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Ausgabe:

Dezember/2020

Spalte:

1225–1227

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Fudge, Thomas A.

Titel/Untertitel:

Hieronymus von Prag. Und die Grundlagen der Hussitischen Bewegung. Übers. v. R. Behrens u. a. Bearb. v. B. Hallensleben u. O. Ribordy.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2020. XVI, 343 S. = Studia Oecumenica Friburgensia, 75. Geb. EUR 32,00. ISBN 978-3-402-12011-8.

Rezensent:

Martin Wernisch

Hieronymus von Prag gehört zu den bekanntesten Tschechen – zusammen mit Jan Hus, dem er in den Feuertod folgte. Aber in Hus’ Schatten ist er als »der andere Mann« beinahe verschwunden. Erst im säkularen Kontext hat er sich von Hus abgehoben. Wiewohl Hieronymus im Kreis der Kirchenreformer wirkte, wurde er kein Zunfttheologe. Er blieb ein Philosoph und ungeweihter Laie und stellte sich an die Spitze einer Studentenbewegung. Als ihr Anführer predigte er nicht, sondern veranstaltete spektakuläre Performanzen. Mit alldem mag er unseren Zeitgenossen sogar fassbarer sein als der vorbildliche priesterliche Asket (vgl. 36 f.). So ist es kein Zufall, dass dieses Bild gerade in 1960er Jahren zum ersten Mal in großen Zügen entworfen worden ist – und zwar durch den jungen Renaissanceforscher Franti šek Šmahel, der heute nicht nur die Hauptautorität der Hieronymusforschung ist, sondern der führende tschechische Hussitologe überhaupt.
Zu einer breiteren Resonanz dieser Auffassung verhilft nun der kanadisch-australische Historiker Thomas A. Fudge, ein fleißiger Vermittler tschechischer Forschungsthemen und -ergebnisse. Inzwischen liegt seine Monographie auch in deutscher Übersetzung vor – vorerst ohne den Quellenanhang, der nachträglich aus den primären Vorlagen übertragen werden soll.
Die deutsche Fassung hätte von den Besprechungen der Originalausgabe profitieren können. Doch diese Gelegenheit wurde leider nicht in erforderlichem Umfang genutzt. Im Text wiederholen sich bereits festgestellte Fehler. F. besteht z. B. auf dem fiktiven Titel des Notizbuchs Magnum quodam volumen (sogar mit dem unpassenden grammatischen Fall). Und auf S. 136 hält er an der Behauptung fest, Hieronymus hätte unmöglich das Konzept eines universalen Esels vertreten können, obwohl dies in der Quaestio de ideis tatsächlich geschehen ist. Die Darstellung ist nicht von Widersprüchen bereinigt worden. Auf S. 59 f. wird der Leser auf die Unstimmigkeit der Beschuldigung hingewiesen, Hieronymus habe die Nominalisten als »teuflische Häretiker« bezeichnet, aber S. 88 arbeitet man mit dieser Missinterpetation wiederum wie mit einer Tatsache. Von den weniger wichtigen Fehlern ist ein amüsanter zu erwähnen: Das böhmische Rothschloss als Unterschlupf von Hus hat sich S. 173 in den Sitz polnischer Könige in Krakau verwandelt.
Es ist freilich nicht Zweck einer Rezension, einzelne Inkorrektheiten aufzuzählen. Wesentlicher sind Mängel der Arbeitsweise, die sich in den falschen Angaben äußern. Doch dass F. sogar Ratschläge ignoriert, die er selbst wohlwollend quittiert hat, ist auch in dieser Hinsicht relevant. Für seine Publikationen ist bezeichnend, dass er zwar die bestehende Forschungsliteratur in großem Maße verarbeitet, diese aber mit sturem Eigensinn behandelt.
Dem Verfahren muss das Ergebnis entsprechen. Während Šmahel im Laufe der Jahre seine Anschauung vertieft und verfeinert hat, bleibt die Darlegung F.s weniger differenziert und plakativer. Um eine Auffälligkeit zu nennen: Hieronymus (sowie auch Hus) werden konsequent als Ketzer stilisiert. Im Gegensatz zu den damaligen Richtern und Hingerichteten sieht F. allerdings Häresie als etwas Lobenswertes an – gemäß einer romantischen Optik des Rebellierens gegen das »Establishment«. Zugestanden, lückenhafte Quellen lassen ein weites Feld für Interpretationen, und hier sind großenteils nur Fragmente erhalten. Darauf stützen sich brüchige Hypothese n– und wecken Zweifel. Dies betrifft auch weitere Elemente der Konzeption F.s.
