisch geschickt aus der Schusslinie, ohne sich sogleich unwiderruflich von Luther zu distan-zieren.
Diese Kontroverse ging bekanntlich weiter, indem Luther das gegen ihn gerichtete Lehrurteil der Kollegen nachdrucken ließ und mit kritischen Kommentaren versah: Seine Gegner hätten nicht argumentiert; insbesondere seien sie über seine biblisch fundierten Argumente achtlos hinweggegangen. Diesen Vorwurf wollte Jacobus Latomus nicht auf seiner Fakultät sitzen lassen. Er hatte sich zuvor auch schon mit Erasmus sachlich-kritisch befasst (vgl. zum »Dialogus« 37 ff.), und nun widmete er Luther eine ganze Vorlesung, die er als begründende Rechenschaft über die Löwener Lehrverurteilung (»Articulorum doctrinae fratris Martini Lutheri per theologos lovanienses damnatorum ratio ex sacris literis et veteribus tractatoribus«, 1520) drucken ließ: Hier also wollte er die von Luther angemahnten Beweise aus der Schrift und den Vätern nachliefern. Das tat er, und er tat noch mehr. Er verband, modern gesprochen, die materialdogmatischen Ausführungen mit der Darlegung der ihn leitenden prinzipientheoretischen Prämissen, und das macht den besonderen Stellenwert dieser umfangreichen Abhandlung aus – die Drucke aus dem 16. Jh. sind ca. 200 Seiten lang, was mindestens dem doppelten Umfang einer modernen Ausgabe entsprechen dürfte. Sie ist Gegenstand des ersten Hauptteils (79–168). Des Jacobus Latomus Theorie des Wissens und der Wissenschaft ist, wie V. schlüssig und überzeugend herausarbeitet, an der Vorgabe fester, erkenntnisnotwendiger Begriffe ( conceptus) des Intellekts orientiert. Deren unterschiedliche sprachlich-rhetorische Einkleidungen bleiben ihrem Sachgehalt allesamt äußerlich. Sie sind also beliebig austauschbar, was gravierende Folgen für das Verständnis und die Schätzung der Bibel hat, die im Glauben an die durch den Dienst der Apostel der Kirche eingestiftete, in Begriffe gefasste Wahrheit zu lesen ist: »As soon as the message is understood there is really no further need for the Bible. Latomus regards the Bible as a kind of storage box for the true faith, and explains that once the reader has recieved and understood that faith, the relevance of the Bible ceases, just as the relevance of scaffolding for a house ends when the house is finished« (43; vgl. auch 90–93). Unter den materialdogmatischen Themen der Schrift greift V. dasjenige heraus, das sachlich im Zentrum stand und auf das Luther sich dann auch in seiner Antikritik konzentriert hat: Kann und muss der Mensch im Stand der Gnade im distinkten Sinne Gute Werke tun, nämlich solche, die bei Gott Verdienste erwerben? Diese Frage war im Streit um den Ablass virulent geworden. Dessen Leittheorie beruht ja auf der Annahme, dass (auch) die Heiligen Gute, das heißt verdienstliche Werke vollbracht haben, deren Heilsertrag, himmlisch thesauriert, den Christen auf Erden wie vor allem im Fegefeuer mittels des Ablasses zugewandt wird. Luther hatte eingewandt, wegen der nach der Taufe im Menschen bleibenden, als echte Sünde und nicht bloß als Sündenzunder zu wertenden concupiscentia könne schlechterdings kein Mensch vor Gott Verdienste erwerben; der Mensch bleibe also vor Gott lebenslang allein auf die ihm in Jesus Christus zugewandte göttliche Barmherzigkeit angewiesen. Von diesem nur scheinbar peripheren Konfliktpunkt aus verliefen die Fäden zu allen anderen wichtigen Themen christlicher Glaubenslehre – von der Auffassung der göttlichen Gerechtigkeit und des Heilswerks Jesu Christi bis hin zur Heilsteilhabe des Menschen und zur Heilsbedeutung der Kirche. Von hier aus also rückte Latomus Luther zu Leibe – und zwar indem er es unternahm, dem exzentrischen Wittenberger Kollegen nicht nur Augustin abspenstig zu ma­chen, sondern auch seine wichtigsten biblischen Bezugstexte (Jes 64, 6; Koh 7,21; Röm 7,14 ff.) als Waffen gegen ihn zu kehren.
Leser, denen es nicht nur auf den Gewinn von Formelwissen ankommt, sondern die den Prozess theologischer Theorie- und kirchlicher Lehrbildung in ihrer Unterschiedenheit und Interdependenz geschichtlich verstehen wollen, kommen hier wirklich voll auf ihre Kosten: V. geht energisch und geduldig am Text entlang und vollzieht die Argumentationsgänge des Löweners nach. Auf diese Weise präsentiert sie dem Leser nicht bloß die gegen Luther gerichteten Thesen und Invektiven, sondern sie nimmt ihn mit auf einen Erkundungsgang durch die geistige Welt des Löwener Kontroverstheologen. Deren wichtigste normative Größen sind die Bibel und Augustin, die er so aufgreift, deutet und aneignet, dass sie Zeugnis ablegen für das papstkirchliche System der gradualistischen Glaubenspädagogik und der sakramentalen Heilsvermittlung, welches den Menschen aufgrund seiner ihm trotz der Sünde verbliebenen Restfreiheit beansprucht und ihm Mut zur Mitwirkung an seinem Heil in Guten, weil verdienstlichen Werken zuspricht. Wie Luther waren auch ihm Augustin und die Bibel vertrautes Terrain, auf dem er sich mit souveräner Sicherheit bewegte – aber was er las und verwendete, das war seine als Buch der Papstkirche und von der Papstkirche gelesene Bibel und sein als Vater und Vordenker der Papstkirche gelesener Augustin. Es ist ein besonderer Vorzug dieses Buches, dass es immer wieder die hermeneutischen Perspektivlinien nachzeichnet, gemäß denen Latomus sich als treuen Sachwalter der beiden wichtigsten Leitinstanzen westlichen Christentums verstand.
