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Ausgabe:

Dezember/2020

Spalte:

1196–1198

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Gebauer, Sascha

Titel/Untertitel:

Hugo Greßmann und sein Programm der Religionsgeschichte.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2020. X, 278 S. m. 6 Abb. = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 523. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-066762-2.

Rezensent:

Georg Freuling

Obwohl Hugo Greßmann als wichtiger Vertreter der Religionsgeschichtlichen Schule gelten darf, gab es bisher nur kürzere Darstellungen seines Lebens und Wirkens (z. B. Smend). Die von R. Liwak betreute und von der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam als Dissertation angenommene Arbeit Sascha Gebauers bietet erstmals eine monographische Darstellung und verfolgt dabei einen »biographischen Ansatz« (2); die Arbeiten Greßmanns werden jedoch nicht durchgehend chronologisch, sondern nach inhaltlichen Gesichtspunkten einander zugeordnet.
Das erste Kapitel (»Die Anfänge: wissenschaftliche Qualifikationen«) geht vor allem auf die Qualifikationsarbeiten ein. Die philosophische Dissertation – entstanden anlässlich einer Preisaufgabe der Göttinger Philosophischen Fakultät und dort 1900 als Dissertation angenommen – widmet sich der damals erst sechs Jahre alten These Duhms zu Tritojesaja; die redaktionsgeschichtlichen Ergebnisse weisen dabei in die Richtung, die sich in der neueren Forschung durchgesetzt hat. Mit der theologischen Dissertation un­ternimmt Greßmann einen »Ausflug auf das Gebiet der Kirchengeschichte« (11). Seine Korrespondenz mit Harnack zeigt, wie er die Übersetzung der Theophanie Eusebs nach seinen eigenen Vorstellungen umsetzt. Die Vorarbeiten »Textkritische und exegetische Studien zu Eusebs Theophanie« werden 1902 von der theologischen Fakultät der Universität Kiel als Dissertation angenommen. Nur ein Jahr später legt Greßmann seine Habilitation »Musik und Musikinstrumente im Alten Testament« vor, die ganz im Sinne des Untertitels »Eine religionsgeschichtliche Studie« seine Zugehörigkeit zur Religionsgeschichtlichen Schule zeigt.
Das zweite Kapitel (»Arbeiten zur Religionsgeschichte«) verbindet mit dem »ersten Hauptwerk« zur Eschatologie und zu den Altorientalischen Texten und Bildern zum Alten Testament (AOTB) Arbeiten recht unterschiedlichen Charakters. »Der Ursprung der israelitisch-jüdischen Eschatologie« erscheint 1905. G. ordnet die Arbeit forschungsgeschichtlich ein: Nach Gunkel unternimmt Greßmann erstmalig eine umfassende religionsgeschichtliche Herleitung der eschatologischen »Ideen« und den Nachweis, dass die Prophetie Israels auf einen Bestand mythologischer Vorstellungen (z. B. Tag JHWHs) zurückgreifen konnte, die in der Volksfrömmigkeit bereits fest verankert und aus der Umwelt übernommen waren. In der Neubearbeitung von 1929, postum herausgegeben von Schmidt, rückt die Messiasgestalt in den Vordergrund; G. schildert die Schwierigkeiten, die einer früheren Veröffentlichung im Wege standen und sich auch in der Neubearbeitung niederschlagen. Bei den AOTB (1909) liegt die Leistung Greßmanns in Konzeption und Herausgeberschaft: Ziel des Werkes ist, altorientalische Quellen einem breiten Publikum zu erschließen, leitende Maßstäbe sind dabei »Vollständigkeit« und »Objektivität«. Im Vergleich mit früheren Sammlungen versteht G. »Vollständigkeit« auch als Widerspruch zum Panbabylonismus. Als gelungenes Beispiel der »Objektivität« dient der Umgang mit dem sogenannten »Sündenfallzylinder« (82 ff.). Auf die beteiligten Forscher geht er leider kaum ein.
