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Ausgabe:

Dezember/2020

Spalte:

1208–1211

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Gebauer, Roland

Titel/Untertitel:

Die Apostelgeschichte. 2 Teilbde. Teilbd. 1: Apg 1–12. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2014. 231 S. = Die Botschaft des Neuen Testaments. Kart. EUR 16,99. ISBN 978-3-7887-2864-9. Teilbd. 2: Apg 13–28.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2015. 279 S. = Die Botschaft des Neuen Testaments. Kart. EUR 25,00. ISBN 978-3-7887-2890-8.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Dieser Kommentar von Roland Gebauer erscheint in einer Reihe, die für ein breites Lesepublikum bestimmt ist. Er hat somit die Chance, die jüngere Forschung zur Apg über den Kreis der Fachdiskussion hinaus für die Gemeindearbeit zugänglich zu machen. Dem Format der Reihe entsprechend behandelt er die einzelnen Perikopen nach dem Schema Übersetzung, kurze Einführung, Vers-um-Vers-Erklärung und Zusammenfassung. Dabei liegt der Akzent vor allem auf den theologischen Themen, die Lukas in seiner Erzählung entfaltet.
Eine dieser Themenlinien, auf die ich mich im Folgenden konzentrieren möchte, betrifft das Bild des Judentums. Im Vorwort heißt es dazu, die Apostelgeschichte werde »angesichts des christlich-jüdischen Dialogs zu einer ungemein herausfordernden Lektüre« (I, 8). Dem kann man nur zustimmen! Doch leider bleibt diese Aussage folgenlos. Alles, was man fortan liest, könnte von der ersten bis zur letzten Zeile so auch schon vor gut 60 Jahren geschrieben worden sein. Nach den Einsichten jenes Dialoges, der seit ca. 1960 die Theologie umgetrieben hat, sucht man vergeblich. Von sprachlicher Sensibilität, wie sie seither Einzug in die exegetische Arbeit gehalten hat, bleibt der Kommentar unberührt. Er kommt daher, als ob es die drei EKD-Studien »Christen und Juden« (1975/ 1991/2000) nicht gäbe, als ob von der »bleibenden Erwählung Israels« noch nie die Rede gewesen wäre, oder als ob man die breite Debatte über Antijudaismus im Neuen Testament, die seit den 1980er Jahren auch das lukanische Doppelwerk ergriffen hat, gar nicht zur Kenntnis nehmen müsse. Unter den spärlichen Literaturangaben (es gibt ganze vier Titel Sonstige zitierte Literatur) findet sich keine Spur jener zahlreichen Untersuchungen, die geeignet wären, ein entsprechendes Problembewusstsein zu erwecken. Der Kommentar verschweigt seinem Publikum, was gerade die brisanteste und theologisch folgenreichste Entwicklung in der jüngeren Lukasforschung ausmacht. Stattdessen qualifiziert er immer wieder das Stichwort »Judenmission« und leitet daraus eine bleibende Aufgabe für die Christenheit auch im 21. Jh. ab.
Wichtige Haftpunkte für das Bild des Judentums sind im ersten Teil der Apg vor allem jene fünf Petrusreden, in denen sich Lukas eines besonderen Schemas zur Deutung des Todes Jesu bedient. Es baut auf einem Kontrast zwischen der Unheilstat der Menschen und der Heilstat Gottes auf nach dem Muster: »den habt ihr getötet – den hat Gott auferweckt«. Doch dieses Schema zielt eben ge-rade nicht auf eine »Anklage« der Adressaten, sondern holt sie vielmehr bei ihrer Geschichte ab und verkündigt ihnen die frohe Botschaft (analog Gen 50,20), dass Gott ihr Handeln zum Heil ge­wendet habe. Es bleibt deshalb auch allein auf die konkrete Konstellation bezogen, ohne verallgemeinert und damit gleichsam auf Dauer gestellt zu werden. Wenn der Kommentar hingegen von »dem geprägten Schema von Jesu Tötung durch Israel …« (I, 73) spricht (bei Roloff heißt das Ganze zutreffend nur »Kontrastschema«, vgl. auch I, 203), hat er diese verhängnisvolle Pauschalisierung und Ausweitung auf ganz »Israel«/»das Volk«/»die Juden« schon vollzogen. Damit verbindet sich sogleich auch die hoch problematische Frage nach der »Schuld« am Tode Jesu. Kann man wirklich nach 2000 Jahren Verfolgungsgeschichte immer noch sagen, die Juden trügen »die Hauptverantwortung für die Tötung Jesu. Der Ratschluss Gottes hebt ihre Schuld nicht auf …« (I, 50)? Solche Statements sind falsch und fahrlässig in mindestens zweifacher Hinsicht. Zum einen sind, historisch betrachtet, am Prozess Jesu nur die Autoritäten der Jerusalemer Führungselite sowie ein handverlesener