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Ausgabe:

Dezember/2020

Spalte:

1216–1218

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Tam, Josaphat C.

Titel/Untertitel:

Apprehension of Jesus in the Gospel of John.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2015. XVII, 265 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 399. Kart. EUR 89,00. ISBN 978-3-16-154065-3.

Rezensent:

Christine Schlund

Die 2014 bei L. Hurtado in Edinburgh abgeschlossene Dissertation von Josaphat C. Tam befasst sich mit den Stufen des Begreifens oder Erfassens (apprehension) Jesu im Johannesevangelium. Dabei möchte T. die Entwicklung eines vierstufigen Konzepts des Erfassens Jesu im Rahmen der johanneischen Erzählstrategie herausarbeiten. Zu den Grundannahmen seiner Arbeit zählt die Verfas-serschaft des Zebedaiden Johannes, der mit dem Lieblingsjünger identifiziert wird, und damit die Ablehnung der These, aus dem Jo­hannesevangelium könne eine Entwicklungsgeschichte der johanneischen Gemeinde abgeleitet werden. Zum Vokabular des Erfassens zählt T. die Verben sehen, hören, wissen/erkennen, bezeugen, erinnern und glauben, die in dieser Reihenfolge jeweils in ein Mus­ter des Begreifens Jesu eingezeichnet werden können. Sie er­scheinen in jedem Kapitel des Johannesevangeliums.
In einem Literaturüberblick konstatiert T., dass seit Franz Mussner 1965 (Die johanneische Sehweise und die Frage nach dem historischen Jesus) niemand mehr versucht habe, eine Gesamtschau auf die gnoseologische Terminologie des Johannesevangeliums zu erreichen, sondern der Blick ausschließlich auf einzelnen Verben und zugeordneten Perspektiven gelegen habe. T. strebt hingegen an, ein »framework capable of helping us to understand the apprehension vocabulary comprehensively from the johannine plot development« (27) zu erheben. Dabei setzt er ein diesbezügliches Konzept des Autors voraus, das sich in rhetorischen Strategien, Erzählstrukturen und dargestellten Charakteren manifestiere. Diesen Aspekten gilt T.s Aufmerksamkeit in einem close reading. Auf S. 30 wird dessen Ergebnis bereits vorweggenommen: Es gibt vier Phasen der fortschreitenden Entwicklung von Ge­brauch und Funktion der Terminologie des Erfassens im Rahmen des Erzählduktus im JohEv. Phase 1, Joh 1–4: eine positive Rezep-tion Jesu; Phase 2, Joh 5–12: eine eher negative und feindliche Reaktion auf Jesus; Phase 3, Joh 13–17: vertiefende Erkenntnis Jesu im persönlichen Bereich und über seine irdische Existenz hinaus; Phase 4: der Höhepunkt des Erfassens Jesu im Passions-und Ostergeschehen.
In einem methodologischen Abschnitt (2: Linguistic Founda-tions) beschreibt T. seine Herangehensweise angelehnt an die Se­man­tik John Lyons’ (conceptual areas) und mit Hilfe der semantic domains und subdomains nach Louw/Nida und bestimmt syntagmatische und paradigmatische Relationen der Termini des Erfassens. Dabei ergibt sich, dass der Gebrauch austauschbarer Begrifflichkeiten für Sehen, Hören oder Erkennen nicht theologisch, sondern rhetorisch begründet sei und lediglich der Rede mehr »Würze« verleihe (41). So sei z. B. auch kein Unterschied im Gebrauch von πιστεύω + Dativ und πιστεύω + εἰς zu konstatieren.
