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Ausgabe:

Dezember/2020

Spalte:

1175–1177

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Al-Rasheed, Madawi [Ed.]

Titel/Untertitel:

Salman’s Legacy. The Dilemmas of a New Era in Saudi Arabia.

Verlag:

London: Hurst Publishers 2020 (geb. Ausg. 2018). XIII, 367 S. Kart. £ 20,00. ISBN 978-1-78738331-9.

Rezensent:

Christine Schirrmacher

Madawi Al-Rasheed, profilierte, 2005 ausgebürgerte Exil-Autorin zu Geschichte und Gesellschaft Saudi-Arabiens, war bis 2013 Professorin am Londoner King’s College und lehrt seit 2017 an der London School of Economics and Political Science. Thema ihres Sammelbands ist der Aufbruch Saudi-Arabiens ins 3. Jt. angesichts enormer Herausforderungen: Sie werden unter dem heutigen Kronprinzen Muhammad bin Salman (MbS) nichts weniger als einen Umbau von Staat und Gesellschaft erfordern und das nicht nur, weil der große Anteil junger Menschen adäquate berufliche Perspektiven einfordert. Da sind auch die gebildeten Frauen, die neuerdings vermehrt auf den Arbeitsmarkt drängen, die Protagonisten des Terrors, die im Namen des »wahren Islam« das Königtum bekämpfen, eine aufstrebende Mittelschicht, die nicht mehr ausreichend Arbeitsplätze in Staatsdiensten findet, entrechtete Mittellose, die verarmt am Rand der Gesellschaft leben, unterdrückte Minderheiten (wie etwa die Schiiten) – und da ist noch der desaströse Krieg im Jemen und das aggressive Wirken des Iran.
Der Sammelband besteht aus drei Teilen: Teil 1 widmet sich dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft, Teil 2 dem Thema Salafismus und Teil 3 den internationalen Beziehungen.
Weit gehen die Forschungsmeinungen in der Frage auseinander, ob das saudische Regime mit Hilfe von Kontrolle und Repression stabil bleiben oder aber erodieren und in naher Zukunft untergehen wird. F. Gregory Gause III hält in seinem Beitrag »Saudi Regime Stability and Challenges« das Fortbestehen des Regimes für wahrscheinlicher als den Kollaps, obwohl die Herrscherfamilie der al-Saud weder einen religiösen noch einen genealogischen Führungsanspruch geltend machen kann: Stabilisierend wirken aus G.s Sicht A) Das auf Basis der immensen Erdölvorkommen errichtete Patronage- und Klientel-System. Es erlaubt eine effektive Regulierung der Wirtschaft, kann aber gleichzeitig einflussreiche Schlüsselpersonen mit Vergünstigungen im Austausch gegen Loyalität eng an sich binden. B) Die historisch gewachsenen, engen Beziehungen zum religiösen Establishment. Gelehrtengremien verfügen insbesondere in den Bereichen Erziehung und Rechtsprechung über Teilhabe an der Macht; zudem verwalten sie die Pilgerfahrt. Gleichzeitig aber büßten die Gelehrten als Teil des Staatsapparates ihre Unabhängigkeit ein, wodurch ihre überzeugende Positionierung als Kritiker des Königshauses unmöglich wurde. C) Der Zusammenhalt der Königsfamilie ungeachtet des Konfliktpoten- tials unter den Tausenden theoretisch herrschaftsberechtigten Prinzen. Für G. allerdings liegt die eigentliche Herausforderung in einer langfristig erfolgreichen Konsolidierung der Staatsfinanzen, zumal sich angesichts des dramatischen Ölpreisverfalls, zur Neige gehender Vorkommen und einer rasch wachsenden Bevölkerung das System der kostenlosen Staatsleistungen kaum noch aufrechterhalten lässt. Ob eine vermehrte Besteuerung – wie etwa die jüngste Erhöhung der erst 2018 eingeführten Mehrwertsteuer von 5 auf 15 % – den bisherigen Vertrag »Staatliche Wohltaten gegen Verzicht auf politische Mitbestimmung« erschüttern wird, muss die Zu­kunft zeigen.
