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Ausgabe:

Dezember/2020

Spalte:

1184–1186

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Gräf, Stefanie

Titel/Untertitel:

DerAnonymus de rebus bellicis. Eine morphologische Untersuchung.

Verlag:

Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2018. XVI, 740 S. m. Abb. = Studien zur Geschichtsforschung des Altertums, 38. Kart. EUR 149,80. ISBN 978-3-339-10170-9.

Rezensent:

Raphael Brendel

Die De rebus bellicis (DRB) genannte Schrift ist eine Sammlung von Reformvorschlägen zu Aspekten der Reichsverwaltung (Münzwesen, Verwaltung, Heer, Recht), deren Autor und Datierung unbekannt sind. Sicher lässt sich nur sagen, dass sie nach dem darin erwähnten Konstantin verfasst wurde und in der Spätantike zu verorten ist; meist wird sie im 4. Jh. und da wiederum meist in der Zeit von Valentinian I. und Valens (364–375) verortet. Als Quelle für das spätantike Kaiserreich ist das Werk daher relevant und kompliziert.
In ihrer Hamburger Dissertation (2015/16) bemüht sich Stefanie Gräf um eine grundlegende Neubewertung der Entstehung des Werkes. Nach der Einleitung (1–25) wird die Schrift in acht Kapiteln aus verschiedenen Blickwinkeln untersucht: Überlieferungssituation (27–71), textstrukturierende Elemente (73–112), Abbildungen des DRB (113–240), sprachliche Besonderheiten (241–326), Inhalt (327–452), Diskurs zwischen Autor und Adressat (453–479), Textgattung (481–616), Urheber (617–639). Es folgen eine Zusammenfassung der Ergebnisse (641–659), die abgedruckten Abbildungen des DRB (661–668), Verzeichnisse der Abbildungen (689–690), der Literatur (691–725), der verwendeten Editionen (726–733) und Übersetzungen (734–740).
Die wesentlichen Ergebnisse lauten: DRB ist keine Schrift eines einzelnen Autors, sondern ein wohl zuerst unter Konstantin zu­sammengestelltes Corpus aus Quellenexzerpten (von Xenophon bis in die Spätantike) aus den kaiserlichen Archiven, das mehrfach ergänzt und überarbeitet wurde. Das Ziel war die Schaffung einer Arbeitsvorlage für die spätantike Verwaltung, um die Bearbeitung privater libelli zu optimieren. Das Werk enthält rhetorisierende Vorschläge und tatsächlich umgesetzte Maßnahmen.
Ob diese Thesen Bestand haben können, wird sich zeigen, allerdings muss festgestellt werden, dass zahlreiche argumentative wie handwerkliche Schwächen es unmöglich machen, der Argumentation zuzustimmen.
Zwei grundlegende Probleme: G. geht davon aus, DRB sei eine gedankenlose Kompilation, die alle Details der Vorlagen unverändert übernimmt (637: »reiner Textzusammensteller«). Sollte man aber ein solches Vorgehen erwarten, wenn selbst Jordanes, dessen Romana inhaltlich gegenüber seinen Quellen nichts Neues bringt, sowie die Kaisergesetze dennoch literarische und rhetorische Ansprüche haben? Zudem bleibt eine eingehende Untersuchung der Sprache außerhalb einiger prägnanter Aspekte (Neologismen) aus, um die Zahl beteiligter Autoren zu bestimmen; die Untersuchung der Historia Augusta hätte hier Vorbildcharakter.
G. sieht die Wendung de rebus bellicis in einem Panegyricus als Indiz für die Abfassungszeit des DRB an (656), bezweifelt aber die dafür erforderliche Echtheit des gleichlautenden Titels (57.64.108). Die Vermutung einer Überarbeitung des DRB unter Theodosius II. auf Basis einer handschriftlichen Zuschreibung (657) hat keine Grundlage. Wenn die Vorschläge im DRB vor deren Umsetzung anzusetzen sind (651), wäre mit den Voraussetzungen von G. noch zu erklären, warum überholte Passagen trotz späterer Überarbeitung beibehalten wurden. Anderenfalls wäre so nur die Abfassungszeit der Vorlagen des DRB sicher zu ermitteln.
