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Ausgabe:

Dezember/2020

Spalte:

1221–1223

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Christ-von Wedel, Christine, Grosse, Sven, u. Berndt Hamm [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Basel als Zentrum des geistigen Austauschs in der frühen Reformationszeit.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. XI, 378 S. = Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 81. Lw. EUR 109,00. ISBN 978-3-16-153203-0.

Rezensent:

Ute Gause

Der vorgelegte Aufsatzband nimmt »Basel als Zentrum des geistigen Austauschs in der frühen Reformationszeit« in den Blick. Basel wird zum einen als eine der zum Oberrhein gehörigen führenden Regionen im Reich, zum anderen als Ort europaweiter Bedeutung durch seine Buchdruckereien gewürdigt. Thematische Kapitelüberschriften geben die Schwerpunktsetzungen an: Unter I. Voraussetzungen liefert Berndt Hamm einen monumentalen Abriss über den Oberrhein als geistige Region von 1450 bis 1520. Das zweite Kapitel widmet sich dem Buchdruck und den Humanisten. Im dritten Kapitel werden die Reformatorenbeziehungen Basels in den Blick genommen. Das vierte Kapitel betrachtet Dissidenten, das fünfte Basels europäische Ausstrahlung.
Hamms Einführung folgt seinem Ansatz, von der Reformation als »Großepoche des Abendlandes« Abstand zu nehmen. Er spricht daher auch nicht von einem »Vorabend der Reformation« (vgl. 3). In Teil I definiert er die Oberrheinregion als führende ›geistige Region‹, unter der Hamm nicht nur eine »Geistesgeschichte des reinen Denkens« versteht, sondern das Geistige »samt seinen materiell-technischen und sozialen Rückkoppelungen, Einbettungen und Wirkungen« (9). – Diese sozialgeschichtlichen Einbindungen werden jedoch nicht berücksichtigt, sondern nur postuliert. Faktisch konzentriert sich Hamm auf die intellektuelle, akademische und künstlerische gehobene Mittelschicht.
Teil II wendet sich den konkreten geistigen Antriebskräften zu. Aus der Erschließung der Basler Druckschriften des 16. Jh.s, die Teil eines umfangreichen, bereits abgeschlossenen Digitalisierungsprojekts sind, zieht Urs Leu erste, vorsichtige druck- und geistesgeschichtliche Schlussfolgerungen. Basel ist im 16. Jh. als eidgenössischer Druckort absoluter Spitzenreiter mit 8.075 Titeln. Leu gibt einen instruktiven Überblick über die Profile der jeweiligen Dru-cker und ihre inhaltlichen Schwerpunkte, die sich vor allem an die europäische Res publica literaria wandten. Dem Basler Buchdruck verdanken sich u. a. die Editionen der vier großen Kirchenväter Augustin, Ambrosius, Hieronymus und Gregor dem Großen. Lehrbücher zu den drei heiligen Sprachen erschienen dort in immer neuen Ausgaben. Erasmus war mit 734 Drucken der am meisten publizierte Autor im 16. Jh. Valentina Sebastiani wendet sich der kulturellen, geistigen und materiellen Bedeutung des Bündnisses zwischen Humanismus und Druckwesen in Basel zwischen 1477 und 1513 zu und konzentriert sich auf das Profil der Offizin Johannes Amerbachs, des elegantissimu[s] impressor. Amerbach verband sorgfältigsten Druck mit dem Anliegen moralischer Erneuerung und humanistischer Gelehrsamkeit. James Hirstein untersucht den bislang unbekannten Einfluss von Beatus Rhenanus auf den Druck von Lorenzo Vallas Schrift über die konstantinische Schenkung, die 1520 von Ulrich von Hutten mit einer Vorrede versehen und bei Cratander gedruckt wurde. Leo Juds Erasmusrezeption zwischen 1516 und 1536 wird von Christine Christ-von Wedel exemplarisch durch den Vergleich seines Katechismus aus dem Jahr 1534 mit Erasmus’ Explanatio symboli gezeigt. In der Auslegung des Apostolikums folgt Jud in vielen Teilen Erasmus, steht aber z. B. in der Übernahme der Erbsündenlehre Luther nahe. Einflüsse anderer (reformierter) Theologen werden ebenfalls nachgewiesen. Abgewogen beurteilt sie das zwiespältige Verhältnis zwischen Erasmus und den Reformatoren und zeigt Trennlinien und bleibende Übereinstimmungen auf. Dieselbe Autorin kann in ihrem nächsten Aufsatz nachweisen, inwiefern Basel – und wiederum Erasmus – maßgeblich zur »Versprachlichung der Musik« innerhalb der Re­ formationszeit beigetragen hat. Mit »To Print or Not to Print «schließt Milton Kooistra an Leus Darstellung an, indem er das gut funktionierende Netzwerk zwischen Humanisten und Druckern aufzeigt, in das die Humanisten ihre philologische Expertise für Editionen und Übersetzungen einbrachten. Vier Fallstudien illustrieren, wie Empfehlungen von bedeutenden Humanisten die Karrierewege ihrer jungen Nachfolger unterstützten (Oekolampad) oder verhinderten (Myconius’ Philirenus). Die letzte Fallstudie untersucht Luthers Einflussnahme auf die Veröffentlichung der lateinischen Koranübersetzung von Theodor Bibliander.