Im Vergleich zu Hus besticht, dass die Veranlagung von Hieronymus abenteuerlicher war – und weniger ausgeglichen. Aber ihn Hus gegenüber als intellektuell überlegen zu charakterisieren (Hus kann neben ihm als »ein Mann für das einfache Volk« erscheinen; 4), nimmt zwar eine Tradition auf, führt jedoch auf Glatteis. Auch kann F. eine Überlegenheit des Hieronymus nicht in concreto erweisen. Während das Buch die äußere Lebensgeschichte seines Helden komplett vorstellt, ja auch sein Nachleben, betritt es das Feld der Philosophiegeschichte, wo es Hieronymus als wichtige und unterschätzte Figur situiert, nur am Rande. Das Denken von Hieronymus behandelt eines der neun Kapitel, und gerade dieses ruft starke Einwände hervor. F. kommt ihnen mit dem freimütigen Geständnis mangelnder Kompetenz und vorsätzlicher Zurückhaltung zuvor. Er sei »nicht völlig überzeugt, dass die Kontroverse um die Göttlichen Ideen für das Verständnis des Hieronymus und der hussitischen Bewegung wesentlich ist« (11). Damit wird das Genie allerdings noch rätselhafter, denn der entscheidende Teil der erhaltenen Quellen dreht sich eben um die Problematik der Ideen und Universalien.
Und zugleich ist es paradox, dass gerade die besagte Kontroverse die deutschen Herausgeber gefesselt hat. Die Theologin Hallensleben findet die zentrale Botschaft des Buches in der Parallele zwischen dem radikalen Realismus und dem gesellschaftlich-kirchlichen Ra­dikalismus (einen ursächlichen Zusammenhang zwischen ihnen vermutete bereits Anthony Kenny bei Wyclif und Vilém Herold bei den Hussiten; F. knüpft ausdrücklich an diesen an). Sie scheint nämlich die Voraussetzung zu bestätigen, hinter der Trennung der Kirchen stecke »ein philosophisch strukturierter Grunddissens« (Vorwort, III), und zwar in dem Sinne, dass die Reformation eine radikale Verkürzung der ausgewogenen Fülle des Katholischen darstelle. Auch aus diesem Blickwinkel ist eine extravagante Gestalt interessant, die es einfacher macht, das Hussitentum aus »souveränem Selbstbewusstsein« herzuleiten (Vorwort, VII; vgl. dazu auch S. 80 f., wo F. selbst unverhüllter über unbarmherzige Arroganz spricht).
Dem Vorwort folgt eine kurze Abhandlung über Hieronymus als Philosoph von Olivier Ribordy. Sie soll wahrscheinlich die laienhafte Auffassung F.s durch die Kompetenz des Philosophiehistorikers vertiefen. Dies geschieht auch zum Teil, gelingt jedoch nicht ganz. Ribordy nimmt u. a. die angebliche Lehre des Hieronymus über die göttliche Quaternität unhinterfragt hin – als ob er nicht wüsste, dass sogar Lombardus dieser bezichtigt wurde, und wie leicht es mithin war, sie jemandem unterzuschieben.
Aber zurück zu den »roten Fäden« des Buchs. Bleibt der hohe Rang des Philosophen unbewiesen, doch immerhin plausibel, so steht jedoch die Überzeugung, Hieronymus sei »das Gesicht und die Kraft der radikalen, hussitischen Geschichte« (308), auf wackliger Basis. Hier muss der Biograph die Tatsache umgehen, dass die späteren Radikalen Hieronymus nicht auf ihren Schilden führten. Es ergibt allerdings einen Sinn, wenn F. versucht, seiner Behauptung, dass diejenigen, die »die religiöse Landschaft bald mit einem Terrorregime« überzogen, Hieronymus »zu ihren Anführern zählten« (150), gerade im Kapitel über den Bildersturm einen Inhalt zu geben. Doch er geht in ihm nicht weit genug hinter allgemeine Parallelen zurück, und seine Darlegung leidet am Mangel an Differenzierung. So führte der Weg von der Ablehnung der Bilderanbetung nicht zwangsläufig zum Bildersturm.
Zusammengenommen: Die Hervorhebung einer weniger be­kannten Persönlichkeit in einer umfangreichen Monographie ist verdienstvoll, aber die Leser sollten das Buch mit Vorsicht aufnehmen. Den Fachleuten bleibt die deutsche Einleitung Šmahels in die Edition der Texte von Hieronymus in der Reihe Corpus Christianorum bevorzugt empfohlen.