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Ausgabe:

November/2020

Spalte:

1131–1133

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Wißmann, Hinnerk

Titel/Untertitel:

Religionsunterricht für alle? Zum Beitrag des Religionsverfassungsrechts für die pluralistische Gesellschaft.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. XV, 141 S. Kart. EUR 19,00. ISBN 978-3-16-156654-7.

Rezensent:

Norbert Janz

»Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religions-gemeinschaften erteilt. Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen.« Mit diesen, seit 1949 unveränderten Worten fixiert das Grundgesetz in seinem Art. 7 Abs. 3 die verfassungsrechtliche Stellung des Religionsunterrichts in Deutschland. Es ist damit das einzige Schulfach, das von der Bundesverfassung abgesichert ist.
Die Norm evoziert seit Langem eine Vielzahl an rechtlichen Problemen. Erinnert sei nur an die Zulässigkeit eines islamischen Religions-, eines Ethik- oder eines Religionsersatzunterrichts. Ferner ist der Gegenstand des Religionsunterrichts umstritten. Ausgangspunkt der Debatte ist es, dass im Grundsatz eine bestimmte Reli-gion, ein einziges Bekenntnis, den Gegenstand des Religionsunterrichts bildet. In diesem Zusammenhang wird dann diskutiert, ob und inwieweit ein ökumenischer Ansatz verfassungsgemäß sein könnte. Nach überwiegender Meinung in der Rechtswissenschaft ist eine bloße Religionskunde in der Form einer Morallehre, eines multireligiösen Sinnunterrichts, einer Religions- oder Bibelgeschichte nicht vom Verfassungswortlaut mehr gedeckt. Religionsunterricht kann danach nicht neutral sein, er verlangt nach einer Identifikation und lehrt, was geglaubt werden solle.
Angesichts voranschreitender gesellschaftlicher Säkularisierung einerseits und zunehmender religiöser Pluralität andererseits stellt sich neben der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit die Frage, ob ein »Religionsunterricht für alle« (RUfa) aus religionspädagogischer und gesellschaftspolitischer Sicht angezeigt wäre. Hintergrund dafür ist, dass die Schülerschaft oftmals in hinreichend großen und stabilen Kohorten unterschiedlicher Konfession und Religion unterteilt werden kann. Der Religionsunterricht in Hamburg zeigt seit den 1960er Jahren einen entsprechenden Ansatz. In einem Kombinationsmodell wirken Staat, evangelische Landeskirche und andere Religionsgemeinschaften zusammen, um das Fach Religion gemeinsam im Klassenverband zu unterrichten, und zwar nicht als allgemeine Religionskunde, sondern als konfessionell verantworteter Religionsunterricht.
Mit Hinnerk Wißmann wendet sich ein renommierter Religionsverfassungsrechtler der Thematik eines gemeinsamen Religionsunterrichts zu. Dabei fußt die anzuzeigende Arbeit auf einem 2017 verfassten Gutachten, welches der Münsteraner Lehrstuhlinhaber zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben für eine Weiterentwicklung des Hamburger Modells entwickelt hat. Auftraggeber war die Evangelische Nordkirche.
Treffend betont W. bereits zu Beginn seiner 83-seitigen Überlegungen, dass ein solches Unterfangen »in seiner Grundspannung ambivalente Reaktionen hervorrufen« werde und sich die katholische Kirche von vornherein nicht beteiligt habe. In der Staatsrechtslehre dominierten »weitgehend Ablehnung oder bestenfalls schmerzvolle Duldung«. Demgegenüber funktioniere »RUfa« in der Praxis gut. Hier wie in den anderen Abschnitten ermöglicht erfreulicherweise ein umfangreicher Fußnotenapparat ein weiterführendes Studium.
In einem ersten Teil wird die aktuelle Lage des Religionsverfassungsrechts in Deutschland skizziert. W. zufolge muss der religiöse Pluralismus als Herausforderung begriffen werden. Ein Feld der Bewährung sei insbesondere Religion in der Schule. Der Religionsunterricht sei das Menetekel der heutigen religionsrechtlichen Lage. Das Vordringen des Islam habe auch hier zu neuen Grenz-fragen geführt, die das althergebrachte bundesdeutsche Grund-modell und die inhärente Ungleichbehandlung (»die und wir«) in Frage stellen.
Ausgehend von diesem konstituierten religionspolitischen Status quo wendet sich W. nun der Weiterentwicklung des Religionsunterrichts in Hamburg zu. Nach einer konzisen Beschreibung der Ausgangslage mit den neuartigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen analysiert er die Kriterien für den Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG nach überkommenem Maßstab. Es mache den besonderen materiellen Kern des Religionsunterrichts aus, dass er »in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften« erteilt werde. Die organisatorische Umsetzung erfolge standardmäßig durch einen konfessionell getrennten Religionsunterricht. Dies müsse nicht zwingend sein. Bei überwiegend gleichem Bekenntnisstand sei auch eine Kooperation der Religionsgemeinschaften denkbar. Bei RUfa 1.0 habe die evangelische Kirche die Verantwortung übernommen.
Hiernach kommt W. zum Kern seiner Überlegungen: »RUfa 2.0 als bewusste Weiterentwicklung des Religionsverfassungsrechts«. Ein gemeinsamer Religionsunterricht sei mit Blick auf die Religionsfreundlichkeit der Schule als eine legitime Deutung des Verfassungsauftrages anzusehen. Die beteiligten Religionsgemeinschaften müssten ihren eigenen Wahrheitsanspruch vertreten und gleichzeitig für möglich halten, dass es auch andere Glaubenswahrheiten geben kann. Ein solcher multireligiös-trägerpluraler Religionsunterricht jenseits einer allgemeinen Religionskunde be­dürfe aber erheblicher Vorabklärungen seitens der beteiligten Religionsgemeinschaften.
So bestechend die Argumentation auch sein mag, es bleibt das Problem des unveränderten Verfassungstextes. Eine saubere Lö­sung wäre es, Art. 7 Abs. 3 GG zu novellieren und die Norm der religiösen Pluralität anzupassen. Entsprechende verfassungsändernde Mehrheiten sind derzeit aber nicht auszumachen.
Fazit: Es handelt sich um eine lesenswerte und gut zu lesende Schrift, die für den Religionsunterricht in der Schule eine neue Perspektive aufzeigt. Jedoch darf aktualiter ein bundesstaatlicher Ex­port des Hamburger Modells bezweifelt werden.