T. analysiert nun das Textcorpus des JohEv in den skizzierten vier Abschnitten Joh 1–4 Initial Encounters, Joh 5–12 Subesequent Encounters, Joh 13–17 Deepening Apprehension und Joh 18–21 Climactic Apprehension. In allen diesen Abschnitten beschreibt T. jeweils den Gebrauch des Vokabulars vom Erfassen, ordnet dieses in die narrative Entwicklung ein und analysiert dann ausgewählte Passagen (die Kriterien für die Auswahl erschließen sich nicht ganz) eingehender. Im Abschnitt I konstatiert er, dass das Erfassen Jesu (im Sehen, Hören, Erkennen, Bezeugen, Erinnern) immer im Glauben mündet mit Ausnahme des Nikodemus-Gesprächs in Kapitel 3. Die Berufungserzählungen der Jünger folgen dabei dem gleichen Schema wie der Erfassensprozess Johannes des Täufers. Das erste Zeichen auf der Hochzeit zu Kana bewirkt eine Verstärkung des Erfassensprozesses Jesu seitens der Jünger, begründet einen solchen jedoch nicht. Nachdem das Ereignis im Tempel das Erinnern prominent macht durch Einführung einer zusätzlichen nachösterlichen Er­zählebene (63), bildet der Abschnitt 2, 23–25 eine Antiklimax: Die Beurteilung des Glaubens und des Erfassensprozesses obliegt alleine Jesus selbst: »one really knows Jesus only when Jesus recognizes that one does« (66). Die ist die einzige Stelle im JohEv, in der Jesus selbst das Subjekt von πιστεύω ist, so dass diesem Vers eine hermeneutische Schlüsselposition im Hinblick auf den wechselseitigen Prozess des Erfassens zwischen Jesus und den Menschen zukommt.
Der Abschnitt II (Kapitel 5–9 und 10.12 als Übergangskapitel) erarbeitet eine Theologie des Unglaubens. Wahre Glaubende werden von oberflächlich und falsch Glaubenden unterschieden (82). Jesus zu begreifen führt zu einer Entscheidung zwischen Glauben und Unglauben. Die Perikopen enden nicht mehr im Glaubensmotiv, sondern im Konflikt, der im Sehen oder Hören (von Zeichnen, Taten, Worten) seinen Ausgang nimmt. Die Termini des Erfassens erscheinen im Kontext der Spannung (92). Die Kapitel 10–12 stellen einen Übergang von feindlichen Reaktionen zu intimeren Begeg nungen dar (Lazarus, Maria/Marta, Salbung), die ein vertieftes Begreifen Jesu initiieren. Die gegnerischen Gruppen (»Juden«/Pharisäer) sind hingegen unfähig, Jesus recht wahrzunehmen.
In Abschnitt III (Kapitel 13–17) ist das Erfassen Jesu durch die Seinen im Grundsatz erreicht, und es geht nun um dessen Andauern und die Befähigung, diesen Erfassensprozess auch in anderen auszulösen. Dabei behilflich ist der Paraklet, der vertieftes Erfassen möglich macht und ebenso das Begreifen des Vaters im und durch den Sohn. Die Sprache des Erinnerns ist mit dem Parakleten verbunden. Das Abschlussgebet in Kapitel 17 schließt die Abschiedsreden, aber auch den Gesamtbestand der Kapitel 1–16 ab aus der Perspektive des Erfassens Jesu (141).
Im Abschnitt IV (Kapitel 18–21) wird das Sehen noch wichtiger und häufiger als zuvor. Jesus selbst ist der, der weiß. Wahres Sehen und Erkennen geschehen in der Begegnung mit dem Auferstandenen. Der Lieblingsjünger stellt das Exempel für Sehen, Bezeugen und Wissen dar.
Abschließend fasst T. seine Ergebnisse zusammen und betont, dass die Terminologie des Erfassens (Sehen, Hören, Bezeugen, Wissen, Erinnern) sowohl eine Glauben begründende (faith engendering) als auch eine (bestehenden) Glauben fördernde (faith fostering) Funktion habe im Einklang mit dem vom Autor in Joh 20,31 formulierten Ziel seines Werkes.
Insgesamt kreist die Arbeit in nicht unerheblichen Redun-danzen (Ergebnisse werde vorweggenommen, konstatiert und zu je­dem Abschnitt wieder aufgenommen und wiederholt) um ihr Thema, was dem Objekt der Betrachtung nicht unangemessen er­scheint. Die Beobachtungen T.s begleiten und ermöglichen tatsächlich ein intensiviertes und vertiefendes close reading. Hinsichtlich des theologischen Ertrags möchte man sich allerdings dem Verdikt T.s über den johanneischen Verbgebrauch anschließen: Die spezifische Perspektive der Fragestellung bringt nichts grundlegend Neues oder Anderes, aber sie verleiht der Lektüre des Johannesevangeliums einige Würze.