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Ausgabe:

Dezember/2020

Spalte:

1205–1208

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Frey, Jörg, u. Martin Wallraff [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Petrusliteratur und Petrusarchäologie. Römische Begegnungen.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. VI, 315 S. = Rom und Protestantismus – Schriften des Melanchthon Zentrums in Rom, 4. Kart. EUR 44,00. ISBN 978-3-16-155889-4.

Rezensent:

Jutta Dresken-Weiland

Dieser Band vereint die Beiträge einer Tagung im Melanchthon-Zentrum an der Waldenser-Fakultät in Rom, die im März 2016 stattfand. Anlass zu dieser Tagung war den beiden Herausgebern Jörg Frey und Martin Wallraff die paradoxe Beobachtung, dass die sich im 2. Jh. entwickelnde Petrus-Literatur fast ohne Rom-Bezüge auskommt, während die lokale Bezugnahme auf Petrus in Rom von den frühesten literarischen Quellen, die Petrus erwähnen, unabhängig zu sein scheint – eine Verknüpfung der beiden »Säulen« der Petruserinnerung findet erst später statt (6).
Christoph Heilig, »Älteste Petrus-Traditionen und neueste Paulus-Perspektiven« (9–41) beschäftigt sich mit der Interpretation der Rolle des Petrus beim berühmten, im Galaterbrief geschilderten Zusammentreffen von Petrus und Paulus und dessen Deutung innerhalb der NPP.
Der Beitrag von Benjamin Schliesser, »Der Seewandel des Petrus (Mt 14,28–31) in frühchristlicher Literatur und Kunst. Zur Wirkungsgeschichte einer unbequemem Petruserzählung« (43–86), lässt keine Wünsche in seiner gründlichen und systematischen Behandlung des Themas offen und erfasst auch die erhaltenen frühchristlichen Denkmäler vollständig. Lediglich im Resümee (83) wird man dem Autor dahingehend wiedersprechen, dass diese Geschichte durchaus, anders als der Autor meint, kein »Randthema« war, sondern dass sie den ihr gebührenden »Resonanzraum« erhielt: Die meisten Darstellungen gehören dem 5. und 6. Jh. an, also einer Zeit, in der die Zahl erhaltener Bilder nur einen geringen Teil dessen ausmacht, was aus dem 4. Jh. bekannt ist. Bemerkenswert ist die Erhaltung von Beispielen in unterschiedlichen Gattungen und in der gesamten Oikumene, was erkennen lässt, dass der sinkende Petrus den Menschen der ausgehenden Antike wichtig war. Die Erzählfreude der ausgehenden Antike lässt sich dieses in jeder Hinsicht ansprechende Thema nicht entgehen.
Jörg Frey, »Von der ›petrinischen Schule‹ zum ›petrinischen Diskurs‹. Der zweite Petrusbrief und seine literarischen Bezüge« (87–123), reflektiert kritisch die Forschung zum zweiten Petrusbrief und legt dar, Wolfgang Grünstäudl folgend, dass dieser Text von der weit verbreiteten Petrus-Apokalypse abhängig ist (102–111). Neben diesen beiden Texten stammt auch das von Clemens zitierte »Kerygma Petri« (111–113) wohl aus Alexandria, so dass im 2. Jh. unterschiedliche Petrusbilder bekannt waren (114). Um die Zu­schreibung solch verschiedener Überlieferungen an Petrus zu erklären, greift Frey auf den Begriff des Diskurses zurück, der in der Exegese und Erforschung des hellenistischen Judentums erprobt wurde (117 f.). Auf Petrus bezogen bedeutet dies die selektive Aufnahme älterer Petrus-Überlieferungen, wobei dem Autor von 2Petr die Frage der Ethik bzw. der christlichen Tugenden (2Petr 1,5–11) besonders wichtig zu sein scheint (120).