Mob beteiligt, die nicht einfach auf das »Gottesvolk« hochgerechnet werden können. Zum anderen ist jeder Versuch, überhaupt »Schuldige« dingfest zu machen, theologisch verfehlt – wenn denn gilt, dass Jesu Tod als ein Heilsereignis verkündigt wird. Darin sind sich alle Autoren des Neuen Testaments einig: Jesus starb »für« (die vielen/euch) und nicht »wegen«. Sachgemäß wäre somit nur – wenn denn überhaupt von Schuld die Rede sein soll –, jedem einzelnen Menschen bis auf den heutigen Tag Schuld anzulasten, was man kaum besser als der Theologe Paul Gerhardt auf den Punkt bringen kann: »Nun, was du, Herr, erduldet, / ist alles meine Last; / ich hab es selbst verschuldet, / was du getragen hast …« (EG 85,4). Von einer Behaftung »der Juden« mit der Schuld an einer »Ermordung« Jesu aber war es schon im 2. Jh. nur ein kurzer Schritt hin zu dem Vorwurf, »die Juden« seien »Gottesmörder« – ein Vorwurf, der eine blutige Spur von Repressalien und Pogromen durch die Geschichte der Kirche gezogen hat. Was Lukas hier zu seiner Zeit (die er noch immer als Endzeit versteht) in zugespitzter Weise sagt, kann heute angesichts des schweren Gepäcks, das Kirche und Theologie mit sich herumtragen, nicht einfach nur zitiert werden. Das Erschrecken über die Wirkungsgeschichte solcher Aussagen nötigt uns vielmehr dazu, sachkritisch mit ihnen umzugehen. Die gelegentlichen Warnungen, die der Kommentar ausspricht (»Gewalt gegen die andere Seite darf es nicht geben! Gerade die Christen haben im weiteren Verlauf der Geschichte hier viel Schuld auf sich geladen.«; I, 132/»Keinesfalls dürfen die sich darin zeigenden Ge­gensätze zu einer Bekämpfung der jeweils anderen Seite führen.«; I, 155), wirken gegenüber der starken Sprache einer »Anklage der Juden« blass und hilflos. Bestünde theologische Verantwortung nicht zuerst darin, solchen möglichen Gewaltphantasien gar nicht erst Anlass und Nahrung zu bieten?
Als beschwerlich empfinde ich vor allem den Stil, der die lukanische Sprache nicht nur nachspricht, sondern immer wieder paraphrasierend verstärkt. Das lässt sich auch nicht mit jener im Vorwort geäußerten Absicht rechtfertigen, der Kommentar bemühe sich in erster Linie um eine Erklärung dessen, »was da steht« (I, 8). Die distanzierende lukanische Redeweise von »den« Juden, die sich einer Konfliktgeschichte am Ende des 1. Jh.s verdankt, bedarf der Erklärung, Einordnung und auch der Korrektur – nicht aber der weiteren Ausmalung. Die tritt jedoch vor allem dort in Erscheinung, wo von einer »Ermordung« Jesu die Rede ist, von dem »todbringenden« oder »Unheilshandeln« bzw. der »Schuld« oder dem »schuldhaften Handeln« »seines Volkes«, von der »radikalen« oder »erbitterten« Feindschaft »der Juden«, die sich zu »brutaler Gewalt« steigere, der »Aggression« oder den »Nachstellungen« der »aufsässi gen Juden« sowie ihrem »tödlichen Hass«; die römische Staatsmacht befreit Paulus »aus den Fängen« der Juden, die Lukas als »verblendet« darstellt. Damit wird mehr gesagt als das, »was da steht«. Und so gerät das Bild des Judentums zu genau jener Karikatur, wie sie aus einer langen Auslegungsgeschichte bekannt und geläufig ist.
Die Antijudaismen bei Lukas sind jedenfalls ein Thema, das einer sensibleren Behandlung bedarf. Aus dieser Problematik er­wächst zugleich die Frage, wie denn die Beziehung zwischen christusgläubiger Gemeinde und Israel damals und zwischen Kirche und Judentum heute überhaupt zu beschreiben sei. Der Kommentar scheint hier von einem grundsätzlichen, unvereinbaren Gegensatz auszugehen, der allein im Modus der Mission zu überwinden wäre. Damit dürfte das Anliegen des Lukas jedoch verfehlt sein. Vermag die Christusbotschaft tatsächlich das Gottesvolk »in seinen Grundfesten zu erschüttern«? (I, 115) Zeigen die »Hellenisten« mit ihrer »Kritik an Tempel und Gesetz« tatsächlich »eine gegenüber den Hebräern veränderte Haltung zu Israel und den Grundlagen der jüdischen Religion« (I, 122) an? Markiert Apg 6 tatsächlich den Beginn einer Entwicklung von Judentum und Christentum als verschiedene »Religionen«, die »auf Dauer keinen gemeinsamen Weg gehen können« (I, 131)? Selbst die Bezeichnung »Christianer« (Apg 11,26) wird als ein Zeichen der Ablösung interpretiert. Vorzugsweise notiert der Kommentar Kontraste