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Ausgabe:

Dezember/2020

Spalte:

1198–1200

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Gers-Uphaus, Christian

Titel/Untertitel:

Sterbliche Götter – göttliche Menschen. Psalm 82 und seine frühchristlichen Deutungen.

Verlag:

Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk 2019. 336 S. = Stuttgarter Bibelstudien, 240. Kart. EUR 30,00. ISBN 978-3-460-03404-4.

Rezensent:

Franz Xaver Risch

Der Psalm 82 (81 in der Septuaginta) stellt eine Gerichtsszene dar, in der die Götter der Völker aufgrund ihres Versagens abgeurteilt und entmachtet werden. In den Mittelpunkt der exegetischen Aufmerksamkeit rücken, in unterschiedlicher Gewichtung, Vers 1 (Versammlung der Götter), Vers 6 (Götter sein) und Vers 7 (sterben wie Menschen).
Ehe Christian Gers-Uphaus mit der Darstellung frühchristlicher Deutungen beginnt, erörtert er die vorchristliche Behandlung des Psalmes; das beansprucht immerhin rund ein Drittel des ganzen Buches. In seiner Analyse des hebräischen Textes teilt er die opinio communis der modernen Forschung, dass »die Hinwendung Israels zum exklusiven Monotheismus« (273) ausgedrückt wird. Am Text in der Septuaginta, der frühesten jüdischen Rezeption, er­kennt G. eine Reihe von variierenden Nuancen, die die Verse zwar im Ganzen mehr als Übersetzung denn als verändernde Auslegung erscheinen lassen, aber doch unverkennbar eine Aktualisierung beinhalten. Beispielsweise wird der Tod der Götter im hebräischen Text futurisch ausgedrückt, nunmehr präsentisch und antihellenistisch. Die späteren christlichen Ausleger wird dies nicht an einer f uturisch-eschatologischen Deutung hindern. Eschatologisch ist bereits die spätere jüdische Rezeption im Qumran-Fragment 11QMelch. Die wortgetreue Exzerpierung des Psalms dient der Beauftragung des Priesters Melchisedek, gegen die zu Engeln und bösen Geistern gewordenen Götter einzuschreiten.
Der durch seine Thematik schon bemerkenswerte Text gewinnt für die Christen durch die Zitation des Verses 6a in Joh 10,34, der einzigen Zitation im Neuen Testament (108), an Bedeutung. Mit dem religionshistorischen Ereignis der Abschaffung der Götter war der Erweis des einen Gottes verbunden, und dieses monotheistische Interesse wird nun in der Frage nach der Göttlichkeit Christi zur Geltung gebracht. In der logischen Form eines Schlusses a minore ad maius wird dabei, unter Umgehung der Gerichtsszene, die Rede von den Göttern genutzt: Wenn schon die Empfänger des göttlichen Wortes Götter genannt werden, dann gilt dies für Christus erst recht. Dadurch, dass Christus nicht mit Göttern verglichen wird, was den jüdischen Blasphemievorwurf an ihn bekräftigt hätte, kann er Gott genannt werden, ohne dass der Monotheismus beschädigt wird.
Die weitere frühchristliche Verarbeitung ist dadurch gekennzeichnet, dass die ursprüngliche Überwindung des Polytheismus keine Rolle mehr spielt. Unter Götter werden fortan Menschen verstanden, entweder Führer wie Richter und Könige oder Mitglieder der Synagoge oder der Kirche, die dann wie Menschen sterben, wenn sie in der Göttlichkeit versagen und der Sünde verfallen. Die Umdeutung der seienden zu so genannten Göttern erlaubt schließlich eine Ausdehnung der Göttlichkeit auf alle Menschen und stützt damit die Vorstellung von einem universalen Gericht. Die Frage, wie sich diese Hermeneutik der uneigentlichen Bedeutung zur Katachrese verhält, wird, wenn ich richtig gesehen habe, nicht gestellt.
G. erörtert die durch das Johannesevangelium eröffnete christologisch-anthropologische Deutung in eindringlicher Nachzeichnung der hermeneutischen Positionen, die verstreut in unterschiedlichen Kontexten auftreten, und achtet dabei genau darauf - das dürfte den Leser besonders interessieren – bei welchem Autor welches Motiv zuerst auftaucht. Justin stellt den für das Verständnis von Vers 7 wichtigen Zusammenhang mit der Sündenfallerzählung her, ohne klar zwischen Menschheit und Christenheit zu unterscheiden. Irenäus, der den Zusammenhang mit Psalm 50 (49) be­merkt, erblickt in der Versammlung entschiedener die christliche Kirche und hält die Götter für die adoptierten Söhne Gottes, die freilich die Adoption verweigern können und dann wie Menschen sterben. Clemens Alexandrinus erläutert den eher religiösen Vorgang der Gottwerdung der Menschen durch Adoption und Taufe mit philosophischen Termini wie Homoiosis, Apathia und Gnosis. Tertul-lian, der den Psalm in antihäretischem Kontext behandelt, betont die Gnade der Gottwerdung. Cyprian liest ihn erstmals auch als Prophezeiung der Ablehnung Christi durch die Juden. Novatian assoziiert den Satan.