Thomas J. Kraus, »Vergegenwärtigende Erinnerung – was die Petrusakten (ActPetr) überhaupt über ›Petrus in Rom‹ erkennen lassen« (125–157), legt dar, dass es sich bei den um 200 entstandenen Petrusakten um einen christlichen Roman, um ein literarisches Gebilde handelt, dessen wichtige Themen Reue und Umkehr, Glaubensstärke, sexuelle Enthaltsamkeit, Erscheinungen und Wundertaten, Predigt und Lehre sind (154). Die Lokalisierung in Rom und die Erwähnung von Orten ist dabei nachrangig; sie stehen dafür, dass Petrus in Rom erinnert und vergegenwärtigt wurde. Möglicherweist greift die geschilderte Bestattung des Petrus, von konservierenden Maßnahmen begleitet (146), in einen Steinsarg (die entsprechende Passage mit deutscher Übersetzung im Beitrag von Tobias Nicklas; 175 f.) Erinnerungen an die Beisetzung der Poppea, der Frau Neros auf, deren Leichnam konserviert und in einem Sarkophag im Augustus-Mausoleum beigesetzt wurde (L. Chioffi, Mummificazione e imbalsamazione a Roma ed in altri luoghi del mondo romano [= Opuscula epigraphica 8], Rom 1998, 35 f.)
Tobias Nicklas, »Antike Petruserzählungen und der erinnerte Petrus in Rom« (159–187), fragt danach, wie Christusanhänger der ersten Jahrhunderte ihren Glauben verstanden haben und wie sie seine Inhalte kennenlernten. Dabei nimmt er besonders die Glaubensvorstellungen der Mehrheit der Christen in den Blick, die weder Gelegenheit noch Muße hatten, ein Buch in die Hand zu nehmen, um sich auf diese Weise eigenständig zu informieren und denen Erinnerungen sozial übermittelt wurden. Es geht ihm dabei darum, wie Texte »Elemente einer wachsenden Erinnerungsstruktur ›Petrus‹ anbieten, die sich ab einem bestimmten Punkt auch mit realen Orten und deren Verehrung in Verbindung bringen lassen« (163). Eine erste Stufe stellen das Nachtragskapitel im Johannesevangelium, die Offenbarung des Petrus, die Ascensio Isaiae, der zweite Petrusbrief und Briefe der mittleren Rezension des Ignatius von Antiochien dar, in denen der Tod des Petrus Teil des kulturellen Gedächtnisses ist. Für die Erinnerung an Petrus spielt unter anderem eine Rolle, dass sein Tod von Jesus selbst vorhergesagt wird und dass er in Rom unter Nero stattfand.
Die Erinnerung an einen bestimmten Ort in Rom als zweite Stufe setzt mit der bekannten, bei Eusebius h.e. II,25,3–5 zitierten Aussage des Presbyters Gaius (170–172) und mit der Quo-vadis-Szene in den Petrusakten (172–175) ein. Besonders aufschlussreich für die Funktion von »Erinnerung« ist der auch von Kraus erwähnte § 11, in dem die Bestattung von Petrus’ Leichnam durch Marcellus in einem Steinsarg beschrieben wird. Petrus erscheint nachts Marcellus und kritisiert den wegen seiner Bestattung betriebenen Aufwand. Nicklas vermutet, dass diese Passage möglicherweise die Verehrung eines Petrusgrabes und dessen Reliquien relativieren möchte und damit auch die Rolle Roms, das dabei ist, die Petrusverehrung zu monopolisieren (177 f.). Das Motiv der Bestattung des Petrus in einem Steinsarg (175 f.) wird von späteren Texten in veränderter Form mit dem Ziel der Verehrung des Petrus erzählt (182.183 f.).