und konstatiert die »Unvereinbarkeit des Jesusglaubens und der überkommenen Haltung Israels gegenüber seinem Gott« bzw. »die unvereinbaren Differen zen zwischen dem christlichen und dem herkömmlichen jüdischen Glauben« (I, 135). Einen solchen Gegensatz stellt er dann auch in der Geschichte des Paulus fest. Aber kommt es denn zwischen »den Juden« und Paulus wirklich zu einer »radikalen Entzweiung« bzw. zu einem »tiefen Riss« (II, 160)? Die markige Metapher von dem »Stich«, der den Hörern des Petrus zu Pfingsten »durchs Herz« geht (Apg 2,37), wendet der Kommentar in verallgemeinernder Weise auf die Rede des Paulus in Apg 21 an – sie sei »ein Stich mitten ins Herz des Judentums« (II, 168). Hier würde sich Lukas wohl die Augen reiben. Denn er erzählt weder die Geschichte Jesu Christi noch die der christusgläubigen Gemeinde als einen Gegenentwurf zum Judentum seiner Zeit; vielmehr ist für ihn das, was da geschieht, nichts anderes als ein weiteres Kapitel der Geschichte Gottes mit seinem Volk.
Am Ende klopft dann auch schon wieder die alte Substitutionstheorie an die Hintertür, wenn es etwa heißt, dass die mehrheitliche Heidenkirche »als solche das endzeitliche Gottesvolk darstellt«; die Kirche sei »das von Israel herkommende und gläubige Juden einschließende Gottesvolk der hörenden Heiden« (II, 236). Immerhin wird der rudimentäre Einschluss gläubiger Juden noch vermerkt, aber das empirische Israel scheint unter dem Dach dieses »Gottesvolkes« keinen Platz mehr zu finden. Ist das die Haltung des Lukas? Bestimmt nicht, und selbst wenn sie es wäre, müssten wir heute anders darüber nachdenken.
In besonderer Weise fordert die Positionierung des Kommentars für das bleibende Recht einer »Judenmission« zum Widerspruch heraus. Zum Einen beruht sie auf der Annahme, man könne die Situation der ersten Generation mit unserer Situation im 21. Jh. gleichsam synchronisieren. Zum anderen übersieht sie, dass die christusgläubige Gemeinde im 1. Jh. eben gerade keine »Judenmission« betreibt, sondern schlicht »Mission«, die ganz einfach deshalb im jüdischen Kontext beginnt, weil das Anliegen des Juden Jesus in der »Sammlung Israels« (nicht: der »Missionierung der Juden«; II, 252) bestand und weil die »Christianer« der Anfangszeit zunächst nichts anderes als eine jüdische Sondergruppe sind. Wenn es in dem Schlusskapitel Die Bedeutung der Apostelgeschichte heute heißt: »Wo die Kirche auf Judenmission verzichtet, enthält sie daher dem Gottesvolk die Botschaft des ihm nach wie vor geltenden Heilshandelns Gottes vor.« (II, 265), dann ist das nicht nur theologisch falsch, sondern angesichts unserer Geschichte auch zynisch. Gottes Heilshandeln an Israel hat sich bislang nicht etwa in der Verkündigung des Evangeliums durch Christen erwiesen, sondern in der unbeirrbaren Treue Gottes zu seinem Volk, in dem ungekündigten Bund, in der bleibenden Erwählung Israels – kurz: in der Bewahrung Israels trotz aller »mörderischen und schuldhaften« Verfehlungen der Christenheit. Der Kommentar indessen empfiehlt seiner Leserschaft, angesichts der »Schuldgeschichte der Kirche« Zurückhaltung zu üben und besser Judenchristen »in ihrem Jesuszeugnis gegenüber dem Gottesvolk zu unterstützen, anstatt sich davon abzugrenzen oder sie gar daran zu hindern« (II, 265). Das bedeutet, über Bande zu spielen und die »messianischen Juden« unserer Tage zu instrumentalisieren für ein Anliegen, das aus theologischen Gründen klar und eindeutig abzuweisen ist: Die Beziehung zwischen Christen und Juden ist die des Dialoges und nicht die der Mission! »Judenmission« (ganz gleich in welcher Form) stellt die bleibende Erwählung Israels in Abrede und greift dem eschatologischen Handeln Gottes vor. Hier bewegt sich der Kommentar außerhalb jenes Konsenses, der in Theologie und Kirche inzwischen weithin erreicht ist.
In seinen Auslegungen der einzelnen Perikopen bietet der Kommentar knappe und solide Informationen. Doch zugleich enthält er seiner Leserschaft eben auch wichtige Einsichten vor. In der Reihe Die Botschaft des Neuen Testaments, die ein breites Publikum anspricht und weit in die Gemeinden hinein wirkt, verpasst er die Chance, mit der Apostelgeschichte in der Hand zu einem neuen Nachdenken über Christen und Juden anzuregen.