Unter den späteren Zeugnissen berücksichtigt G. die systematischen Kommentare von Eusebius, Hieronymus, Augustinus und Theodoret. Sie werden im Anhang in eigener Übersetzung beigegeben. Diese Darbietung der Quellentexte ist trotz vieler in Klammern beigefügter Erklärungen und Alternativen insgesamt gut lesbar. In einigen Details ist eine Revision ratsam; beispielsweise ist der für Eusebius typische Ausdruck μετὰ χεῖρας attributiv, nicht adverbiell verwendet und bedeutet vor allem nicht »nach Händen (= in dieser Sache)«, sondern »der Psalm, mit dem wir uns jetzt beschäftigen«.
Der Kommentar des Eusebius ist der eigentlich wissenschaftliche. Viele der verstreuten Motive sind in ihm gebündelt, und die Frage nach der Bedeutung der Götter wird in systematischer Reflexion angegangen. Eusebius behandelt aber auch, wie es bei ihm üblich ist, die Textstruktur sowie, da er sich viel mit den Überschriften der Psalmen beschäftigt hat, die Betitelung mit Asaf und versteht es auf diese Art, nach Irenäus einen Zusammenhang mit dem Asaf-Psalm 50 (49) auch formal herzustellen. Dass er die Gerichtsszene auf die Verurteilung der jüdischen Führung deutet, ist aus seiner antijüdischen Grundhaltung zu erwarten. Allerdings ist die Hermeneutik bei Eusebius, auch wenn sie nicht allegorisch ist und historisch bleibt, mehrschichtig, entsprechend zu seinem Hauptthema des alten und neuen Volkes. So kann er aktualisierend die Gerichtsszene auch auf innerkirchliche Situationen deuten, etwa im Verhalten gegenüber begüterten Gemeindemitgliedern. Dieses Motiv hat er von Origenes übernommen. Auf ihn geht G. leider nicht näher ein, da er in seiner 2011 abgeschlossenen, aber erst 2019 erschienenen Arbeit die neu aufgefundenen und 2015 von Lorenzo Perrone veröffentlichten Psalmen-Homilien nicht kennt, zu denen auch eine Homilie zu Ps 81 gehört. Der Begründer und Meister der wissenschaftlichen Bibelkommentierung ist, wie immer, originell und bietet auch Ideen, die über die von G. erörterten Positionen hinausgehen. Beispielsweise sieht er die Vergottung des menschlichen Leibes angedeutet.
Wie bei Eusebius wäre auch bei Hieronymus die Inspiration durch Origenes, über die erwähnte Homilie hinaus, näher zu untersuchen, so in der Vorstellung, dass die Bischöfe dem Gericht unterliegen, oder in der Erklärung des stehenden Gottes. Am weitesten entwickelt, man könnte auch sagen am buntesten, ist die Fragestellung bei Augustinus. Das gilt leider auch für die antijüdische Haltung, die nun peinlich geworden ist; G. spricht von Beleidigung (255). Eine Besonderheit ist der Versuch einer etymologischen Deutung des Namens Asaf. Und man wäre fast verwundert, wenn der leidige Prädestinationsgedanke nicht auftauchte.
Grob gesprochen könnte man von einer alttestamentlich-theologischen, einer neutestamentlich-christologischen und einer patristisch-anthropologischen Motivation in der Deutung der »Götter« sprechen. Aufs Ganze gesehen überwiegt ein anthropologisches In­teresse gegenüber der Monotheismus-Thematik.
Die fleißige Studie erweckt den Eindruck großer Umsicht. Sie veranlasst G. zu häufigen, mitunter etwas umständlichen methodologischen Reflexionen (beispielsweise 136–141), in denen er sein Problembewusstsein unter Beweis stellt, vielleicht mehr als nötig. G. beherrscht die Kunst der Exegese. Es ist allerdings zu befürchten, dass er mit dem Niveau der modernen Wissenschaftler auch die Ratlosigkeit teilt, wie man den historischen Text aus dem Grab der Historizität holen könnte. Die Theologen haben uns nachhaltig beigebracht, dass wir keine Götter sind.