Der Beitrag »Mystique of Monarchy – The Magic of Royal Succession in Saudi Arabia« aus der Feder der Herausgeberin widmet sich der Unvorhersagbarkeit der Thronfolge. Der geheim gehaltene Prozess der Auswahl des nächsten Regenten durch den engsten Machtzirkel sichert aus Al-R.s Sicht die Herrschaft besser ab, als es Transparenz und Berechenbarkeit könnten. Tatsächlich hält dieser engste Machtzirkel seit dem Ableben des Staatsgründers ‘Abd al-‘Aziz ibn Saud 1953 die Regierungsgewalt fest in Händen: Ibn Sauds sieben Söhne (unter ihnen der jetzige König Salman als Zweitjüngster) von seiner Lieblingsfrau Hasa bint Sudairi, die sogenannten »Sudairi-Sieben«, konnten in den vergangenen 70 Jahren die einflussreichsten Ämter im Königreich unter sich aufteilen, und das, obwohl der Staatsgründer weitere 47 Söhne gehabt hatte. Bei der Frage, ob anhaltende Stabilität oder Kollaps zu erwarten seien, liegt für Al-R. die Antwort in der Mitte: Zwar bieten Repression und Kontrolle einen gewissen Schutz vor Aufruhr, das Königtum agiert jedoch auch durch die Bildung einflussreicher Netzwerke, Kooptation, die Vergabe von Vergünstigungen sowie das Aushandeln von Konsens. Dieses Einhegen möglicher Oppositionsherde inner- und außerhalb der Familie gewann gerade in Zeiten des Internets Bedeutung, da Texte, Bilder und Kunst nun eine viel größere Reichweite entfalten und damit auch politische Sprengkraft.
Teil 2 des Sammelbandes setzt sich mit der Geschichte und Wirkungsmacht des Wahhabismus auseinander sowie mit seiner ideologischen Nähe zu extremistischen Bewegungen wie etwa dem IS. Der Beitrag von Cole Bunzel »Wahhabism, Saudi Arabia, and the Islamic State« erläutert am Beispiel eines streng wahhabitisch ausgerichteten Gelehrten, Shaikh ‘Abdullah ibn Jibrin (gest. 2009), und des Jihadisten Turki al-Bin ‘Ali (geb. 1984) die enge Verwobenheit von Wahhabismus und Jihadismus: B. zeichnet zunächst das Aufkommen des Wahhabismus Mitte des 18. Jh.s im Bündnis von Religion und Politik, dessen Religionsgelehrten die Aufgabe zukam, die Eroberung des Landes durch die al-Saud als gerechten »Jihad« zu legitimieren. Da das daraus entstehende saudische Königshaus zu keiner Zeit den wahhabitisch-theologischen Maximen entsprach, konnte die Degradierung der Gelehrten zu Juniorpartnern im wahhabitisch-saudischen Staatsbündnis nicht ausbleiben. Das schuf die Gefahr von Gegenbewegungen an den Rändern des Wahhabismus, die die Legitimität des Königshauses negierten und offen den Jihad propagierten. Prominente Gegenbewegungen formierten sich etwa in den 1990er Jahren mit der Sahwa (»Erweckung«) und später mit einer aktiven al-Qaida-Zelle. Nicht zufällig fiel auch die Ideologie des IS, der sich als Erbe der wahhabitischen Mission präsentierte, bei manchen auf fruchtbaren Boden.
In Teil 3 zu den auswärtigen Beziehungen Saudi-Arabiens in Geschichte und Gegenwart beleuchtet Toby Matthiesens Beitrag »Saudi Arabia and the Cold War« den Kampf Saudi-Arabiens gegen den Einfluss der UdSSR, den diese ab den 1950er Jahren durch Wirtschafts- und Militärbündnisse etwa in Jemen, Syrien oder Ägypten geltend machte. Schon damals hatten die USA geholfen, linksgerichtete Untergrundbewegungen und säkulare Oppositionelle im Königreich zum Schweigen zu bringen; auch hatte Saudi-Arabien etwa in Mittelamerika anti-kommunistische Kräfte unterstützt. In den 1970er Jahren wurde das Königreich dann gemeinsam mit Iran, Ägypten, Marokko und Frankreich prominentes Mitglied des Safari Clubs, einer Geheimdienstkooperation zur Bekämpfung des kommunistischen Einflusses in Afrika. Und schließlich folgte ab 1979 die saudische, pakistanische und amerikanische Unterstützung der afghanischen Mujahidin-Kämpfer mit mehreren Billionen US$.
Das »Mysterium« Saudi-Arabien, das bisher keinen Tourismus zuließ, kaum Forschungsaufenthalte für Wissenschaftler ermöglichte und westliche Fachkräfte von der saudischen Gesellschaft streng absonderte, gilt vielen als Terra incognita. Al-R.s Sammelband vermittelt Fachleuten ebenso wie an Geschichte und Gesellschaft des Landes Interessierten viele neue und wertvolle Einblicke zum Verständnis des Königreiches.