Luther schrieb seine fulminante Antwort auf diesen Angriff, die V. in gleicher Weise eingehend und tiefenscharf präsentiert (169–315), zu Beginn der Wartburg-Zeit innerhalb von gerade einmal zwölf Tagen nieder. Er blieb seinem Kontrahenten nichts schuldig. Er scherte aus einer wichtigen Traditionslinie westlich-mittelalterlicher Theologie aus, indem er es zwar utiliter akzeptierte, wenn Augustin ihn argumentativ stützte, aber keine Mühe darauf wandte, Widersprüche durch interpretatorische Kunststücke oder den Verweis auf andere Stellen zu eskamotieren. Umso intensiver ging er auf die Bibel ein, die er mit einer neuartigen Erwartungs- und Erkenntnishaltung las, die sicherlich auch von der humanistischen Wendung weg von den conceptus zur lebendigen Sprache, von der Metaphysik hin zur Grammatik und Rhetorik beeinflusst war. Die Texte waren ihm nicht bloß austauschbare Träger von Begriffen, er traute ihnen zu, dass sie gerade in ihrer rhetorisch-bildhaften Konkretion Wahrheit in sich tragen, die sich erst im genauen Hinhören und Hinsehen auf den ursprünglichen Sach- und Sinngehalt der Worte erschließt. Schlagwortartig formuliert heißt das: Abkehr von der Lehre vom vierfachen Schriftsinn, also jenem Geflecht von Voraussetzungen, welches dem entsprechend prädisponierten Leser die Freude daran schenkt, in der Bibel immer genau das zu finden, was er ohnehin längst anderswoher weiß. Luthers Abkehr von der Allegorese war sicher keine Hinkehr zur Historie, sondern sie führte zur Typologie. Dennoch: Indirekt verwies Luthers Auslegung auch hierüber hinaus, wie man an seiner Exegese von Röm 7,14 ff. sieht. In ganz neuartiger Weise nahm er den Paulus der sich später in der kritischen Forschung als authentisch erweisenden Briefe als geschichtlich-individuelle Person in ihrer eigentümlichen Gedank en- und Sprachwelt wahr. In der Situation der Kontroverse mit Latomus hieß das: Die Rechenschaft vom christlichen Glauben muss immer neu ihren Anfang bei den Zeugnissen ihres Ursprungs nehmen und im Hören auf die Worte die vorgefassten Begriffe zur Disposition stellen.
All das arbeitet V. sorgfältig heraus, und so fällt auch neues Licht auf Luthers Entfaltung seiner Sünden- und Rechtfertigungslehre sowie seiner Christologie, für deren Rekonstruktion der »Anti-Latomus« ja auch sonst in der gängigen Luther-Literatur gern als ergiebige Zitaten-Fundgrube ausgebeutet wird. In V.s Rekonstruktion, die Luthers Gedankenbildung gleichsam aus seinen bisherigen Einsichten und aus der ganz besonderen Argumentationssituation seiner Auseinandersetzung mit Jacobus Latomus herauswachsen lässt, gewinnen Luthers Thesen noch einmal besonders eindrücklich Profil: Der Christ ist und bleibt durch die ihm weiterhin innewohnende Konkupiszenz wirklich Sünder, Christus trägt jedoch seine Sünde, was Luther durch eine Denkfigur verständlich macht, für die der Begriff der Metapher sach- wie sprachlogisch konstitutiv ist (233–237), und er gibt zugleich dem Sünder an seiner Gerechtigkeit teil. Das entfaltet Luther Schritt für Schritt gegen eine Theologie, welche, operierend auf der Grundlage abstrakter Begriffe, lehrt, dass die concupiscentia im Christen bloß noch ein moralisch beherrschbarer Sündenrest sei, und behauptet, den Sys­temzwängen ihrer Begriffskonstruktionen müsse »das Gotteswort, Paulus, unsere tägliche Erfahrung sowie die aller Heiligen« weichen (WA 8, 98) – an dieser Stelle, wo die Berufung auf das Bibelbuch sich zum Hinweis auf den Menschen Paulus zuspitzt, in dessen Zeugnis sich wiederum die Lebens- und Glaubenserfahrung aller Christen spiegelt und verdichtet, zeigt sich, dass hier nicht nur dogmatische Sprachregelungen miteinander streiten, sondern ein neues Grundverständnis christlichen Glaubens, Lebens und Denkens sich Ausdruck schafft und Bahn bricht.