Teil III widmet sich den »Reformatorenbeziehungen«. Sven Grosse lenkt den Blick auf die 1518 von Capito in Basel herausgegebene Sammelausgabe der Werke Luthers und fragt danach, wie Capito Luther damals wahrnahm und welches Bild durch die von ihm ausgewählten Schriften entstehen sollte. Letztlich war es Capitos Lutherrezeption, die maßgeblich dazu führte, dass er sich 1523 in Straßburg öffentlich zur Reformation bekannte. Der Briefwechsel Martin Bucers mit Straßburg und Basel zwischen 1524 und 1532 wird von Matthieu Arnold untersucht. Er konzentriert sich dabei nicht auf die in den Briefen hauptsächlich geführte Abendmahlskontroverse, sondern auf drei weitere Themen: die Frage der Kirchenzucht, des Umgangs mit Dissidenten und schließlich Bucers Haltung zum Zweiten Kappeler Krieg. Bucer zeigt sich in den beiden ersten Fragen jeweils weniger streng als Oekolampad. Bestätigt wird die Sicht, dass Bucer in intensivem Austausch mit den Baslern, vor allem mit Oekolampad, stand und einmal mehr Basels Ausstrahlung deutlich wird. < /span>Reinhold Friedrich vertieft das Thema der Kirchenzucht und konzentriert sich auf Bucers Austausch mit den Basler Predigern Grynaeus und Phrygio im Jahr 1532. Bucers Brief an die beiden zeigt, dass er den Bann als äußerstes Notinstrument der Kirchenzucht verstanden wissen wollte – nur wer offen Chris-tus verachtet, sei zu exkommunizieren. Hauptinstrument der Kirchenzucht sollte die Ermahnung sein. Der Basler Gräzist Grynaeus und seine Intervention in der Eheangelegenheit König Heinrichs VII. wird von Wolfgang Simon erhellt: Bucer votierte – wie Grynaeus und Oekolampad – für Bigamie. Nachdem Zwingli für die Aufhebung der Ehe votiert hatte, änderten Oekolampad und Grynaeus ihre Meinung, Bucer blieb standhaft. Amy Nelson Burnett behandelt Oekolampads profunden Anteil am frühen Abendmahlsstreit – vor allem durch seine 1525 erschienene Schrift De genuina verborum domini […] expositione –, der bis heute in der Forschung kaum gewürdigt worden ist. Andreas Mühling wendet sich dem 1536 von Theodor Bibliander in Basel herausgegebenen kirchenpolitisch motiviertem Briefwechsel Zwinglis mit Oekolampad zu, der nach Erscheinen die Hoffnung auf Einigung der eidgenössischen reformierten Stände mit den Wittenbergern im Hinblick auf die Abendmahlsfrage torpedierte. Rainer Henrich stellt den Briefwechsel von Oswald Myconius, der 1532 Nachfolger Oekolampads in Basel geworden war, nach dem Zweiten Kappeler Krieg dar, der dessen kirchliche Diplomatie und seine dezidierten politischen Bemühungen um eine stabile Bündnisbildung der reformierten Städte (Basel, Zürich, Bern) offenlegt.
Das IV. Kapitel behandelt die Dissidenten. Hanspeter Jecker beschäftigt sich mit den Anfängen des Täufertums in Basel. Einem Kurzüberblick über die Täuferforschung des 20. Jh.s – grob gesagt, von einem kirchengeschichtlich-theologischen zu einem sozialgeschichtlichen Ansatz – folgt eine differenzierte und höchst kenntnisreiche Charakterisierung des Basler Täufertums. Es war zwischen 1526 und 1529 ein Sammelbecken unterschiedlichster Täuferströmungen und ein Zentrum der »sich endgültig formierenden Richtung der Schweizer Brüder« (264). Jecker macht auf Desiderate aufmerksam und gibt einen profunden Forschungsüberblick. Basel war für das Täufertum impulsgebende Universitätsstadt, bedeutsamer Druckort, Stätte relativer Toleranz und schließlich der Grundstein für die Entstehung des bernerischen Täufertums. Christian Scheidegger analysiert und ediert den Brief eines Täuferlehrers aus dem Jahr 1526, der insofern besonderen Wert hat, als es sich um den bisher ältesten gefundenen Brief eines Täufers mit einem biblisch fundierten Lehrteil handelt. In einem zweiten Teil charakterisiert Scheidegger die Dynamik der frühen Täuferbewegung.
Basels großer europäischer Ausstrahlung wird in Kapitel V nachgegangen. Jan-Andrea Bernhard richtet sein Augenmerk auf die dortigen italienischen Nonkonformisten, die im »liberalen« und humanistisch orientierten Basel eine Exilstation und Lehrmöglichkeiten an der Universität fanden sowie verbotene Bücher veröffentlichen konnten, die sich im ostmitteleuropäischen Raum verbreiteten, so dass Basel zu einem bedeutenden Transferzentrum wurde. Dies änderte sich erst unter dem seit 1585 gewählten Basler Antistes Grynäus und der reformierten Konfessionalisierung. Den Basler Drucken im Donau-Karpatenraum geht Attila Verók nach, der sich dabei auf den Buchbesitz der deutschsprachigen Sachsen Siebenbürgens fokussiert und hier starken Einfluss Basels nachweisen kann. Ádám Hegyi schließlich informiert über ungarische Studenten reformierten Bekenntnisses in Basel, die erst ab den 1570er Jahren in nennenswerter Größe zu verzeichnen waren. Schon davor hatte es Kontakte und Arbeitsmöglichkeiten durch die Druckereien in Basel gegeben.
Es liegt ein wichtiger, beeindruckender und kohärenter Sammelband vor, der mit Hilfe kompetenter Spezialistinnen und Spezialisten nicht nur den geistigen Horizont Basels umreißt, sondern eine präzisere Wahrnehmung der beteiligten Reformatoren und Dissidenten und ihrer Theologie sowie ihrer europäischen Rezeption ermöglicht.