Im »Martyrium des seligen Apostels Petrus durch Pseudo-Linus«, einer um 400 entstandenen Überarbeitung des griechischen Martyrium des Petrus, wird – als eine dritte Stufe– die Erinnerung an einem konkreten Ort, dem Mamertinischen Kerker, festgemacht, wobei das Quellwunder des Petrus en passant erwähnt wird (181). Es wird bereits seit dem frühen 4. Jh. auf Sarkophagreliefs dargestellt und dürfte in Rom jedem Kind bekannt gewesen sein. Das Festmachen von Erinnerung am Mamertinischen Kerker erfolgte spätestens zu dieser Zeit, ist aber wohl älter. Die Funktion der Erinnerung, so das Fazit, ist letztlich die kirchenpolitische Positionierung.
Vanessa Bayha, »Die römische Bischofssukzession als Garant orthodoxer Lehre und apostolischer Überlieferung bei Hegesipp und Irenäus« (189–218), befasst sich intensiv mit den beiden entsprechenden Stellen der beiden Autoren. Sie legt dar, dass die erste Bischofsliste von Irenäus verfasst wurde, wobei es für die Apostolizität der Lehre wichtig ist, dass neben diese eine synchrone Übereinstimmung der Einzelkirchen miteinander tritt.
Peter Gemeinhardt, »Liegt Petrus in Rom, und wenn ja, seit wann? Zur Herausbildung der römischen Petrustradition im zweiten Jahrhundert« (219–254), führt prägnant, pointiert und auf das Wesentliche konzentriert in die bekannte Problematik ein. Gemeinhardt erwähnt ebenfalls die in den Petrusakten erwähnte Bestattung des Petrus in einem Marmorsarkophag und schließt daraus, dass es eine römische Petrustradition gab, die an einem lokalisierbaren Grab kein Interesse hatte. Er vermutet, dass die entstehende Tradition der Verehrung von Heiligengräbern wohl nicht von allen römischen Christen geteilt wurde, zumal im 3. Jh. an der Via Appia eine weitere Gedenkstätte für beide Apostel entstand (246). Gemeinhardt diskutiert die bekannten Positionen von Otto Zwierlein, Christian Gnilka und Markus Bockmuehl. Letzterer weist darauf hin, dass Petrus als der »erinnerte Petrus« ein Faktor der Kohärenz im frühen Christentum gewesen sei (251). Der letzte Abschnitt von Gemeinhardts Beitrag ist überschrieben mit »Petrus in Rom – wo sonst?«: Tod und Begräbnis des Petrus in Rom sind seit 1.800 Jahren behauptet worden, ohne dass jemals eine Alternative genannt worden ist (253). Das das Interesse am konkreten Ort der Bestattung erst lange nach Petrus’ Tod aufkam, ist hinreichend deutlich (254).
Martin Wallraff, »Wo in Rom liegt Petrus? Zur Entwicklung der Petrustradition im dritten Jahrhundert« (255–275), widmet sich der Petrustradition an der Via Appia. Warum die beiden Apostel hier verehrt wurden, darf weiter Objekt von Spekulationen bleiben (273). Reliquientranslationen von Christen in so früher Zeit sind nicht bekannt (268), so dass es doch andere Gründe waren, die die Einrichtung eines Kultortes auslösten (273). Christogramme gab es schon in der Zeit vor Konstantin (262) auf Gemmen (Ch. Schmidt, Frühchristliche Symbole und Bilder auf Fingerringen des 3. bis 5. Jh.s, in: Ch. Stiegemann [Hrsg.], Credo. Christianisierung Europas im Mittelalter, Ausst.-Kat. Paderborn, Fulda 2013, 42).
Michael R. Jost, »Der historische Simon Petrus und seine bleibende Bedeutung für die Kirche der Gegenwart. Der Beitrag Oscar Cullmanns« (277–304), würdigt angemessen die Bedeutung von Cullmanns in mehreren Auflagen erschienenen Buches »Petrus. Jünger, Apostel, Märtyrer. Das historische und das theologische Petrusproblem«.
Insgesamt liegt ein dichter und anregender Band vor, der so­wohl den Stand der Forschung und aktuelle Tendenzen zusammenfasst als auch zum Weiterdenken einlädt. Man liest ihn mit Vergnügen und legt ihn bereichert aus der Hand.