Im dritten Kapitel – »Religionsgeschichte und Archäologie« – verbindet G. die Arbeiten Greßmanns zu den Mosesagen mit seinem Palästinaaufenthalt. G. erläutert zunächst Entstehung und Absicht des Werkes »Mose und seine Zeit« (1913): Greßmann folgt der gattungsgeschichtlichen Forschung Gunkels und versucht, Sagenkomplexe um die Gestalt Mose zu identifizieren und Rückschlüsse auf die mündliche Vorgeschichte des Stoffes zu ziehen. Diesen Ansatz versteht er ergänzend, nicht alternativ zur Litararkritik. Prägend wird für Greßmann ein halbjähriger Forschungsaufenthalt (1906/1907) am Deutschen Evangelischen Institut für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes in Jerusalem. Sein Interesse an Landeskunde und Alltag in Palästina zeigt den Einfluss Dalmans ebenso wie die Idee, an theologischen Fakultäten »Palästina-Museen« einzurichten, die er nach seiner Rückkehr vertritt.
»Greßmanns Verhältnis zum Judentum« widmet G. ein eigenes Kapitel. Weniger bekannt als sein Wirken am Institutum Judaicum Berolinense ist Greßmanns Position zur Bewertung der rabbinischen Literatur bei der religionsgeschichtlichen Einordnung des Neuen Testaments. In einer frühen Auseinandersetzung um den Quellenwert von Mischna und Talmud zwischen Perles und Bousset stellt er sich in einem Brief auf die Seite seines Freundes Bousset, in der späteren »Moore-Greßmann-Kittel-Debatte« wiederholt er seine Position literarisch (»Hellenistisches oder rabbinisches Judentum?«, 1923), modifiziert sie aber erkennbar bei der Neuausgabe von Boussets »Religion des Judentums im späthellenistischen Zeitalter« (1926). Vielleicht zeigt diese Entwicklung, dass er mit der Leitung des Institutum Judaicum Berolinsense verstärkt in den Kontakt mit jüdischen Forschern trat; schließlich hatte er das Institut neu auf den wissenschaftlichen Dialog hin ausgerichtet.
Im detailreichen fünften Kapitel verbindet G. unter »Wissenschaftspolitik und Wissenschaftsorganisation« noch einmal recht unterschiedliche Themen: Greßmanns publizistisches Engagement als Herausgeber der ZAW und als Mitarbeiter an den »Schriften des Alten Testaments« und der RGG, sein wissenschaftspolitisches Engagement in der »Gesellschaft zur Förderung der deutschen evangelischen Wissenschaft«, sein Stand an der Berliner Fakultät und seine Kontakte zu anderen Vertretern der Religionsgeschichtlichen Schule und zuletzt seine Auseinandersetzung mit der Dialektischen Theologie bzw. Brunner.
Eine Zusammenfassung (6. Kapitel), Bildanhang, Werkverzeichnis Greßmanns, Literaturverzeichnis und Personenregister runden den Band ab.
Kritische Rückfragen erlaubt zunächst der Aufbau der Arbeit: Auch wenn G. ankündigt, von der chronologischen Abfolge abzuweichen, sind die angekündigten »übergreifenden methodischen Linien« (2) nicht immer plausibel. Vor allem im 2. und 3. Kapitel scheint die Zuordnung der Arbeiten zur Eschatologie zu den AOTB bzw. der Mosesagen zum Palästinaaufenthalt wenig schlüssig.
Fraglich scheint auch, ob Greßmanns »Programm der Religionsgeschichte« gemäß Titel angemessen erschlossen wurde: Welche Einflüsse Greßmann seinen Lehrern der Religionsgeschicht-lichen Schule (Bousset, Baumgarten, Eichhorn) verdankt, wird in der kurzen Darstellung der Studienzeit (drei Seiten), aber auch darüber hinaus nicht deutlich, die Impulse aus anderen Disziplinen (Wundt, Frazer) werden nur vage angedeutet. Seine religionsgeschichtlichen Vergleiche beschreibt G. wiederholt als äußerst hypothetisch, ohne der Frage nachzugehen, aus welchem Fundus und nach welchen Kriterien er seine Analogien sucht. Es überrascht kaum, wenn es auf dieser Grundlage am Ende (241) heißt, Greßmann habe ein »einheitliches religionsgeschichtliches Programm« gar nicht im Blick gehabt. Diese Einschätzung wäre ebenso kritisch zu überprüfen wie die, dass Greßmanns Ansatz erst in der sozialgeschichtlichen Exegese wieder aufgenommen wurde (244).
Zuletzt bleibt Greßmann in G.s Darstellung vor allem »Paradebeispiel eines intensiv vernetzten Forschers« (244), was bestenfalls etwas über seine Arbeitsweise und wenig über sein Werk aussagt. So liegt der Wert der Arbeit in erster Linie in der dargebotenen Fülle biographischer und forschungsgeschichtlicher Details.