Die Verwendung von Anreden in Einzahl und in Mehrzahl gilt G. als Hinweis für eine spätere Ergänzung (459.461.477), ohne dass sie einen speziell dazu handelnden Aufsatz von Chauvot (1999) oder ähnliche Phänomene, etwa in einigen Reden des Themistios (5.6.9) berücksichtigt. Dass ein vom Durchschnitt abweichender Umfang »ein potentielles Indiz für eine nachträgliche Einfügung dieser Kapitel« sei (331), wird nicht bewiesen. Ein weiteres Argument für spätere Ergänzungen soll die Praefatio sein, da sie nicht alle behandelten Themen erwähne (361), die aber selbst als nachträgliche Ergänzung zum Text angesehen wird (364). Der Vergleich mit anderen Vorworten (365–377) ist verfehlt, da die Paralleltexte aus der Kaiserzeit stammen, spätantike Literatur hier hingegen ignoriert wird.
Einige Kapitelüberschriften werden als spätere Ergänzungen angesehen (110 f.), aber dennoch zählen derartige Elemente bedenkenlos als wichtige Belege für die »vom Verfasser intendierte Verwendungsweise« (108) und sogar als wesentliches Argument für die Kompositionsweise des DRB (78–93.450–451.643–644). Mit Blick auf Fälle, in denen solche Texte nicht Teil des ursprünglichen Werkes sind (etwa in der Kirchengeschichte des Sokrates), wäre auch für den DRB erst deren Zugehörigkeit zum ursprünglichen Text zu beweisen. Zu der auf der abweichenden Form der Kapitelüberschrift basierenden Einordnung des zweiten Kapitels des DRB als Interpolation, die aufgrund der Kritik an Konstantin unter Julian zu datieren sei (87–88.387–388.392.657), genügt der Hinweis, dass auch öfter ein kritisches Konstantinbild existiert; das gilt auch für die (nicht nur für Julian belegte) Förderung des Senatorenstandes (385). Das Argument, die positive Beurteilung der Königszeit spreche für eine Abfassung unter Julian (85), ist mit einem übergangenen Aufsatz von Brandt (Museum Helveticum 45 [1988], 98–110) zu widerlegen.
Die Argumentation, die auf S. 77 Ireland zugeschrieben wird, ist das Gegenteil von dem, was er laut S. 78 vertritt. S. 66 widerspricht sich G. sogar selbst (nicht zum letzten Mal: S. 110 und S. 111 zur Datierung der Überschriften und die oben genannten Fälle), wenn sie im ersten Satz feststellt, dass das Ur-Corpus des Codex Spirensis »bereits in der Spätantike bestanden hat«, um im nächsten Satz doch die Möglichkeit späterer Zusammenfügung zu erwägen (ähnlich unentschlossen auch S. 140 zur Herkunft der Abbildungen).
Handwerkliche Schwächen: Der große Umfang entsteht teils durch Partien, die wenig zum Thema beitragen oder Bekanntes nacherzählen (33–36.47–55.118–132.182–197), auch finden sich mehrfach Wiederholungen und manchmal werden frühneuzeitliche und somit als Vergleichsbasis nahezu wertlose Texte herangezogen (85 mit Anm. 19–20; 87–88, Anm. 23; 228, Anm. 321; 233 f.536–539.595–596.619–620). Der Forschungsüberblick bleibt dagegen oberflächlich (S. 19 nur allgemein zu Brandts »Spätdatierung«, na­hezu keine Publikation nach Brandt genannt). Die Listen der verwendeten Editionen und Übersetzungen sind dreifach unerfreulich, da starke Überschneidungen bestehen, unter den Editionen auch Übersetzungen ohne Originaltext stehen und für viele Werke nur veraltete Ausgaben (teilweise von vor 1850) genannt sind. Register jeglicher Art fehlen. Lücken bei der Forschungsliteratur und eine mittlere Anzahl an Druckversehen sind nicht im Einzelnen anzuführen; als besonders störend sei das Fehlen einer halben Zeile Text (2) vermerkt.
Die genannten Mängel wesentlicher Elemente der Argumentation sowie die Tatsache, dass sich diese Liste erheblich ergänzen ließe, spricht eine deutliche Sprache. Gesamturteil: unbrauchbar.
Eine weitere Rezension stammt von Armin Eich (Göttinger Forum für Altertumswissenschaft 22 [2019], 1051–1055); Sven Günther und Dario Sánchez Vendramini teilten mir mit, dass sie ebenfalls Rezensionen vorbereiten.